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95. An die Mutter.

Sils-Maria, Mitte Juli 1881.

Meine liebe Mutter,

ich betrübe mich sehr »ich betrübe mich sehr« usw., Beileidsbrief beim Tode von Pastor Theobald Oehler, dem Bruder von Nietzsches Mutter. über Deinen und unsern Verlust! Es war ein so sanftmütiger und braver Mensch, unser Theobald, streng gegen sich und doch kein Fanatiker. Wir werden immer seiner mit Rührung gedenken.

Nun noch ein Wort von mir, zur Beruhigung. Ich mache mir Vorwürfe über meine Torheit, Euch meine kurzen Gesundheitskärtchen und nichts weiter zu schicken; – so müßt Ihr einen falschen Eindruck von mir gewinnen. Nie gab es einen Menschen, auf den das Wort »niedergedrückt« weniger gepaßt hätte. Meine Freunde, die mehr von meiner Lebensaufgabe und deren unaufhaltsamer Förderung erraten, meinen, ich sei wenn nicht der glücklichste, so jedenfalls der mutigste der Menschen. Ich habe Schwereres auf mir als meine Gesundheit und werde damit fertig, auch dies zu tragen. Mein Aussehen ist übrigens vortrefflich, meine Muskulatur infolge meines beständigen Marschierens fast die eines Soldaten, Magen und Unterleib in Ordnung. Mein Nervensystem ist, in Anbetracht der ungeheuren Tätigkeit, die es zu leisten hat, prachtvoll und der Gegenstand meiner Verwunderung, sehr fein und sehr stark: selbst die langen schweren Leiden, ein unzweckmäßiger Beruf und die fehlerhafteste Behandlung haben ihm nicht wesentlich geschadet, ja im letzten Jahre ist es stärker geworden, und, dank ihm, habe ich eines der mutigsten und erhabensten und besonnensten Bücher »eines der mutigsten und erhabensten und besonnensten Bücher«, die »Morgenröte«. hervorgebracht, welche jemals aus menschlichem Gehirne und Herzen geboren sind. Selbst wenn ich mir in Recoaro das Leben genommen hätte, so wäre einer der ungebeugtesten und überlegtesten Menschen gestorben, nicht ein Verzweifelnder. Mein Gehirnleiden ist sehr schwer zu beurteilen, in betreff des wissenschaftlichen Materials, welches hierzu nötig ist, bin ich jedem Arzte überlegen. Ja, es beleidigt meinen wissenschaftlichen Stolz, wenn Ihr mir Eurerseits neue Kuren vorschlagt und gar meint, ich »ließe meine Krankheit laufen«. Vertraut mir doch ein wenig mehr auch hierin! Bis jetzt bin ich erst zwei Jahre in meiner Behandlung, und wenn ich Fehler gemacht habe, so lag es immer daran, daß ich dem eifrigen Zureden anderer endlich nachgegeben habe und Versuche machte. Dahin gehört der Aufenthalt in Naumburg, in Marienbad usw. Jeder verständige Arzt hat mir übrigens eine Genesung erst nach einer längeren Reihe von Jahren in Aussicht gestellt, und vor allem muß ich die schweren Nachwirkungen loszuwerden suchen, von allen jenen falschen Methoden her, nach denen ich so lange Zeit behandelt worden bin. Seid mir ja nicht böse, wenn ich Eure Liebe und Teilnahme in diesem Punkte zurückzuweisen scheine. Aber ich will durchaus mein eigner Arzt nunmehr sein, und die Menschen sollen mir noch nachsagen, daß ich ein guter Arzt gewesen sei – und nicht nur für mich allein. – Immerhin gehe ich noch vielen, vielen Leidenszeiten entgegen; werdet nicht darüber ungeduldig, ich bitte Euch von Herzen! Dies macht mich ungeduldiger als meine Leiden selber, weil es mir zeigt, daß meine nächsten Verwandten so wenig Glauben an mich haben.

Wer im geheimen zusehen könnte, wie ich die Rücksichten auf meine Genesung mit der Förderung meiner großen Aufgaben zu verknüpfen weiß, der würde mir keine geringe Ehre zollen. Ich lebe nicht nur sehr mutig, sondern im höchsten Maße vernünftig und unterstützt von einem reichen medizinischen Wissen und unablässigen Beobachten und Forschen.

Von ganzem Herzen und mit der Bitte, mir nichts übelzudeuten

Euer Sohn und Bruder.

Schreibt mir gute Dinge hier hinauf, wo ich über der Zukunft der Menschheit brüte, und lassen wir alles das kleine persönliche Leiden und Sorgen beiseite.


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