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Zwischen ihnen war der Kulturkampf jener Tage, in denen es in Österreich um liberale oder klerikale Herrschaft ging, einschneidend tief. Die Tragik des Lehrers, des ländlichen Schullehrerlebens geht durch die ganze Geschichte. Sie bestand vor allem in den deutschen Provinzen. Da hatte sich der Lehrerstand, zäh an seiner eigenen Bildung und Befreiung arbeitend, langsam frei gemacht von der unwürdigen Stellung, die er eingenommen. Er trat ein für Aufklärung und Intelligenz. Das Ringen um die Schule nahm ernste Formen an. Abhängig von Pfarrhof und Herrschaft, war der Lehrer der Dienerschaft gleichgestellt worden, hatte Lakaiendienste getan bei Gelegenheiten. Das war aber nun ganz vorbei. Aus Lehrerkreisen erwuchs das erste Bekenntnis zum echten Deutschtum, das ins Reich hinüberblickte, zu glücklicheren Brüdern. Nach 66 war der Preußenhaß in bestimmten Kreisen so groß, daß keine Bismarck- und Hohenzollernbilder hängen bleiben durften. Im Adel vor allem, der die eigene Schuld abwälzen wollte auf die Gegner. Im Geheimen unter hartem Ringen nur konnte gesunde, deutsche Gesinnung gedeihen, sich neben dem Habsburgkultus einer Familie, die Österreich darstellte, emporwagen. Josefs des Zweiten Gestalt, zu deren Größe auch mein Vater sich furchtlos bekannte, in liberaler Gesinnung, die ihm Standesgenossen verübelten, ist der erste Aufblick meiner Kindheit und frühen Jugend gewesen, sein Kultus nahm damals in den großen inneren politischen Kämpfen mächtige Formen an. Seine Standbilder, zu denen begeistert aufgeblickt wurde, erhoben sich in den kleinen Städten. Welch ein Stolz, als ich die Verse schreiben durfte, die bei einem Denkmalsfeste in Wels gesprochen wurden. Heimlich gedichtet hab ich vom siebenten Jahre an. Es floß wie eine wilde Bergquelle drängend aus der Seele. Geschichtliches Nacherleben und Fühlen. Geschichte war des einsamen Kindes Welt, dem die Gegenwart nichts gab als Kränklichkeit, Mißverstehen, farblose Enge. Die Geschichte deutschen Wesens ward die erste große Liebe meines Lebens. Die Lehrer bildeten Vereine und fürchteten die Bedrückungen ihrer Existenz nicht mehr. In ihnen erschien zum ersten Male ein Rückgrat in unserem Volke, das bei vielen klugen Bauern Aufmerksamkeit, Respekt erweckte. Ich entsinne mich der Kämpfe um eine gesunde, zeitgemäße Schulbibliothek, um die Einstellung von Roseggers Werken darin. Es wurde gegen Rosegger gepredigt, der damals als strahlender Stern aufging am Himmel Österreichs nach Anastasius Grün und Anzengruber. Die liberale Ära, der klerikale Kampf dagegen, machte sich heftig fühlbar; in unserem Hause wurde er lebendig. Das ging aus von persönlichen Dingen. Die feindliche alte Frau, die die Winter in Linz verlebte und da noch immer eine Art Hof hielt, als gefallene Maria Theresia, sprach in bischöflichen Kreisen gegen den Sohn, seine Ehe, seine Gesinnung. Rudigier, der streitbare Bischof, ein Mann von harter Größe und schonungslosem Wollen in seiner Sache, führte über seinen bodensessigen Adel Buch; die großen Grundbesitzer waren ihm als Priester und Mensch von Wichtigkeit. Wohl zeigte sich nun mein Vater mit seiner Familie durchaus als ausübender Katholik, aber er diente Gott, nicht den Priestern. Wir wurden religiös erzogen, katholisch dem Buchstaben nach – und doch! Sehr früh hörte ich Worte über die Kirche fallen; trat die Reformation mit ihrer geschichtlichen Bedeutung, nicht als ein Kampf, der in Besitzgier ausartete, sondern als ein Kampf gegen Mißbräuche, in mein Leben. Offenbarte sich mir das Grauen der Inquisition, der Hexenprozesse. Das alles stieß mich ab. Der Unterricht der Pfarrer war buchstabenmäßig; ein denkendes Kind mit heißem Willen zum Aufblick fand in ihm nichts. Die politischen Hirtenbriefe, in der Kirche verlesen, mit versteckten Ausfällen auf Persönlichkeiten, bei denen die Gemeinde vom Kirchenschlummer erwachend emporblinzelte, erweckten Revolte. Es gab eine Zeit, die brachte in junge trotzige Gemüter die Sehnsucht, protestantisch zu werden.
Der Bischof kam auf Firmungs- und Inspektionsreisen; und wäre der Kaiser erschienen, die Aufregungen des Empfanges konnten nicht größer sein. Seltsame Psyche eines Volkes, in dem sich die meisten nicht genug tun konnten in Rosenkranzbeten und Knierutschen, in der Geste der Frömmigkeit. Dabei schrieben die Guten, die eben ihrem Pfarrer gebeichtet, vor des Bischofs Eintreffen an ihn anonyme Briefe über alles, was ihnen an diesem Pfarrer nicht recht war. Besonders die Weiber. Und lagen dann demütiglich im Staub. Von der Erscheinung des Bischofs Rudigier, des Dom-Erbauers, ging vieles aus, was imponieren mußte. Wirklicher Glaube, geistige Kraft, eisernes Wollen. Politische Unruhe, herrischer Sinn. – Güte nicht. Mein Vater trat ihm gemessen entgegen, der Händedruck war kühl. Ein scharfer Blick streifte die Mutter, die vielbesprochene Gräfin. Er besah sich den Erben, sagte: »Es ist ein schwaches Kind. Beten Sie, daß es Ihnen erhalten bleibe und seine Eltern ehre. Auch Sie sind leidend, Herr Graf. Beten Sie! Sie haben eine heilige Dulderin zur Mutter.« Das Wort fiel laut. Alle hörten es. Es war wie ein Schlag. Meines Vaters Gesicht erstarrte; er bekam Soldatenaugen, die den hohen Herrn anblitzten. Aber er stand in Hofmannshaltung da, schweigend. Der Bischof gab plötzlich hastig seinen Segen. Er wohnte im Pfarrhaus, nicht im Schloß. Beim großen Gottesdienst ging sein Blick mehr als einmal, auf den Patronatsstuhl, rechts vom Altar, in dem meine Eltern saßen. Die Predigt war strenge. Der Pfarrer, der es sich mit niemandem verderben wollte, dampfte vor verzweifelter Aufregung. Unsere Köchin kochte das Diner im Pfarrhaus, dem mein Vater anwohnte, heiter und witzig, unter der Fülle schwarzer Herren, die in Angst erstarben. Der streitbare Bischof ist inmitten seines Kampfes um die Vorherrschaft im Lande gestorben, als Mensch und Priester etwas Besonderes. Nur den Geist der versöhnenden Liebe eines Christus hat er nie gekannt.
Mein Vater aber trat von da ab offener in die Schranken für Fortschritt und normales Denken, für Trennung weltlicher und kirchlicher Dinge. Für den Schutz des Volkskerns, des Bauerntums. Er schrieb Artikel, die Widerklang fanden; und ich durfte ihn früh, sehr früh in Versammlungen begleiten, wo ich das Volk meiner Heimat, das politische Leben bald verstehen lernte. Ich mußte denken, immerzu denken. Tag und Nacht. Ich dachte mir den Vater als einen Menschen, der, wie Anastasius Grün, der Dichter Graf Auersperg, ein Führer werden könnte seinem Volke. Es blieb ein Kindheitstraum; er war nicht gesund genug.
In der Schloßeinsamkeit erwuchsen wir Kinder bewacht; unser Tag war streng eingeteilt. Fuhr einmal das Elternpaar nach Linz zu irgend einem großen Balle, oder aus sonstigem Anlaß, dann gab es meistens böses Blut. Die Equipage der jungen Frau – so einfach und unerläßlich sie auf dem Lande war, das Kleid, das ihr gut stand, alles an ihrem Auftreten wurde zum Ärgernis in einem böswillig verhetzten Kreise, der sie doch einst als bürgerliche Gutsbesitzerstochter gern gesehen. »Die alte Gräfin geht zu Fuß, die junge fährt. Sie ist herzlos. Die alte Frau hat unbezahlte Rechnungen.« Das war richtig, obwohl die Witwenapanage die Mittel der Güter weit überstieg. Als in der Zeitung stand: »Die beiden schönsten Frauen waren die Fürstin Starhemberg und die Gräfin Salburg«, wurde die ganze adelige Weiblichkeit besonders sittlich entrüstet. Gegen die Kinder dieser blonden Frau wuchs ein steinerner Wall der Ablehnung empor, der Verfolgung. Überall hin flogen die Samenkörner dieses Hasses. Es wäre besser gewesen, die äußere Geste der Kindespflicht unweigerlich beizubehalten, nicht zu brechen. Sohn und Mutter in Feindschaft! Ein trauriges Bild. Und gegen uns und unsere Zukunft stand die Sippe.
Was war es für ein kleines, geistig enges, klatscherfülltes Pensionistennest, dieses alte Linz; so schön an der Donau gelegen, majestätisch, aber innerlich ganz ohne Majestät. Was saß da alles beisammen in Dumpfheit und Enge! Der einzig dastehende Typ des österreichischen Pensionisten erster und zweiter Güte nörgelte durch die Straßen, spähte sich gegenseitig in die Fenster, klatschte, spielte Karten, trieb eine ausgefallene Vormärzpolitik. Raubritterfiguren aus dem Adel ließen ihrem gewalttätigen Junkertum freiesten Spielraum. Sitzengebliebene Töchter übten unhold gewaltigen Zungenschlag. Es wurde soviel gebeichtet, daß man an sehr viele Sünden glauben mußte. Exklusiv bis zur Manie hockte ein kleiner Provinzadel beisammen, hypnotisiert zu einigen Großen des Landls emporstarrend. Vom eigenen Dunstkreis berauscht, in sich selber beseligt, dämmerte er dahin. In den Straßen wuchteten die schweren Gestalten der Flachlandbauern, der Bürger, in deren Kreisen der Liberalismus spukte; die herrschende Note waren der Kaplan und Seminarist, die Damenstiftlerinnen, die adeligen Stiftsdamen. In den Buchhandlungen lagen keine Novitäten auf; und wenn einer sich verstieg, ein Buch zu kaufen, ging es reihum in der ganzen Koterie. Bei der »Kanone« und im »Erzherzog Karl« standen die Stammtische, an die die adeligen Herren vom Land hereinkamen. Jeder wußte vom Anderen alles und noch etwas dazu, das niemals gut war. In dieser Welt mußte meine Mutter beunruhigend wirken. Sie war nicht demütig, sie bewarb sich nicht um die Gunst der Clique. Die Herren neigten ihr zu – ihre Schönheit und Frische, ihr Witz, ihr Verstand lockten. Ihre munter-trotzige Eigenart gefiel. Das machte sie bei denen, auf die es ankam, noch verhaßter. Und darüber lachte sie. Wie konnte sie lachen – sich unterhalten, fröhlich sein, einen ganzen Kreis beleben! Was alles wußte sie, die sich unausgesetzt selbst weiter unterrichtete! Aber im Urteil war sie ganz ohne Mitleid. Die Güte, die vielleicht doch ganz tief in ihr lebte, ist nie lebendig gemacht worden. Irgend etwas blieb das Leben ihr schuldig. Die versöhnende Note des Frauentums fehlte ihr. Mein Vater in seiner Vornehmheit trug die wachsende Vereinsamung ruhig. Es hätte ihn gefreut, die Frau, die er liebte, gewürdigt zu sehen. Das ward ihm nicht. Er ging wenig und weniger nach Linz. Als die Zeit ernsten Lernens für uns kam, wurde in Graz ein Haus erworben, die Steiermark sollte die neue Heimat sein. Das war ein Platzmachen, ein Weichen ohne Klugheit. Von Linz aus gingen die bösen Stimmen ja doch überall hin.
Wir Kinder haben das, aus ihrem Raunen entstandene, bösartige Übelwollen in unserer Umwelt überall empfinden müssen; es wurde der aufreizende Begleitakkord unseres Lebens. Es steigerte die Liebe zu dem Vater zu einer Leidenschaft, im wachsenden Begreifen seiner Leiden, seiner Leistungen, um die gesamte Familie über Wasser zu erhalten, die jüngeren Kinder noch mit kleinen Apanagen bedenken zu können, was ihm, nach einer mustergiltigen Amortisierung der mütterlichen Schulden, kurz vor seinem Tode endlich gelang. Denn seine Geschäftsgebarung flößte den Kuratoren der Majorate den höchsten Respekt ein. Das Witwengehalt meiner Mutter aber wurde viel kleiner angesetzt, als das der alten, unheilbringenden Frau, und ihr keine Wohnung in den Schlössern zugebilligt. In früher Jugend war das erste, elementare Gefühl, das mich packte, ein ungeheurer, ehrlicher Zorn gegen diesen ganzen Adel, der genau wußte, wie schwer der Kampf des Majoratsherrn, wie berechtigt und unbedingt notwendig seine Strenge in der Familie war. Gegen die eigene innere Überzeugung, aus persönlichen Rankünegefühlen, die der bürgerlichen Frau galten, stellten sich die Standesgenossen auf die Seite derer, die schweres Unrecht taten. Meine trotzige Seele wandte sich ab von ihnen; von allen, ihren Begriffen ohne Daseinsberechtigung, den leeren Gesten und Phrasen adeligen Denkens, die im gegebenen Moment, auf den es ankam, zumeist versagten. Keine Solidarität war da und darum keine Kraft mehr des Adels. Er zerfloß in Hofschranzentum und Provinzgeschlechter, hindämmernd in alten Schlössern. Kein Aufblick zu ihm war möglich.
Das war das erste, tiefste Sich-Rechenschaft-geben in mir über meine Umwelt. Die erste, innere Abkehr; das erste Gedankenleben. Ich begriff den Zorn, die Herausforderungen im Wesen meiner Mutter. Ich fühlte mit ihnen. Streitbarkeit erstand in mir.