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O mei, o mei«, sagte der nun uralte Dechant von Waldneukirchen, als er das hübsch gebundene Gedichtbuch durchblätterte und bei dieser Stelle steckenblieb. »So is' das? aber geh!« –
Dieses Gedicht, auf das ich besonders stolz war, ist auch in jeder der Besprechungen, die zahlreich erschienen, besonders erwähnt worden, sozusagen mit einem milden Rezensentenlächeln, das ausdrücken wollte: Also, das gibt es auch! Ja, das gab es. Eine junge Person von noch nicht achtzehn Jahren, die sich energisch von Liebe und Leidenschaft abwandte, als Glaubensbekenntnis der Öffentlichkeit verkündend: Ich will damit nichts zu tun haben! Ein für allemal nicht. Schluß! Ich war nicht mehr häßlich, auf den Bällen ging es mir gut, Anbetungen schlichen sich heran, ich nahm sie an und gab nichts dafür. Unsere Erziehung hatte die feste Überzeugung in uns gereift: Wir bleiben sitzen. Gleichgestellte sind entweder Majoratsherrn oder sie haben nichts. Die nehmen uns nicht. Nicht Gleichgestellte kann man nicht heiraten! Warum eigentlich? habe ich später gefragt. Liebe ist unpassend und führt zu Konsequenzen, über die man nicht spricht. Man vergibt sich da etwas. Betreffs Lebensaufklärung beim Übergang ins Jugendland hätten wir Wedekind nicht benötigt, und unsere inneren Stürme scheinen ebenso gering gewesen zu sein wie unser Frühlingserwachen. Die Aufklärung lautete: Wenn du dich einmal von irgendwem anrühren läßt, kommst du in die Hölle, und vorher wirst du entsetzlich krank. Also, tu's nicht! Und ich tats nicht. Ich glaubte diesen Worten, denn Geschichte und Poesie hatten mich auch gelehrt, daß tatsächlich durch die Liebe viel Unheil in die Welt gekommen war, und daß die Frau dabei zumeist der leidende Teil wurde. Das paßte mir nicht. So war ich streng gegen mich, wenn hübsche Uniformen mir gefielen oder Augen sprechend blickten. Jedoch hatte ich vor, mir eine von vornherein hoffnungslose Leidenschaft mit allem Beiwerk an Schmerz, Poesie und so weiter einmal zu gestatten, damit in meine dramatischen Frauengestalten die richtige Wärme käme. Aber das hatte Zeit. – Der Dechant Purschka hockte an der sonnigen Mauer seines Obstgartens im Fahrstuhl, und ich saß neben ihm auf einem Holzstoß, während er das Buch durchblätterte, das ich ihm gebracht. Die Marie und die anderen Kinder – wir waren zu Fuß den weiten Weg hierher gewandert, – saßen im Wirtshaus, die interessierte der greise Priester nicht. Sein Körper war gebrechlich geworden, sein Geist noch ganz hell, Lachen und Träne der Menschen ihm noch dienstbar. Er las mit Freude in den Gedichten und kam dann zurück auf: »Lieb' ist Elend, Lieb' ist Qual. Hast du an Witz g'macht, Grafendirndl, was? foppst sie, die feinen herrischen Buam?« »Nein«, schrie ich entrüstet. Ein Mostapfel rasselte herunter auf meinen Kopf. »Oha!«
»Magst leicht nöd heirat'n, geh?« »Nein.« »Woaßt dir no koan?« Ich lachte verächtlich. »No, no! nur nöd gar aso gach. Sie hab'n do gwiß schon's große Umerschießn wegen deiner, die herrischen Buam? I hab was läuten hör'n.« Er guckte mich listig an. Ich lenkte das Gespräch ab. Er las wieder etwas. Es wurde still. Um den langgestreckten, alten, weißen Hof der Dekanei blühten viele einfache Blumen bienendurchsummt, reifte saures Obst. Es roch nach Dill und Rosen. Weit streckte sich flaches, fruchtbares Land mit dunklen Wäldern der Haller Gegend zu, dem Jodbad, und Adlwang, dem Wallfahrtsort. Es ist eine Gegend, die kann sich fast nicht verändern. Und ihre Menschen bleiben auch gerne, wie sie sind.
»Bist wol noch recht fromm, Grafendirndl?« Der Dechant sah mich plötzlich durchdringend an. »Ich hab dich tauft, weißt, bist fromm blieben?« »Nein«, stammelte ich, blaß werdend. Ich konnte ihn nicht anlügen. Er zuckte zusammen, in sein seltsames Gesicht, das wie ein Runenstein war, kam Leben. Seine Augen wurden scharf, durchforschten mein Gesicht. »Zwegen was? Hast'n Hergott verloren, mei arm's Kind? Ganz verloren?« Ich schüttelte den Kopf. »Aber?« »Protestantisch möcht ich werden.« »Oha.« »Es ist zuviel Grausamkeit in der Kirche gewesen, zuviel Mißbrauch, zuviel Politik.« Er sah mich entsetzt an. Ich verstummte. Und wieder hüpfte ein grüner Apfel nieder, gab mir für meine gottlosen Worte einen Nasenstüber und trollte sich.
»Ist das vielleicht nicht wahr? In der Geschichte.« »Laß die G'schicht G'schicht sein, nix Gewisses weiß man nicht. Die Welt is' alleweil die gleich' g'wesen, mei' Dirndl, und zum Herrgott zurück will ein jeder wieder, so oder so.« Er sah mich noch immer scharf an, richtete sich auf und sagte ehrlich: »Ich bin auch amal vom Herrgott weit abkomen. Und das war g'fehlt. Denn dermalen war ich schon Kaplan.« Ich erschrak. Er nickte. »So ist's g'wesen!« sprach er streng. »Und hat keiner mir helfen können, – nur ich selber. Das war wie a Kranksein, Kind. Recht schwer. Mir is' so allerhand durch Herz und Kopf 'gangen, das da nix zum Suachen nit g'habt hat. Nachts hat's mi auf der Liegerstatt nimmer g'litten, da bin i umanand ganga, wia a arme Söl. 's Beten waren leere Wort. Ich hab mi g'fürcht vorn Meßopfer. In mir hat der Mensch rebelliert, und der Herrgott schweigsam zuagschaut. Recht lang. Wol – wol. So is' es g'wesen.« Er nickte schwer vor sich hin. An mir zog es vorbei, ein leidvolles Leben, dem die Träne natürlich gewesen, das das Lächeln gelernt hatte. Der alte Mann blickte groß in weite, innere Fernen, als sei ich nicht mehr da neben ihm. Über ihn stand jetzt sein Dasein gebeugt, sprach zu ihm, sah in seine Augen. Seine Stimme sogar veränderte sich. »Glaubst, daß es leicht ist, ein katholischer Priester sein?« kam es von seinen Lippen. »Glaubst, daß es leicht ist? Beiseiten stehn alleweil vom Weg, den alle gehn. Ang'feindt und mißverstanden werden, allein sein, fremd überall? Eing'sperrt. Leicht is' es nicht. Aber groß kann's sein – ja groß, das is es, wenn's richtig g'macht wird. Dann kommt ein Tag, wo man nimmer tauschen möcht'.«
Der alte Mann sank in sich zusammen. Flüsternd sprach er weiter. Ich war vor ihm niedergekniet, zog die Pferdedecke herauf, die ihn wärmte. Da legte er die Hand auf meine Stirne. »Schau, daß d' dein Herrgott wieder findst«, sagte er.
Der Dechant Norbert Purschka ist bald darauf gestorben. Seine Werke aber sind volkstümlich geworden, sie leben heute noch in Wort und Lied.