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Meine Mutter lebte nun ihr eigenes Leben, ergab sich dem Sport, ritt mit Leidenschaft, spielte Tennis, hatte ihren besonderen Kreis, der mir und meiner stillen, unweltlichen Schwester gar nichts sagte. So schuf sich jeder seine Welt. Ich bereitete mich vor, in das literarische Leben nach Berlin zu gehen, und suchte jahrelang nach Mitteln und Wegen, denn untergehen im Strom mochte ich nicht, ich wollte in bescheidenstem Rahmen vornehm bleiben. Dieser Gedanke war in den damaligen wütenden Kämpfen und Ausschreitungen des Materialismus und Sozialismus in der Kunst sehr kindlich; er zeigte eine Weltunwissenheit von österreichischer Eigenart. Berlin war ein Wort, das flammte verheißungsvoll in roten Lettern, das lockte und rief. Dort sind alle Quellen zur Vollendung, zum Schaffen und Lebenswissen. Vor Not war ich geschützt durch die Majoratsrente und ein kleines Kapital. Ich konnte gehen. Wenn meine Schwester sich mir anschloß, um sich in Musik auszubilden, so konnten wir zusammen vielleicht eine kleine Häuslichkeit gründen. Wir ahnten nichts von den unerhörten Vereinsamungen in der ganz großen Stadt, wenn man sich ihr nicht voll hingibt. Wir waren Grazer Kinder mit einem Prestige, wie es in Provinzstädten möglich war, uns kannte hier jeder. Mein junger Name klang schon. Es mußte auch gehen in Berlin. Aber meine Schwester war noch minderjährig, die Mutter unbeugsam. Ich mußte warten. In diese Jahre nun fällt viel inneres Erleben, fallen viele Fehler, die bezeichnend sind für eine Kaste und eine Zeit.
Gepaart mit dieser inneren Respektlosigkeit vor menschlichem Treiben war in mir eine spielerisch leichte, oft skrupellose Art im Verkehr mit anderen, eine Verantwortungslosigkeit der Seele, groß geworden. Ich kam Menschen äußerlich entgegen, ohne innerlich nur eine Spur dabei beteiligt zu sein. Es gab unangenehme Heiratsgeschichten, die ich nie ernst genommen, in den sogenannten anderen Kreisen, mit denen ich durch die Schriftstellerei in Berührung kam. Es gab sogenannte erregte Hoffnungen, denen Spott und Ironie folgte. Mit der persönlichen Freiheit, dem Selbstgefühl, eine gewisse Macht zu besitzen, wuchsen diese Erlebnisse und schufen mir erbitterte Feinde. »Alles versprechen – nichts halten«, wie oft hatte ich das vernommen. Es gefiel mir. Es war sehr undeutsch. Ich habe in den Jahren nach dem Tode meines Vaters in innerlicher Zerrissenheit übermäßig und schwer, aber ungeführt im rechten Sinne, gearbeitet, bis zur Erschöpfung der Nerven. In mein Leben dämmerte zum ersten Male groß und schauerlich der Sozialismus herein. Ich sah das arbeitende Volk die finstere Stirne erheben, hörte es seine Forderungen aussprechen. So ganze Tage lang mir selber überlassen, bin ich aus der Grabenvorstadt, dem alten Herrschafts- und Klosterviertel, in dem wir wohnten, stundenweit hinausgewandert ins Flachland. Da lag der große Fabrikkomplex Ober- und Unterandritz, mit flammenden Essen und Arbeitervierteln, in düsterer Reizlosigkeit. Rund herum ein Garten an Naturschönheiten, zu Füßen der Ruine Gösting, wasserdurchrauscht, lachendes Land. St. Ulrich, die geliebte Waldkapelle, in der man hundert Träume träumte, St. Veit, grünende Vorberge von köstlichem Reiz, zu Füßen die Karmeliterklöster, der Rukerlberg und Rosenberg, die Schökelgegend. Diese Schönheit sagte mir damals nichts. Ich hatte »Lassalles Leben« gelesen – griff nach den Großen der Umsturzzeiten. Bebels Bücher gaben mir eine neue, erschütternde Welt. Neben dem verkommenden Adel, dem satten, langsamen Bürgertum, dieser sehnsuchtslosen Schicht der Menschheit, wuchtete ein Drittes empor und schrie nach dem Platz an der Sonne. Das arbeitende Volk.
Was habe ich alles geschaut in meiner Seele, in mir erlebt, wenn ich so, ziemlich gewagt – ganz allein umherstrich in den Fabriksvierteln. In Häuser spähte ich – in Versammlungen schlich ich, an den Türen der Arbeitshallen stand ich lange. » Des armen Mannes Liederbuch« ist damals entstanden, aus dem Vermächtnis eines alten Arbeiters, der mir seine Gedichte schenkte, er hatte sie im Bettstrohsack verborgen. In der Form schauerlich, waren sie nach dem Inhalt blutendes Leben. Ich schrieb und veröffentlichte kleine Broschüren, von denen » Ein Erwachen« und » Bekenntnis « Aufsehen machten und verschärften Widerspruch in meinen Kreisen hervorriefen. Mein geistlicher Lehrer stellte mich zur Rede über mein Innenleben; in einer Lateinstunde war es. Er warnte mich vor mir selber. Dann erzählte er mir aus seiner Arbeitszeit als Kaplan im Fabrikviertel, aus seinem Erleben. Von dem Kampf zwischen Mann und Frau um die Religion sprach er, von den entsetzlichen Schul- und Kinderkonflikten, der steten Lebensgefahr des Priesters in der Brandung dieses Volkslebens. Er sagte sehr ernst: »Lassen Sie diese Welt. Rühren Sie nicht daran.« Da erwiderte ich ehrlich: »Das kann ich nicht mehr. Es ist zu spät – ich fühle mit diesem Teile Menschheit«, und wußte – nun war ich ganz allein. –
Ja, ich fühlte mit ihnen; – das hat nie mehr aufgehört. Weit näher steht mir alles ringende, einfache Volkstum, als die bevorzugten Klassen. Auch in den Tragödien ihrer Irrwege empfinde ich für diese Seelen. Geschichte und Sozialismus sind die zwei größten Wege des Geistes. Größer als alle Philosophie. – – – Mein Leben war damals seltsam. Stunden um Stunden der Arbeit – Wanderungen durch Not und Schatten. Gefahren, die mich nicht schreckten, Erkenntnisse des wirklichen Lebens. Neue Verachtungen, ein Aufblick. – Der erste Aufblick, den ich in meinem Leben empfunden, der erste Respekt, ich bekenne es frei, er hat dem schwer arbeitenden Volke gegolten. Da verblaßten Rassen, Klassen, Nationalitäten. Da war nur in gigantischer Düsterheit ein bis zum Wahnsinn ringendes, begehrendes Geschlecht. Da dampfte und loderte erdatmend, den letzten Dingen nahe, das wirkliche Sein des Geschöpfes, umbraust von Verdammnissen, die Arme ausgestreckt nach Luft und Sonne. Leben, nur leben. Mensch sein dürfen! –
Damals las ich Zolas »Le travail«.
Nach diesen erschütternd ernsten Schicksalsstunden – in denen das heilige Fieber des Werdens in mir war – kam das lockende Spiel in den Salons an die Reihe, die Werber und Schmeichler – auch mehr. Trat das Erlebnis des Herzens in mein Leben – sonnen- und hoffnungslos – zwei Jahre verbitternd und auch beseligend. Das Hingehen am Abgrund – den Blick in die Himmel gerichtet, der einmal nur im Leben geträumte selig-unselige Traum. – Erlöst ist, wer in sich die Prüfung bestanden. Ich bestand sie wohl. Aber wie? Ein Stück Herz, Gesundheit und Leben blieb dabei zurück.