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Sommer neunzig mußte ich meinen Vater nach Reichenhall begleiten, seine Gesundheit wurde schlechter. Wir ahnten nicht, wie ernstlich er krank war; die alten Feldzugsleiden, die Folgen des Sturzes aus dem Wagen und einer zu kalten Behandlung zeitigten eine schleichende, nicht mehr heilbare Krankheit. Ich bin ununterbrochen um ihn gewesen in diesen Zeiten. Unter einem schweren seelischen Druck genoß ich die Schönheit erlesenen Bayerischen Landes kaum.
Als einzige Erinnerung von Reichenhall, wo wir still lebten, ist mir die Bekanntschaft mit dem Pariser Schriftsteller Paul Bourget haften geblieben, der mit seiner jungen Frau im Hotel Burkert neben uns wohnte. Seine Bücher » Cruel Enigme« und » Mensonges« wurden viel gelesen. Ihre ungeheure Gefühlsverfeinerung und Seelenanalyse stand zu der Erscheinung und Wesensart des Dichters in einem beinahe komischen Gegensatz. In Reichenhall offenbarte er sich als ein sehr eitles Männchen, das unermüdlich in die Buchhandlungen lief, um für sich Reklame zu machen, sehr entrüstet war, daß seine Bücher nicht überall auflagen, und als Hauptnahrung Sekt genoß. Schon auf seinem Frühstückstisch standen die Sektflasche und der Henessy; auch seine junge Frau, von hübschem aber jüdischen Aussehen, verschmähte den Champagner nicht. Beide tranken ihn zum Kaffee, und nach zehn Uhr sah man denn gewöhnlich Madame Bourget in die Apotheke um ein Magenmittel laufen.
Wir sprachen oft zusammen; er war witzig und boshaft; ich hielt ihm Stand; bei seiner Konversation begann man zu prickeln: » cette petite comtesse Autrichienne,« wie er mich zu bezeichnen pflegte, machte ihm Spaß, durch rasche Antworten. Aber ausforschen ließ ich mich nicht. – Dann kam ein letzter Herbst in Leonstein von unendlicher Traurigkeit. Der Vater siechte. Eine Verklärung lag auf seinen Zügen, die in einer ergreifenden Reinheit hervortraten, all' die Grundzüge seines Charakters, Geduld, Güte, Edelmannsart prägten sich noch einmal tief denen ein, die ihn liebten. Die Leute der ganzen Gegend liebten ihn. – Er klagte kaum, ging noch umher. Aber die Axt saß an der Wurzel. Er war sich dessen ganz bewußt. Zu allem kam, daß mein Bruder nun einrücken sollte, um bei einem der vornehmen, oberösterreichischen Regimenter sein Freiwilligenjahr zu dienen, das seine juridischen Studien unterbrechen mußte. Wir Kinder, alle vier, waren bis dahin ganz und immer im Hause gewesen. Nun ging der Erste von uns hinaus – flügge geworden. Die Uniform kam, – fein stand sie der schlanken, jungen Figur, dem brünetten Gesicht mit den starken Zügen, den dunklen Augen. Noch seh ich den jungen Soldaten vor dem Vater stehen, der selber so glänzend die Husarenuniform getragen, und nun den Sohn lange anblickte. Nicht mit leichtem Herzen. Der mußte ins Leben mitten hinein, in die feindliche Strömung im eigenen Land, an dessen Scholle er gebunden war. Ihn, der ein einsamer Junge, auf fremden Schulen gewesen, erwarteten keine Kameraden, die er schon kannte; erwartete kein Entgegenkommen, das sonst jungen Aristokraten die Hände unter die Füße legte. Er hatte keine Aussicht auf Protektion, auf liebevolle Vorgesetzte. In der Steiermark, wo wir als Menschen Wurzel geschlagen, wäre alles für ihn weit leichter gewesen. Die eigenste Heimat, in der sein künftiger Besitz lag, war zur feindlichen Fremde geworden. Ich las in meines Vaters kummervoll nachdenklichen Zügen, um seines Sohnes willen, die Trauer und Reue, daß er nicht mit den Seinen dageblieben war, den Stürmen trotzend. In Linz saß dem jungen Erben, erbittert und neiderfüllt, feindlich gesinnt, die Sippe mit der harten, alten Frau, die nur einen Sohn lieb hatte, ihren Jüngsten. Ich weiß es nicht, ob darüber zwischen Vater und Sohn in jenen letzten Septembertagen vor dem Scheiden Worte fielen. Ich glaube es aber nicht. Das Herz sollte dem Knaben nicht schwer gemacht, sein Wesen nicht unsicher werden. Er war ein reizbarer, extremer und sehr sensitiver, ein reichbegabter, trotz aller Vorrechte zur Verbitterung neigender Mensch mit zu vielen Talenten, um sich zu konzentrieren. Wir, er insbesondere, sahen zurück auf eine Kindheit voll von Warnungen. Der Vater sagte: »Mach' uns Ehr'.« – Dieses Scheiden traf ihn tief. Bei der ersten Mahlzeit nach der Abreise des Sohnes sah er sich um am Tisch, sagte leise: »Und sieh, es fehlt ein teures Haupt.« Gespannt horchte er hinaus in die Ferne, wagte doch kaum zu fragen, aus dem Schuldgefühl heraus: Den Kindern wäre dieser Haß zu ersparen gewesen! Mein Bruder hat sich tapfer gehalten in diesem, zweifellos sehr schweren Jahre, da er als ein Militär- und Weltrekrut einsam unter übelwollenden Menschen dastand, auf fremdem Boden. Es kamen keine Klagebriefe. Er hat wohl die Zähne zusammengebissen und aufgetrotzt, das alte, gute Blut gab ihm den Halt. Aber da und dort sickerte es durch: Sie haben den jungen Salburg fest in der Arbeit. Die scheuesten Pferde, die härtesten Strapazen, die bösesten Abrichter sind ihm vermeint. Auch ist es mit verhetzten, gegen ihn aufgestachelten, adeligen Kameraden aus der Clique zu scharfen Auseinandersetzungen gekommen. Darüber ist kein Zweifel, man ersparte ihm nichts. Er hat es durchgemacht, und es zeigten sich in ihm alle Anlagen zu einer starken Persönlichkeit. Die adeligen Eigenschaften des Vaters, die sprühenden Talente der Mutter boten hier die Vorbedingungen für einen Sohn, der in das aristokratische Wesen hätte Erneuerung bringen, ein Führer seines Volkes werden können. Wer aber mit zweiundzwanzig Jahren, in voller Unreife und Ungezügeltheit eines schwierigen Charakters, eine Herrenstellung antritt, Güter übernimmt, seine Familie terrorisieren kann, wer gebieten darf, ohne daß er gelernt hat zu gehorchen, wer ernste andauernde Arbeit nicht mehr braucht, der wird nie ein Führender in der Welt werden. Der zersplittert sich im Dilettantismus, in jeder Hinsicht. Es ist nicht seine Schuld – es kann nicht anders kommen. Die Gesetze der menschlichen Existenz sind unerbittlich gezogen, Erfüllungen können nur aus Gestaltungen reifen. Wo aber einer Knabenfaust, einem störrischen Kindersinn Macht gegeben wird, da verwandelt sich die Anlage zu edlem Stolz in Hochmut und Selbstüberhebung, das Zerstörungsprinzip, die Unduldsamkeit erwachen, und eine schauernde Herzenskälte entwickelt sich. Der ungerecht Bevorzugte ist der Undankbarste der Menschen. Wo das Muß fehlt, hört das Wollen auf, alles wird zur Spielerei. –
Mein Vater sah den ältesten Sohn nicht wieder. Im Dezember 1891 in Graz stand dieser an seiner Leiche. In der blauen Rittmeisteruniform, – er wollte nicht als Kämmerer begraben werden, weil das nur überkommenes, nicht erworbenes Ehrenkleid war, – die Orden der italienischen Radetzky- und Benedek-Feldzüge auf der Brust, lag der Tote da mit einem erlösten, friedvollen, weißen Antlitz; er hatte sich um uns viel gesorgt. Auch die falschen Wege waren nur Wege unendlicher, suchender Liebe gewesen. Nicht ein Ichgedanke durchkreuzte sie. Es starb ein vornehmer Mann mit vornehmster Seele. Ein österreichischer, wirklicher Aristokrat und Offizier. Auch ein Christ, in schlichter Glaubenserfüllung, der nie gehadert hat, in Unduldsamkeit. Er war nur 57 Jahre alt geworden, und diese sind Mühe und Arbeit gewesen. Ich wußte, daß ich ihn nie vergessen würde. Lebendig steht er heute, mahnend steht er vor mir. Er liegt in der Gruft zu Grünburg; die Bürger seiner Heimat trugen ihn zu Grabe, alles Volk nahm teil. Mit ihm ist der wurzelnde Heimatsbegriff, der Heimgedanke einer sicheren Zugehörigkeit in mir erloschen. Er war der Zusammenhalt, die Liebe, die Güte, er war alles gewesen. –
Und obwohl der Wille bestand, daß die jüngeren Kinder, in Graz, in ihrem Hause mit der Mutter beisammen blieben – die Einkünfte zusammengelegt wurden, um weiter ein kleines herrschaftliches Dasein, nach österreichischen Begriffen, zu ermöglichen, so wußten wir doch, – meine Schwester und ich, die einander innig liebten, jede in ihrer Art, – daß im Lauf der nächsten Jahre die Auflösung unabänderlich komme, daß jeder seine Wege gehen würde. Mir war diese Welt hier zu eng geworden. Es trieb mich hinaus in Ernst, Arbeit, Prüfungen. Mein Bruder, nachdem er sofort die Großjährigkeitssprechung erzwungen, riß sich rücksichtslos von seinen Angehörigen los. Er hatte mit denen in Linz paktiert – und mußte das wohl auch. Denn er hatte vor, in Oberösterreich zu leben, als ein großer Herr.
Sehr dunkle Tage sind dann gekommen, wie nicht jedes Schicksal sie aufzuweisen hat. Ich erzähle sie nur als einen Beweis der moralischen Gesunkenheit des Adels. Die Großmutter in Linz, an die achtzig, am Rande des Grabes stehend, hatte die Stirne, uns arme, jüngere Kinder auch noch um das Bißchen Erbteil bringen zu wollen, das der Vater mühevoll erspart hatte. Sie reichte eine Klage ein, wir sollten enterbt, das Geld beschlagnahmt werden, weil die Baulichkeiten der Majorate nicht gut genug erhalten worden seien. Meine Mutter, nach dem Todesfall ganz fassungslos, ließ sich von mir, die in finsterer Energie die Zähne zusammenbiß, nach Linz bringen. Dort standen wir in unserer tiefen Trauer vor dem langjährigen Rechtsanwalt und Majoratskurator Bahr, dem Vater des wilden Triebes an ehrsamem Bürgerstamme Hermann Bahr. Ich redete. Er hörte zu. Ich las Übelwollen in seinen Zügen. Mein Mut wuchs. Ich redete mir in einer verzweifelten Kühnheit von der Seele herunter, was nur zu sagen war. »Ihre Großmutter will einen Advokaten nehmen.« – »Sie wird keinen finden, solche Schufte gibt es hier nicht,« sagte ich. »Waisen zu Bettlern machen, auszurauben, eines Sohnes Andenken zu schmähen, darauf geht keiner ein hier im Land, wo man uns kennt und meinen Vater die Lasten seiner Mutter schleppen sah. Das höchste Ehrenzeugnis liegt auf seinem Sarge.«
Dr. Bahr musterte mich scharf, wortkarger noch wurde er. Die Mutter, jetzt eine schöne Frau von 42 Jahren, saß da, unfähig zu reden. Mir aber wuchs die Kraft. So ganz allein stand ich da für die Meinen und fühlte des Vaters Hand auf meiner Schulter, und wußte mein – unser Recht. Sprach für das Schwesterchen in seiner frommen und zarten Weltenferne – für den kranken, verkürzten Bruder, für die Mutter, hinter der ein schweres Dasein lag – für mich selber. Ich habe damals in schrankenloser Wahrhaftigkeit einmal Dinge beim Namen genannt und volle Wahrheit zu Worte kommen lassen. Die ganze, überzeugte, verachtende Respektlosigkeit meiner jungen, im Tiefsten aufgewühlten Seele wagte sich heraus, warf den Fehdehandschuh hin, sprach sich aus über Ehre – Scheinehre, Begriffsverwirrung des Adels, schändliches Wollen. In Linzer Bürgerkreisen, den Liberalen, war man sich ja über die alte Gräfin Salburg und ihren Familienhaß, ihre Verschwendung und Skrupellosigkeit sehr klar. Verschwendung verzeiht man einer Frau – Herzlosigkeit niemals. –
Dr. Bahr wurde, nachdem ich verstummt war, gesprächiger und milder. Ich sehe in dem großen Wandspiegel, der in diesem Salon zwischen Bürgerbildern hing, seine ehrenfeste Gestalt im schwarzen Rock, sein strenges verschlossenes Gesicht, die beobachtenden Augen. Und sehe meiner Mutter helle Schönheit aufleuchten, im schwarzen Kleid. Ihre Töchter standen ihr an Reizen weit nach. Aber auch ich war damals ein hübsches Mädchen mit leuchtendem Haar und braunen Augen, die ins Leben glänzten. Mit den Zügen des alten oberösterreichischen Geschlechtes.
Bahr begleitete uns die Stiege hinab, ohne sich auszusprechen. – Ein Rechtsanwalt für den elenden Racheplan der Großmutter hat sich nicht gefunden.
Es ist uns geblieben, was unser war. –
Die alte Gräfin starb mit fast 83 Jahren, an einem Zufallsleiden. Sie hatte die unverwüstliche Gesundheit der herzlosen Vielverbraucher. Ihr Dasein, auf das ich nicht mehr zurückkomme, klingt aus in der Burleske eines ganz unglaublichen Testamentes von über sechzig Seiten Inhalt, obwohl kaum irgend etwas zu vermachen da war. Das vom Sohne ererbte Vermögen hinterließ sie, ihre armen, stets für sie opferwilligen Töchter gröblich verkürzend, nur dem jüngsten Sohne, der in ihren Augen allein würdig war, Majoratsherr zu sein. Das Testament enthielt zuerst ein phantastisches Inventar über hunderte von Wertgegenständen, die gar nicht vorhanden oder ganz wertlos waren. Die verteilte sie. Sie verfluchte dann in alttestamentarischen Bibeltönen ihre Enkel, von denen sie zwei nicht kannte und der jüngste elf Jahre alt war. Sie fluchte nach rechts und links, ein alter Feldwebel hätte von ihr lernen können. Das Testament erheiterte Oberösterreich unendlich und machte berechtigtes Aufsehen. Einige Blättchen priesen sie als eine mißverstandene Märtyrerin. Sie hatte meinen Vater um Jahre überlebt.