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Ich habe in meiner vorigen Schilderung nachzuweisen versucht, daß sich der » Nachtschwärmer« trotz aller Anstrengungen, und ungeachtet er oft all sein häusliches Glück und die Herzensruhe seiner theuersten Angehörigen als Preis einsetzt, bei seinen nächtlichen Wanderzügen und forcirten Schlemmereien meist doch nicht »unterhält«, ja, daß er, wenn er aufrichtig sein will, Tags darauf gestehen muß, sich sogar weidlich – gelangweilt zu haben. Nun, letzteres Malheur, mit mißlungenen Unterhaltungsversuchen sowohl sich selbst als Andere zu langweilen, passirt der zweiten Gattung der Extrazimmerbevölkerung: dem (eigentlich aus der » Stammgastspecies« sich entwickelnden) » Wirthshausbruder« wohl nicht, da dieser nur im Juxe lebt, nur unter der sorgfältigsten Juxpflege gedeiht, sich dann aber auch – fortzupflanzen, d. h. Schüler und neue »Brüderln« heranzubilden vermag.
Der Wirthshausbruder ist zwar eine eigene Spielart der Nachtvögel, muß aber dennoch in die Classe der » Inseparables« gereiht werden, da er nur in » Gesellschaft« (mit Gleichgesinnten) angetroffen wird und, wie das muntere Thierchen dieses Namens, nur aus » Sympathie« mit den (Trink-)Genossen verbunden ist. Das scheidet ihn denn auch zugleich scharf von dem » stillen Zecher« ab, der – wie der »einsame Spatz«, sich selbst genug, die stillsten Winkel aufsucht und nur die monotone Melodie des Auf- und Zuklappens des Krügeldeckels zu hören gibt. Eine große Anzahl von Männern beiderlei Geschlechtes, d. h. ledige und verheiratete, sucht nämlich und findet leider auch nur im Wirthshause Erholung und »geistige Anregung«, und in Folge dieser in der That höchst bescheidenen Tendenz concentrirt sich alles Denken und Fühlen des also Organisirten nur in dem abendlichen Zielpunkte, genannt: »blauer Ochs« oder »rother Stiefel« oder »schwarzer Gattern« oder »goldenes Rössel« und wie die räthselhaften Firmen dieser populären Heil- und Trinkanstalten lauten mögen, und der rechtgläubige Heilbedürftige verzehrt sich bis zur normirten Stunde des Erreichens in unlöschbarer Sehnsucht nach dem Mekka seiner Wünsche, wofür (es ist hier der umgekehrte Fall) der wassertrinkende Giaur freilich kein Verständniß haben kann.
Der enragirte Wirthshausgeher beginnt demnach erst im Wirthshause zu leben, d. h. was er »leben« nennt: unter »guten Freunden« zu sein und unter dem unausgesetzten Accompagnement ihrer Schnurren und Schnacken, ihrer improvisirten (häufiger noch stabilen) Späße, ihrer harmlosen Neckereien und (meist equivoquen) Wortspiele, ihrer sogenannten »Aufsitzer« und Juxverschwörungen, denen abwechselnd immer ein Anderer zum Opfer fällt, sein gewohntes Quantum »Flüssigkeit« zu sich zu nehmen. Und »gute Freunde« sind ja Alle untereinander, denn es gibt kein Band, nicht einmal das der Liebe, was – wenigstens für einige Zeit – so fest kettet, als die Wirthshauskumpanie. Und dieses Gefühl wahrer, ungetrübter und »ewiger« Freundschaft kommt allabendlich immer wieder auf's Neue zum schönsten Ausdruck, wenn auf der Höhe des Augenblicks der Bestgeber, an dem nach dem Turnus die Reihe ist, die großen gefüllten Weinflaschen aufmarschiren läßt, sodann unter dem Geklirr der geschwungenen Gläser ein Pelotonfeuer von »Bruderküssen« erschallt und nach den strengen Gesetzen ungeheuchelter Freundschaft die Seitelstutzen mit einem Zuge geleert werden. Mir war in solchen feierlichen Momenten als unbetheiligtem Zuseher stets nicht so sehr um die Küsse, die »daneben gegangen«, als um den edlen Rebensaft leid, der im Ungestüm der Umarmung daneben, eigentlich über die Reversseite des respectiven werthen Freundes rann.
Und wie aufopferungsfähig die derart eroberte oder besiegelte Freundschaft ist! Brauchst Du Geld? Der »Freund« leiht es Dir mit Vergnügen, oder weiß es Dir zu verschaffen. Suchst Du einen Pathen? Der »Freund« schlägt es Dir nicht ab. Benöthigst Du einen Reisemantel? Der des »Freundes« steht Dir zu Diensten. Wünschest Du ein Krankheitszeugniß oder irgend ein Certificat zu diesem oder jenem Zwecke? Der »Freund« kennt die Mittel und Wege und morgen Früh acht Uhr bist Du im Besitze desselben. Bedarfst Du eines Protectors für einen armen Teufel Deiner Bekanntschaft oder Verwandtschaft? Es ist der günstigste Zeitpunkt, diese Anliegen vorzutragen, und der »Freund« wird Alles daran setzen, Dir zu willfahren u. s. w.
Dem Wirthshausfreunde ist kein Opfer zu groß, kein Weg zu weit, keine Mühe zu viel, um dem Wirthshausfreunde gefällig zu sein. Für seine eigenen und nächsten Angehörigen ist er vielleicht nicht zu bewegen, den Fuß zu rühren oder ein Wort zu sprechen – für den Wirthshausfreund dagegen ist er im Stande, im schwarzen Frack stundenlang zu antichambriren und von diversen hohen Herren sehr ungnädige mündliche Resolutionen in aller Devotion hinzunehmen. Dem Wirthshausfreund ist er endlich erbötig, jeden anderen Freund zu opfern, denn er kennt ja überhaupt nur eine Gattung Freunde: die Wirthshausfreunde, und nur eine Freundschaft: die Wirthshausfreundschaft.
Was knüpfte dieses innige Herzens- und Seelenbündniß? Die gemeinsamen Angelegenheiten der Flasche. Sowie er selbst nur in seinem Lieblingsgetränke das Labsal für jegliche Unbill des Tages findet, wie er selbst nur bei und mit schäumendem Schwechater oder perlendem Markersdorfer sämmtliche pia desideria, die etwa in seinem Innern erwachen, zu betäuben pflegt, ebenso und mit gleichen Waffen bekämpfen seine Freunde die Widerwärtigkeiten des Lebens, die großen Schläge und kleinen Nergeleien des Schicksals, und dieser einträchtige Fürgang, diese harmonische Uebereinstimmung verwandter Geister brachte sie beim »blauen Ochsen« oder »rothen Stiefel« oder »goldenen Rössel« zusammen und hält sie beisammen, oft sogar so lange, bis der Tod sie trennt und eine Lücke in das Bündniß reißt.
Ein Beispiel, an das ich mich aus meiner Kinderzeit recht gut erinnere. Es war zu Ende der Zwanziger Jahre, als ein vielbeliebter Wirth einer hiesigen Vorstadt, der alltäglich eine ganze Schaar von Stammgästen an sein Jedlerseer Bier zu fesseln wußte, ein Haus in einem der Vororte Wiens kaufte und sich dort etablirte. Ein Schrei des Entsetzens entfuhr bei dieser Hiobspost den Meisten seiner »Jünger«. Nur ein Häuflein, die Getreuesten der Getreuen schwieg, denn in diesem Kreise der entschlossensten Charaktere fand man es selbstverständlich, daß im vorliegenden Falle von einer Trennung durch »Zeit und Raum« keine Rede sein könne. Man ging einfach des anderen Tages hinaus in die neue Ansiedlung und kam nun dort täglich, d. h. pünktlich um die siebente Abendstunde trotz Sturm und Regen, trotz Kälte und Schnee zusammen, trieb dort die altgewohnten Versuche des Zeitvertreibes wie vorher, und machte um Mitternacht zu Fuß – damals gab's eben noch nicht so viele Verkehrsvehikel wie heuzutage, wohlgemuth den weiten Weg nach Hause.
Da fehlte plötzlich einmal Einer. Die Gesellschaft war in Folge dessen höchst unwirsch, denn es schlug acht Uhr und N. war noch nicht zugegen! Was thun? Ohne vollzählig zu sein, konnte man selbstverständlich die »Unterhaltung« nicht beginnen. Man wartete also mit der obligaten »fidelen Stimmung« noch eine geraume Zeit, man schmieg, ja man trank nicht einmal in den üblichen Pausen, denn das Mißbehagen ergriff sämmtliche Conventikler. Endlich klopfte der Oberälteste und Präses seinen Ulmer an der Tischecke aus, und sagte seufzend: »Mir ist leid um ihn – so schnell – gestern noch ganz gesund!« ... »Was verstehst Du darunter?« riefen die Anderen mit Besorgniß. »Nun, erwiderte Jener, den Ulmer frisch stopfend, ich meine nur, daß mir leid ist um ihn, daß er in seinen besten Jahren – –.« »Dummes Zeug!« lautete die einstimmige Antwort, »muß er gerade – gestorben sein, weil er seit zehn Jahren einmal nicht kommt? Kann nicht seine Frau, eines seiner Kinder erkrankt sein?« – »Jawohl«, murmelte Ersterer, freilich können die erkrankt sein, aber deshalb wäre er doch gekommen, wenn auch nur auf eine Viertelstunde!« – » Das ist wahr!« riefen Alle zugleich, »er wäre gekommen, aber vielleicht ist er selbst krank?« – » Er wird nicht krank«, behauptete in feierlichem Ernst der unnachgiebige Menschenkenner – »der N. wird nicht krank, der kann nur sterben! – Ich glaube, er ist in diesem Augenblicke bereits – todt!«
Mir kam, als unfreiwilligem Zeugen, diese in grausamer Ruhe vorgetragene Prophezeiung unheimlich vor. Die Gesellschaft blieb von diesem Momente an ebenfalls einsilbig, man sprach zwar noch einige Zeit von den guten Eigenschaften des »Verstorbenen«, aber die Stimmung war deshalb auch eine düstere geworden, keinem Einzigen fiel mehr ein Spaß ein, man brach vor der Zeit auf und trat kleinlaut den weiten Heimmarsch an, Tags darauf erfuhr ich, daß der so schmerzlich Vermißte an jenem Abende um halb sieben Uhr auf dem Wege in das Stammgasthaus einem Schlagflusse erlegen war. Sein Freund hatte Recht, nur der Tod konnte ihn aus der Mitte seiner Freunde reißen! ...
Nochmals, was hält die Leute so fest, gleich Stahl und Eisen, zusammen? Die Flasche, die Gewohnheit und der – Jux.
Es ist eine eigene Sache, um den »Wirthshausjux«, der Manchem zum Leben geradezu so unentbehrlich, wie die Luft ist. Nehmt ihm den Wirthshausjux und ihr tödtet ihn. Erlauben es ihm seine Verhältnisse nicht mehr, und das kommt mitunter ebenfalls vor, an den Compagnietrinkgelagen mitzuthun, an den gesellschaftlichen Späßen, an den lustigen Scenen seines weinbeladenen Stammtisches teilzunehmen, so stirbt er über kurz oder lang an gebrochenem Herzen. Denn der Wirthshausjux übt eine überwältigende Macht aus auf den eingefleischten Wirthshausgeher, dessen Naturell ja schon von Haus aus zum Leichtsinne neigt, und der nicht selten ein Opfer der mit Trinkbravouren ausgestatteten Wirthshauskameradschaft wird, die den Kindern den Vater, der Gattin den Gatten und einer edlen Beschäftigung ein oft reiches Talent entzieht.
Aber manche Wirthshausbrüder sind vermeintlich auch schlau. Sie nehmen ihre Frauen, ja sogar ihre Kinder in den lustigen Zirkel mit, damit erstere durch Autopsie sich die beruhigende Ueberzeugung verschaffen, daß man sich nur unter Freunden, lauter »guten Freunden« befinde, die mit ein paar harmlosen Späßen die Zeit verkürzen, daß man stets wisse, was man zu thun und wie weit man zu gehen habe, daß die Schranken des Anstandes nicht übersprungen werden, daß es überhaupt keine Todsünde sei, »ein Glas« Bier oder Wein in Gesellschaft von unbescholtenen Männern zu trinken – und wie derlei selbstbelügende Ausflüchte heißen. Ach, und manche Frauen huldigen leider nur zu bald ebenfalls diesem Cultus, finden an den oft mit höchst sonderbaren Späßen gewürzten Symposien dieser »unbescholtenen« Herren allmählich immer mehr und mehr Gefallen, bis sie ihre Weiblichkeit so sehr verleugnen gelernt haben, daß sie selbst den Ton in der »animirtesten« Männergesellschaft angeben.
All dies ist natürlich nicht das Zeichen eines soliden Hausstandes, und der vollkommen entwickelte Wirthshausbruder, der Meistertrinker par excellence, wird sich auch nie rühmen können, seinen Wohlstand gehoben zu haben, viel eher wird er sich gestehen müssen, daß es damit unleugbar bergab gehe. Es fällt mir nun nicht ein, den moralisirenden Prediger spielen und durch ein paar »abschreckende«, für den Adressaten dennoch aber nur langweilige Beispiele, einen oder den anderen Helden der »Sechz'gersäure« oder Mitvertilger der Schwechater Vorräthe bekehren zu wollen. Ach nein! Die Herren würden schon heute Abends einzig und allein nur wegen Besprechung dieses leidigen Themas um eine Stunde länger beisammen bleiben, denn Niemand ist so unerschöpflich in Auffindung von Anlässen »im Wirthshause zu sein«, als der – Gesellschaftstrinker. Ich wollte nur sagen, daß ich die nicht eben lustige Bestätigung meines (übrigens anspruchlosen) Lehrsatzes wiederholt erlebte, und so manche vielbewunderte Stammgastgröße, so manche Extrazimmerhonoratioren nicht nur ein körperlich, sondern auch ein finanziell klägliches Ende nehmen sah. Denn die Geschichte kostet auch Geld, woran man eigentlich gar nicht zu denken pflegt, und sie kostet sogar viel Geld, wenn man das bedeutend belastete Extraordinarium der zahllosen »Stiefelbier« und »Bestmaße« summirt.
Und schließlich begnügt sich der vollendete Wirthshausbruder ja auch nicht mit den vertrunkenen Abendstunden allein. Schon Tags über weiß er sich, um seiner Leidenschaft zu fröhnen, unter allerlei Vorwänden seinen Berufspflichten zu entziehen. Denn schon um zehn Uhr Vormittags harren die »Freunde« beim Gabelfrühstück des »Freundes«. Das usuelle Gollasch oder Krenfleisch oder »Bäuschl« absorbirt unter Assistenz von zwei Krügeln und einem Seitel Pilsner (mehr trinkt er in seiner Bescheidenheit Vormittags nicht) fast zwei Stunden. Bei dieser Gelegenheit werden die Nachmittags-Heurigenausflüge oder die Tags vorher erlebten abnormen Fälle beim Königrufen besprochen. Gleich nach dem Mittagstische eilt man in's Kaffeehaus zum kleinen Schwarzen. Die Freunde warten abermals, der Spieltisch ist reservirt oder eine à la guerre-Partie arrangirt. Diese »unschuldige Zerstreuung« währt bis sieben Uhr Abends, worauf die Karawane das Stammwirthshaus aufsucht, um nach des Tages »Müh' und Arbeit« ein paar Stunden unter Freunden zu verbringen. Und bis hieher war auch alles einstweilen Geleistete nur Vorspiel, die große Production beginnt erst setzt.
Der Stammgast und Wirthshausbruder ist natürlich der Busenfreund und Intimus des Wirthes. Zu seinen Prärogativen gehört demnach, daß er nicht nur in der Küche allerlei Schabernack treiben und die üppige Mehlspeisköchin in den fleischigen Arm u. s. w. kneipen darf, er hat auch das Recht, der Wirthin im Uebermaß der Lustbarkeit coram populo ein »Bußl« zu geben, welches cordiale Attentat sich zu Zeiten sogar die stolze Aufschreiberin an der Casse gefallen lassen muß, obwohl diese von ihren Vorzügen so sehr überzeugt ist, daß sie augenblicklich in einer Wolterrolle an jedem Hoftheater auftreten könnte.
Aber um dieses Selbstbewußtsein schiert sich kein Mensch, am wenigsten der Attentäter, der lachend zu seinen Freunden zurückkehrt, die eben einen Capitalspaß in Scene setzen, da es gilt, das perpetuirliche Stichblatt der Gesellschaft – meist einen böhmischen Schneider, wieder einmal recht »aufsitzen« zu lassen. Der Jux gelingt und das Halloh ist ein ohrenzerreißendes. In dieser gehobenen Stimmung stellt der »Witzige« der Gesellschaft den täglichen Antrag: zwei Maß Gumpoldskirchner auszuzipfeln, oder Denjenigen, der den »Juden« bekommt, zu verurtheilen, eine »Latern'« Bisamberger zum Besten zu geben u. s. w.
Unter diesen anregenden Geistes- und Trinkspielen, wobei zuweilen, besonders wenn es um »Grad« oder »Ungrad« geht, auch Frauen participiren, wird es Mitternacht. Man geht sodann nochmals in das Café, trinkt zur Abwechslung einen kleinen Punsch oder Schwarzen, spielt vielleicht noch eine Kegelpartie und geht um ein Uhr oder auch zwei Uhr Nachts nach Hause. Das Tagewerk ist vollendet. Fortsetzung morgen.
Wie die Geschichte endet? Wie gesagt, nicht immer so lustig, wie sie begonnen. Hin und wieder verschwindet Einer aus dem »Freundeskreise« auf unerklärliche Art, ein Anderer auf sehr erklärliche, denn auch das Wirthshaus weiß von »Ausbleibenden « zu erzählen, wie die Börse. Manchmal begraben sie auch einen »guten Freund«, der räthselhafterweise an der – Wassersucht gestorben und dem der Wirth die aufrichtigsten Thränen nachweint, denn er war sein bester Gast. Die Ueberlebenden aber opfern dann dem Dahingeschiedenen Hekatomben geleerter Flaschen, denn getrunken wird aus jedem Anlasse, und es wird überhaupt getrunken, so lange es die schlechten Zeiten erlauben. – Prosit!