Johann Gabriel Seidl
Gedichte
Johann Gabriel Seidl

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Tag und Nacht

          Ich weiß nicht, ist der Tag der Vater,
Und ist die Nacht sein Töchterlein? –
Wie mag das Kind des blonden Vaters
Nur gar so rabenlockig sein?

Er ist so laut, so lebenslustig,
Sie ist so still, so lebensmüd;
Die Wehmut blickt aus ihren Augen,
Indes der Mut aus seinen glüht.

Er ist in dieser Welt zu Hause,
Er liebt das Trachten, liebt das Tun
Sie ist zu Haus in jenen Welten,
Sie liebt das Schmachten, liebt das Ruhn.

Er schenkt uns Wein in goldnem Becher,
Sie reicht uns Mohnsaft in Kristall;
Er sagt uns: überall ist Leben!
Sie sagt uns: Tod ist überall!

Gut, daß sie, ohne sich zu treffen,
Vorüber aneinander ziehn,
Sonst müßt' er sich der Tochter schämen,
Sie – weinend vor dem Vater fliehn. –

Doch ist vielleicht die Nacht – die Mutter,
Und ist der Tag – ihr Sohn wohl gar?
Wie kam's dann, daß die düstre Mutter
Solch einen muntren Sohn gebar?

Wie sog aus ihrem keuschen Busen
Er diesen Lebenstaumel ein?
Wie kann, was Schmerz in ihren Augen,
In seinen wilder Jubel sein?

Wie kann, wenn sie den Witwenschleier
Schwermütig übers Haupt sich zieht,
Im blauen Festkleid er, als Freier,
Hintanzen lieb- und lustentglüht?

Wie kann er's, wenn sie matt entschlummert,
Mit rosig heitrem Lächeln sehn,
Und sich das Haupt mit Blumen kränzen,
Worauf noch ihre Tränen stehn?

Gut, daß sie, ohne sich zu treffen,
Vorüber an einander ziehn,
Sonst müßte sie des Sohns sich schämen,
Und er die Mutter spottend fliehn!

 


 


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