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SANDOMIR GELDERN UND SEIN KIND.
Die sonderbare Weise, mit welcher Sandomir Geldern sich den Zutritt zu seinem nahen Verwandten errungen hatte, machte ihn sofort zu einer bemerkenswerthen Persönlichkeit für die Untergebenen des Barons. Dieser galt allgemein für einen umgänglichen und gutherzigen Menschen, da er für Kleinigkeiten kein Auge hatte und alles nach großem Maßstabe beurtheilte. Es war längst bekannt, daß Baron von Kaltenstein vor seiner Verheirathung ein höchst ausschweifendes Leben geführt und Unsummen auf seinen Reisen im Auslande verschwendet hatte. Mit seinen Seitenverwandten gerieth er durch die Heirath mit Clotilde in Streit und Feindschaft, die sich erst spät etwas verlor, da die Baronin eine Menge höchst liebenswürdiger Eigenschaften besaß, die sie geschickt zu ihrem Vortheil zu verwenden verstand. Dadurch gelang es ihr, nach und nach die Familie ihres Gatten wieder auszusöhnen, wenn auch ein intimes Verhältniß, noch weniger ein freundschaftlicher Umgang mit den einzelnen Gliedern derselben sich nicht herstellen ließ. Clotilde selbst schien ebenso wenig daran gelegen zu sein als dem Baron. Dieser vertrieb sich die Zeit nach seinen Neigungen und fand immer Menschen, die ihm zusagten, Clotilde aber eroberte sich durch ihre bestechenden Eigenschaften das Herz Corneliens und deren Tochter, und war, wenn nicht vollkommen glücklich, doch gewiß so zufrieden im Besitz der Freundschaft dieser beiden Wesen, wie nur irgendjemand es sein kann.
Daß über Clotildens Vergangenheit ein undurchdringlicher Schleier lag, wußte man weniger als man es ahnte. Der Baron brachte sie als seine angetraute Gemahlin aus dem Süden Deutschlands auf seine Besitzungen, und da sie sich durch auffallende Schönheit und vielseitige Bildung auszeichnete, wozu sich noch die feinste Anmuth im Umgange gesellte, so verübelte von allen Bürgerlichen, welche den Baron kannte, diesem es keiner, daß er die Hand einer so liebenswürdigen und gebildeten bürgerlichen Dame einem adelsstolzen, kalten, vielleicht gar zank- und herrschsüchtigen Fräulein ohne Vermögen vorgezogen hatte. Erst mit der Ankunft Adolar’s auf Kaltenstein bildeten sich allerhand Gerüchte, die einen leisen Schatten auf Clotildens Vergangenheit warfen. Es gab auf den Besitzungen des Barons auch nicht einen Menschen, der den jungen Adolar nicht für den Sohn der Baronin von Kaltenstein hielt. Auszusprechen freilich wagte eine so schwer wiegende Behauptung niemand.
Dem Bedienten war die Bestürzung seines Herrn beim Anblick des herabgekommen aussehenden Lieutenants, dessen Name und Charakter erst später allen Bewohnern Kaltensteins bekannt wurde, aufgefallen. Es ließ sich gar nicht bezweifeln, daß zwischen diesem zudringlich auftretenden Manne und dem Baron Beziehungen ganz eigener Art bestehen mußten, und diese Annahme genügte, um dem Fremden scharf aufzupassen.
Die schweren Regenwolken zerstreuten sich, als Lieutenant Geldern nach anderthalbstündigem Zwiegespräch mit dem Baron Schloß Kaltenstein wieder verließ. Der Bediente, welcher ihn angemeldet hatte, folgte ihm unbemerkt auf dem Fuße und sah, daß er nach dem tiefer gelegenen Dorfe ging, hier in ein ganz gewöhnliches Wirthshaus trat, wo fast nur Fuhrleute verkehrten, und nach kurzem Verweilen dasselbe wieder mit einem jungen Mädchen am Arme verließ. Beide sprachen lebhaft miteinander, schlugen einen nach dem Walde führenden Fußsteig ein und verfolgten diesen bis an den Waldsaum. Dann erst kehrten sie um und verfügten sich abermals nach dem Schlosse. Der Bediente kam jedoch noch vor dem wunderlichen Paare daselbst an und versäumte nicht, die gemachte Entdeckung sogleich all seinen Kameraden mitzutheilen.
Sandomir Geldern wußte sehr wohl den Aufenthalt seiner Tochter. Zerline war kein Mädchen gewöhnlichen Schlags. Sehr jung, recht hübsch und mit schätzenswerthen Naturanlagen begabt, hatte das stets vernachlässigte Kind sich allerdings selbst erzogen. Sie war fast wild aufgewachsen, hatte nie regelmäßig eine Schule besucht, infolge eines sehr entwickelten Fassungsvermögens sich aber doch so viele oberflächliche Kenntnisse angeeignet, daß sie ohne besondere Mühe sich überall forthelfen konnte. Eine Eigenschaft nur fehlte Zerline ganz, weil sie ihr eben von Jugend auf verloren gegangen oder durch die unverantwortliche Vernachlässigung ihrer Erziehung gleichsam gestohlen worden war: sie besaß keine Ahnung von jener feinen Zartheit, die das Weib wie eine Glorie umgibt und es frechen, frivolen Angriffen unzugänglich macht. Dieser ungeheuere Mangel verwirrte in Zerline’s Geist alle Begriffe und ließ sie kaum zwischen Recht und Unrecht, viel weniger zwischen Sitte und Unsitte unterscheiden. Trotzdem aber war das eben erst siebzehnjährige Mädchen weder schlecht noch abstoßend. Die Ursprünglichkeit Zerline’s, so lange sie in der Unverdorbenheit ihres Herzens wurzelte, konnte sogar für Männer gefährlich werden.
Zerline trug einen faltenreichen Ueberwurf von dunkelm feinen Tuch, wie sie bei Frauen und Mädchen in Neuspanien beliebt sind. Obwohl dies in Europa und namentlich in Deutschland höchst selten vorkommende Kleidungsstück Zerline nicht paßte, sah sie doch so besonders darin aus, daß sie jedem, der ihr begegnete, sogleich auffallen mußte.
Zerline war auf eine originelle Weise in Besitz dieses Poncho gekommen. Ihr Vater hatte denselben einer Dame aus Mexico im Hazardspiel abgewonnen, als diese all ihr Geld bereits verloren hatte und doch noch nicht vom Spiele ablassen wollte. Als der Poncho Eigenthum Geldern’s geworden war, bekleidete die unglückliche Spielerin Zerlinen mit eigener Hand damit, und seitdem war er das Lieblingskleidungsstück der Tochter des gewesenen Lieutenants Sandomir Geldern.
»Du hättest mir doch folgen und mich gleich auf das Schloß mitnehmen sollen,« sagte Zerline, ihr fein geschnittenes, blasses Gesicht dem Vater zuwendend, der seiner Tochter mit lächelndem Munde eine Mittheilung gemacht hatte. »Mir würde der Onkel Baron nicht widerstanden haben. Jetzt haben wir nur etwas, nicht alles gewonnen. Bedenke, Papa, dreihundert Thaler! ... Was läßt sich damit anfangen! Das Vierfache wenigstens mußtest du verlangen!«
»Du hast gut reden, Schätzchen,« erwiderte Geldern, »kenntest du Kaltenstein wie ich, so würdest du ihn anders beurtheilen.«
»Er sollte nur auch mich kennen, Vater! Ich bin nicht feig, du weißt es, und mit leeren Drohungen halte ich mich nicht lange auf.«
Zerline’s dunkelbraune Augen glänzten unheimlich bei diesen Worten, und Geldern fühlte an dem sich verhärtenden Arme der Tochter, der in dem seinigen lag, daß das entschlossene Kind unwillig die Faust ballte.
»Eine so hohe Forderung würde den Baron wüthend gemacht haben,« sagte er. »Man muß stets an dem Grundsatze festhalten, daß etwas besser ist als nichts, ein Sperling in der Hand sicherer als zehn auf dem Dache. Die erschwatzten dreihundert Thaler helfen uns über die ersten paar Wochen fort; inzwischen hat man Zeit weiter gehende Plane zu machen und mehr zu erreichen.«
»Wenn du deinen Namen unter die alberne Schrift setzest, enterbst du dich selbst und verbannst dich für immer von Kaltenstein!«
»Ich habe aber noch nicht unterschrieben, Schätzchen.«
»Du sollst auch nicht!« sagte determinirt Zerline. »Die Tante soll alles rückgängig machen. Von ihr werde ich fordern, was du vom Onkel zu verlangen Anstand nahmst!«
»Laß das lieber bleiben, unbändiges Kind!« sagte Geldern. »Mit meiner Frau Schwester, die zwar eine ganz vortreffliche Person war und ohne Zweifel noch ist, konnte man niemals gut scherzen. Uebrigens dürfen und wollen wir nicht vergessen, daß nur ihre vortrefflichen Eigenschaften uns mit dem Baron von Kaltenstein in so enge Verbindung gebracht haben. Ich wollte, du hättest etwas mehr feine Schmiegsamkeit von deiner Tante geerbt, du würdest dann mit deinem starken Willen und deiner kecken Dreistigkeit, die sich um Formen nicht kümmert, viel bessere Geschäfte machen. Um in der Welt fortzukommen, Schätzchen, und es zu etwas zu dringen, muß man heucheln und schmeicheln, lügen und prahlen, bitten und weinen, beten und fluchen können, je nachdem es die Umstände erheischen!«
Zerline achtete kaum auf diese Lehren ihres Vaters. Sie machte ein sehr entschlossenes Gesicht, hüllte sich dichter in den bis fast auf die Knöchel herabreichenden Poncho, um sich gegen den scharf vom Gebirge hereinwehenden Wind zu schützen, und fragte den Vater, ob er Adolar gesehen habe.
»Schäfchen,« versetzte dieser, »in meinem Geschäftseifer habe ich an den Jungen nicht gedacht.«
»Das ist sehr unrecht von dir, Väterchen,« sprach Zerline. »Auf ihn setze ich gerade die meiste Hoffnung. Er ist die Hauptperson in dem Lustspiele, dessen erster Act heute beginnen soll.«
»Nur verrechne dich nicht, Kind!« warnte Geldern. »Auch der beste Plan mislingt, wenn eine Karte nicht einschlägt.«
»Meiner wird gelingen, Väterchen! Ich will, daß Adolar sich in mich verlieben soll!«
Geldern blieb stehen und brach in helles Lachen aus.
»Du bist aber wirklich ganz göttlich!« sprach er dann. »Wenn es dir glückt, habe ich nichts dagegen, allein –«
»Welche Bedenken quälen dich?«
»Wenn nun Adolar nichts von dir wissen möchte?«
»Wenn ich es will, muß er sich schon ergeben!«
»Du bist aber ganz und gar nicht liebenswürdig, Schätzchen!«
»Das hast du mir schon so oft gesagt, daß ich genöthigt sein würde, es zu glauben, wärst du nicht mein Vater. Hast du aber dennoch recht, so will ich Liebenswürdigkeit lernen.«
»Das ist ein schweres Studium, das nicht jeder begreift.«
»Die Tante wird mir Unterricht darin ertheilen.«
»Die Tante! ... Ach ja, sie könnte wohl, aber es gehört nur sehr viel Zeit dazu, und morgen geleitet man uns schon wieder vor das Thor des Schlosses!«
»An dein unbesonnenes Abkommen kehre ich mich nicht,« sagte Zerline. »Willst du es halten, so thu’ es. Du hast dann eine Veranlassung mehr, in der Nähe des Schlosses Kaltenstein zu bleiben. Ich werde mich der Tante, obwohl ich sie noch gar nicht kenne, unentbehrlich zu machen wissen.«
»Mit deinem Eigensinn, deinem Eisenköpfchen? Unter jungen Studenten möchtest du dich wohl in Respect zu setzen verstehen, meiner Frau Schwester gegenüber aber, die ebenfalls weiß, was das Wort Herrschaft bedeutet, ist das eine Aufgabe, welcher du nicht gewachsen bist!«
»Dann werde ich zum ersten male deine gelehrige Schülerin sein,« erwiderte Zerline. »Oder meinst du, Väterchen, ich könne das nicht, weil ich bis jetzt immer nur meinem Willen nachlebte? Gerade weil ich soviel Eigenwillen besitze, kann ich ihn auch mir selbst unterordnen. Es ist ein Hazardspiel wie jedes andere, bei welchem nur die Ausdauer den höchsten Gewinn einstreicht. Hast du das ganz vergessen, alter Praktikus?«
Zerline blickte ihren Vater jetzt schelmisch und liebreich zugleich an, und in ihren großen klaren Augen lag ein bestechender Zauber. Geldern blickte lange unverwandt in diese dunkeln, unergründeten Seelenbrunnen, und die Hoffnung, es könne doch wohl möglich sein, daß sein von Natur so männlich geartetes Kind einem Manne Liebe einzuflößen vermöge, umschmeichelte sein Herz. Er drückte sie wärmer an sich und sagte, dem Schlosse rascher zuschreitend:
»Ich will dir nicht hinderlich sein, Schätzchen. Versuche dein Heil, und hast du Glück, so setze ich mich gern mit dir zur Ruhe. Ein Leben, wie wir es diese Jahren her führten, hat bei allem Reiz und aller Abwechselung auch seine großen Schattenseiten, namentlich dann, wenn man nicht mehr rüstig ist, und nicht jedem Begegnenden gern in die Augen sieht.«
Im Schlosse warteten schon geraume Zeit alle Bedienstete auf die Ankunft der zu so vielen Vermuthungen Anlaß gehenden Fremden. Zerline gefiel allgemein, nicht blos durch ihr unleugbar interessantes feines Gesicht, sondern auch ihrer seltsamen Tracht wegen, die einen so eigenthümlich theatralischen Anstrich hatte. Ueber Geldern dagegen schüttelten alle den Kopf und das Urtheil über ihn lautete in jeder Beziehung ungünstig. Wenn dieser Mann – so nahmen die im Dienste des Barons Stehenden an – kein gefährliches Subject war, vor dem jeder auf der Hut sein müsse, konnte nur entweder langjähriges Unglück oder ein fortgesetztes abenteuerndes Leben ihm diese schlotterige und dabei doch auch brüsk herausfordernde Haltung beigebracht haben. Als Gast des Barons durfte seine Gedanken natürlich keiner über den auffallenden Mann aussprechen, alle aber sagten sich, daß der Besitzer von Kaltenstein, ohne Verpflichtungen gegen denselben zu haben, mit einem so verlottert aussehenden Menschen gewiß nie Worte gewechselt haben würde.
Inzwischen war Clotilde von der Ankunft ihres Bruders durch ein Billet des Barons benachrichtigt worden. Diese unangenehme Kunde persönlich seiner Frau zu überbringen, nahm der Edelmann aus doppeltem Grunde Anstand. Er wollte nämlich nicht Zeuge der Entrüstung sein, in welche diese Nachricht Clotilde, wie er glaubte, versetzen würde, und noch weniger fühlte er sich in der Stimmung, bei dieser Gelegenheit etwa fallende Aeußerungen ohne alle Widerrede anhören zu können. Beides ließ sich mittels einer schriftlichen Mittheilung umgehen. Der Baron beurtheilte den Charakter seiner Gemahlin ganz richtig und wußte, daß, hatte sie nur den ersten Eindruck der ärgerlichen Nachricht überwunden, sie Gewalt genug über sich besaß, um den Vorfall objektiv zu betrachten und leidenschaftslos ein Gespräch darüber anzuknüpfen.
Es verging fast eine Viertelstunde, ehe Clotilde ihrem Gemahl durch das Kammermädchen anzeigen ließ, sie sei jetzt bereit, den Herrn Baron zu empfangen. Dieser folgte unverweilt der erhaltenen Einladung. Er traf Clotilde in höchst eleganter Morgentoilette auf der Chaiselongue ruhend. Sie sah sehr gut, fast jugendlich aus. Namentlich konnte ihre blühende Gesichtsfarbe, die einen rosigen Anhauch von duftigster Zartheit besaß, sie gern um zehn Jahre jünger erscheinen lassen. Diese Jugendfrische war jedoch, wie vieles andere bei Clotilde, erkünstelt. Sie rührte von geschickt aufgelegter Schminke her.
»Ist der unselige Mensch wirklich zu dir gedrungen, Karl?« redete die Baronin ihrem Gatten mit weinerlicher Stimme an. »Das ist ja entsetzlich!«
»Unangenehm ist es gewiß, mein Kind,« versetzte der Baron, »indeß lange – das verspreche ich dir – lange soll er uns nicht lästig fallen.«
»Und seine Bastardtochter begleitet ihn?«
»Weil er nicht so glücklich war, sich mit deren Mutter verheirathen zu können,« sagte der Baron, einen sehr scharfen Blick auf Clotilde werfend. »Ihm spielte der Zufall einen bösen Streich, andere hatten mehr Glück.«
Clotilde schloß ihre langbewimperten Lider, als blende sie das Licht, und während sie noch ihre alabasterweiße Hand darüberlegte, fuhr sie seufzend fort:
»Ich habe mich entschlossen, freundlich zu sein mit den ... Menschen, um nicht noch mehr Emotionen zu haben ... Es stürmt gegenwärtig gar zu viel auf mich ein ... Das Unglück mit Frei und dessen Tochter hat mich zu sehr erschüttert! ... Ist noch keine Nachricht über die Verschwundene eingelaufen?«
»Bis jetzt hörte ich nichts von Hildegarde,« erwiderte der Baron. »Gewiß aber entdeckt man bald ihren Versteck, und dann wird der Stiftssyndikus ein ernstes Wort mit ihr reden.«
Clotilde ließ ihre Hand sinken und richtete sich schnell auf.
»Gerade dieser Mann und vielleicht mehr noch der Domdechant, sind schuld an dem beklagenswerthen
Schritte des armen, verwaisten Kindes!« rief sie mit Heftigkeit. »Hätte man es mir anvertraut, wie die gute Cornelie es wünschte, Hildegarde hätte nie daran gedacht, durch eine so unüberlegte Handlung sich selbst so furchtbar zu compromittiren und ihren Ruf zu gefährden ... O Gott, o Gott! ... Und ihr Vater! ... Mir ist’s, als quälten mich wilde Träume, wenn ich daran denke! ... Andreas Frei eines Todtschlags angeklagt! ... Es ist zu fürchterlich! ...«
»Die Schuld des Försters am Tode des verrufenen Diebes ist noch nicht erwiesen,« versetzte Baron von Kaltenstein. »Was mich persönlich betrifft, so glaube ich nicht daran, weil ich eine solche That für ganz unmöglich halte. Der unglückliche Schuß ward gewiß von irgendeinem andern abgefeuert, und wer mag wissen, ob er nicht auch einem andern galt!«
»Welch schreckliche Annahmen, Karl! ... Leben wir denn mitten unter Banditen?«
»Die Untersuchung wird hoffentlich Licht über diese Angelegenheit verbreiten,« sagte der Baron ausweichend. »Mich schmerzt es nur, daß der arme Frei neben dem schweren Kummer, den ihm die unbesonnene Flucht der verzogenen Tochter macht, noch seiner Freiheit so lange beraubt bleibt, bis sich Beweise finden, die seine Unschuld an den Tag bringen. Ach, und das kann bei dem heimlichen Gerichtsverfahren, das wir leider noch immer besitzen, sehr, sehr lange dauern! Am Rhein würde es nicht halb so lange währen. Du erinnerst dich wohl noch ...«
»Ich bitte dich, Karl,« fiel Clotilde ein. »Nimm doch Rücksicht auf meine nervöse Aufregung! ... Wann erwartest du die ... die Menschen?«
»In jedem Augenblick. Bist du bereit, sie zu empfangen?«
»In deiner Gegenwart will ich es versuchen. Wie sieht
– seine Tochter aus?« »Noch sah ich sie nicht. Sandomir selbst hält sie, wie mir scheint, für ein ganz exquisites Geschöpf.« »Sehr wahrscheinlich; ist er doch selbst ebenfalls ein exquisiter Mensch.« »Dein Bruder, ma chère Clotilde! Es gab eine Zeit, wo du seine Talente zu würdigen verstandest.« Clotilde erbleichte bei diesen Worten, daß sie das Ansehen einer geschminkten Leiche erhielt und der Baron selbst über diese plötzliche Verwandlung erschrak. Wahrscheinlich wäre es zu höchst unerquicklichen, wo nicht gar heftigen Erörterungen gekommen, wenn nicht lautes Klopfen das tâte-à-tâte der beiden Gatten zur glücklichen Stunde unterbrochen hätte. Das Kammermädchen der Frau Baronin meldete die Ankunft eines Herrn und einer jungen Dame. »Sie sind es,« sagte Baron von Kaltenstein. »Bist du geneigt, beide zugleich zu empfangen, oder wünschest du erst den Bruder und sodann dessen Tochter zu sprechen?« Clotilde war schon wieder gefaßt.
»Beendige erst das Geschäft,« sprach sie, ein farbloses Lächeln erkünstelnd, »und hast du dich mit Sandomir abgefunden, dann führe mir die ... seltenen Gäste zu ... Auf eine Nacht, nicht wahr?«
»So habe ich es mit dem Herrn Lieutenant ausgemacht!«
Clotilde winkte nochmals lächelnd und legte sich, wie stark ermüdet, wieder zurück in die Chaiselongue.