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VOR UND AUF DER REISE.
»Endlich trifft man dich wieder einmal in deiner Behausung!« rief Fürst Bulabicki erfreut aus, als er, in Adolar’s Zimmer tretend, diesen emsig mit ordnen von Briefschaften beschäftigt fand. Neben dem Sofa stand ein offener Lederkoffer, den Ophelia von allen Seiten beschnüffelte. »Aber was ist denn mit dir vorgegangen?« fuhr der Sarmate fort, dem Freunde näher tretend. »Du hast dich in wenigen Tagen merkwürdig verändert! Bist du liebeskrank oder hat dich ein schweres Unglück heimgesucht?«
»Es steht mir wenigstens ein großes Unglück bevor,« erwiderte Adolar von Kaltenstein. »Vor Abend noch reise ich ab.«
»So plötzlich? Und wohin? Etwa zur Frau Mama?«
»Du kannst vortrefflich rathen.«
»Aber zu welchem Zwecke denn? Es ist mitten im Winter, alle Wege sind verschneit – da kann man doch wirklich nicht singen: Welches Glück gewährt das Reisen!«
»Mir bleibt keine Wahl, ich muß!«
»In Familienverhältnissen?«
»In eigenen hochwichtigen Angelegenheiten, um, ist es möglich, einem schon sehr groß gewachsenen Unglück die weitere Triebkraft abzuschneiden.«
»Würdest du mich für unbescheiden oder zudringlich halten, wenn ich dich um nähere Aufschlüsse bäte?«
»Ich würde schweigen, dir Lebewohl sagen und dann reisen.«
Bulabicki setzte sich und suchte in den Augen seines jungen Freundes die Veranlassung dieses ihm auffälligen Benehmens zu lesen. Adolar war ungewöhnlich ernst und offenbar angegriffen. Er mußte entweder geschwärmt oder gewaltige Gemüthserschütterungen erlebt haben.
»Wirst du bald wieder zurückkehren?« fragte er nach einer Weile, während Adolar auf den Boden niederkniete und mit Packen fortfuhr.
»Auch diese Frage kann ich nicht bestimmt beantworten,« versetzte er. »Es ist möglich, daß wir uns schon nach Verlauf weniger Wochen wiedersehen, ebenso wahrscheinlich aber kann es auch sein, daß wir uns für immer trennen müssen.«
»Wenn ich so melancholische Vermuthungen ausspräche, dürfte mehr Sinn darin liegen,« bemerkte Bulabicki. »Mich ruft das Kampfgeschrei meiner Brüder, sobald ich einen mir obliegenden Auftrag ausgeführt habe, du reisest in Frieden in ein friedliches Land.«
Adolar legte jetzt ein paar sehr schöne doppelläufige Pistolen auf den Tisch und schloß den Secretär.
»Wer sagt dir denn, daß es in mir, und da, wohin mich die Pflicht ruft, so friedlich aussieht?« sprach er mit erzwungenem Lächeln. »Und überdies – mich verfolgt ja das Unglück! ... Du bist ein Kind des Glücks wie du selbst zugibst, von hundert Kugeln, die treffen und tödten, wird dich mitten im Schlachtgetümmel sicherlich keine einzige auch nur streifen.«
Der polnische Fürst hatte die Pistolen ergriffen, betrachtete die ausgezeichneten Waffen mit Wohlgefallen, probirte deren Schlösser und sagte dann, den Freund wieder anblickend:
»Willst du mir zum Abschiede damit ein Geschenk machen? Ich würde sie hoch in Ehren halten. Sie sind in der besten Gewehrfabrik Lüttich’s verfertigt.«
»Ich habe die Dinger erst vor zwei Stunden gekauft,« erwiderte Adolar, »und bedauere wirklich, diesmal deinem Wunsche nicht entsprechen zu können. Wahrscheinlich bedarf ich ihrer selbst.«
»Willst du dich schlagen? Für die Pseudo-Plater etwa?«
Adolar verfärbte sich, doch ohne daß Bulabicki es bemerkte.
»Wie kommst du gerade auf die niedliche Maske?« sagte er scheinbar gleichgültig.
»Je nun, weil du ihr mit solcher Beharrlichkeit auf Schritt und Tritt folgtest! Es wäre ja möglich, daß du eine Bekannte später in ihr entdeckt hättest und mit einem andern Bewunderer ihretwegen in Streit gerathen wärest.«
»Für diesmal, Freund, bist du nicht glücklich im Rathen,« versetzte Adolar von Kaltenstein. »Diese Pistolen habe ich mir zugelegt, um mich daheim im Gebrauch derselben zu üben. Die Zeit dürfte mir oft lang werden, und da ist eine Zerstreuung, die uns fesselt, ja aufregt, ohne doch unsere Gedanken zu sehr einzugreifen, immer sehr wünschenswerth.«
»Ich bedauere, daß ich deinen Umgang so bald missen soll,« sprach Bulabicki, die Pistolen wieder auf den Tisch legend. »Gerade die nächsten Tage wollte ich in recht innigem Verkehr mit dir verleben, denn auch mich ruft die Pflicht, und noch dazu eine heilige Pflicht ab. Vorgestern schon habe ich Depeschen aus Warschau erhalten.«
»Die Sachen stehen schlecht, wie?« unterbrach ihn der junge Baron.
»Sie stehen nicht besonders, allein alle wahre Patrioten haben noch immer die besten Hoffnungen.«
» Lasciate ogni speranza!« rief Adolar mit einem Anflug dämonischer Wildheit. »Jeder Hoffende ist ein Narr! Darum werde ich von heute an den Ausspruch, welchen Goethe seinem philosophirenden Repräsentanten des Teufels in den Mund legt: Alles, was besteht, ist werth, daß es zu Grunde geht! zu meiner Devise machen.«
»So jung und schon so verzweifelt!« sagte Bulabicki, indem ein spöttisches Lächeln auf seine Lippen trat. »Nein, Freund, zu dieser Philosophie bekehrst du mich nicht. Ich besitze zum Glück etwas leichteres Blut und lasse mich von Stürmen weder niederwerfen noch knicken. In meiner Seele wird die Hoffnung, daß mein Vaterland dereinst doch wieder zu Macht und Ruhmesglanz erstehe, nicht die Augen schließen, sollte ich auch den Tag erleben, wo unsere Erbfeinde als Sieger einzögen über die Brücke von Praga in unsere brennende Hauptstadt! Aber handeln freilich, rasch und energisch handeln müssen wir, und eben deshalb bin ich mit einer besondern Mission betraut worden. Es gilt einen letzten Versuch.«
»Welchen, mein Freund?«
»Den Inhalt der mir übersendeten Depeschen kenne ich nicht, auch würde ich, wäre mir derselbe bekannt, nicht davon sprechen.«
»Du eilst nach Paris?«
»Zuvörderst nach Belgien, zum Grafen Serbillon. Kennst du diesen würdigen Mann? Er gehört zu den opfermuthigsten Freunden unsers edeln, verkannten und zertretenen Volks und ist mit meiner Familie durch seine Gemahlin verwandt.«
»Serbillon? Graf Serbillon?« wiederholte Adolar nachdenklich. »Ich erinnere mich nicht von diesem jedenfalls französischen Adelsgeschlechte jemals gehört zu haben. Aber das ist kein Beweis, daß die Grafen von Serbillon nicht ganz ausgezeichnete Menschen sein können. Ich ward in der Provinz erzogen und da gab es von Vornehmen nicht allzu viel Besuch, fremde Edelleute aber sprachen niemals bei uns ein.«
»Es ist mir angenehm, daß ich die persönliche Bekanntschaft dieses Mannes, der bei allen unsern Patrioten in hohen Ehren steht, machen soll,« versetzte Bulabicki. »Auch meine Muhme, die mir von Bekannten als eine außergewöhnliche Schönheit geschildert wurde, zu begrüßen, wird mich die trübe Gegenwart hoffentlich auf einige Zeit vergessen lassen. Die Frauen aus dem Hause Jagello zeichnen sich alle durch Geist und Schönheit aus.«
Der junge Kaltenstein schien wenig Sinn für diese Bemerkungen seines politischen Freundes zu haben. Er packte mit Eifer fort, bis das für ihn unangenehme Geschäft beendigt war, nahm dann eine Cigarre von dem Fürsten an, setzte sie in Brand und unterhielt sich noch einige Zeit mit diesem über verschiedene wichtige und unwichtige Gegenstände.
»Wie gern ginge ich mit dir nach Westen!« rief er aus, als Bulabicki aufzubrechen Miene machte. »Diese Reise ins Gebirge macht mir kein Vergnügen, aber ich darf sie nicht aufschieben, weil meine Zukunft, ja vielleicht das Schicksal meines ganzen Lebens daran hängt.«
»Wir könnten uns ja schreiben,« sagte der Fürst, »Wer zuerst Anlaß zu Mittheilungen findet, der greift auch zuerst zur Feder.«
»Wohl gesprochen!« versetzte Adolar. »Diesen Vorschlag nehme ich gern an, schon auch deshalb, weil ich mit Gewißheit erwarten darf, daß du mir zuerst Nachrichten von dir, von deinen Umgebungen, deinen Erlebnissen gibst. Deine schöne Muhme wird dich jedenfalls begeistern, der Graf dich in belehrende und anregende Gespräche verwickeln, und das fremde Land, die fremden Sitten werden dir vielfach Stoff zum Nachdenken geben. Halte nur auch Wort und bedenke, daß du einem tief Unglücklichen durch deine Mittheilungen einige heitere Stunden bereiten wirst!«
Bulabicki begriff zwar immer noch nicht die so plötzlich veränderte Stimmung seines Freundes, er durfte aber doch auch seine Frage von vorhin nicht wiederholen. Ohne also darauf zurückzukommen, besiegelten beide ihr Versprechen durch einen Handschlag und nahmen auf unbestimmte Zeit von einander Abschied.
Kaum wußte sich Adolar wieder allein, als er nochmals den Secretär öffnete und demselben einige vergilbte Papiere entnahm. Diese legte er vorsichtig in seine Brieftasche. Dann ergriff er die Pistolen, probirte die Kraft der Schlösser, holte Pulverhorn und Kugelbeutel, die ihm als Jagdliebhaber nicht fehlten, und lud sie mit Vorsicht. Die von ihm gewählten Kugeln gehörten zu jener eigen geformten Art, welche Baron von Kaltenstein vom Stiftssyndikus Liebner mitgenommen hatte. Es waren Freikugeln.
Der leichte Sinn des jungen Mannes, der bis vor kurzem ein sorgenloses Leben in Saus und Braus geführt hatte und sich nicht frei wußte von mancherlei Fehltritten stürmischer Jugend, war trübem Ernst gewichen. In seinen Gesichtszügen lag ein Ausdruck verheimlichter Angst, aus seinen großen, gewöhnlich von weicher, in Sinnlichkeit getauchter Schwärmerei umflorten Augen blitzte die Glut verzehrenden Zorns.
Bald auf- und nieder gehend, bald nachsinnend ins Sofa gelehnt, wartete Adolar die Dämmerung ab. Nun ließ sich ein Posthorn hören und der Erbe von Kaltenstein erhob sich. Vor seiner Wohnung hielt eine Extrapostchaise. Er rief dem Postillon zu, heraufzukommen, übergab ihm Koffer und Reisesack, warf seinen weitfaltigen Mantel mit rothem Futter um, steckte die Pistolen zu sich, rief Ophelia und folgte, nachdem er den Schlüssel der Wohnung abgeliefert, dem Postillon. Einige Minuten später rollte die Kalesche durch die Straßen der Vorstadt zu.
Hier hielt der Postillon vor der unscheinbaren Herberge an, in welcher Sandomir Geldern mit seiner Tochter Wohnung genommen hatte. Adolar stieg aus, um Onkel und Cousine abzuholen. Er fand beide reisefertig und in heiterster Stimmung – Zerline besonders scherzte und lachte ununterbrochen und gab eine wahrhaft kindische Freude darüber zu erkennen, daß sie ein zweites mal in Kaltenstein einziehen und Onkel und Tante wiedersehen sollte. Auch ihrem Vater schien diese neue Wendung der Dinge zu gefallen, denn er lächelte ununterbrochen und rauchte mit dem größten Behagen duftende Manillas. Seinem Neffen nöthigte er sogleich einen dieser aromatischen Glimmstengel auf, um damit, wie er sich ausdrückte, die Stechfliegen des hyperboräischen Winters zu verjagen, an die er nicht mehr gewöhnt zu sein vorgab.
Adolar bezeigte wenig Lust zur Unterhaltung. Er hüllte sich in seinen Mantel, drückte die Mütze tief ins Gesicht und schmauchte, in die Ecke des Wagens gelehnt, seine Cigarre. Geldern trug die Kosten der Unterhaltung, erzählte fortwährend und zog auch die Tochter wiederholt mit ins Gespräch. So vergingen einige Stunden ziemlich angenehm, während die Reisenden in der hellen kalten Winternacht mehrere Meilen auf gutem Wege zurücklegten.
Gegen Mitternacht kam man in Gegenden, wo bedeutend mehr Schnee lag. Die Pferde hatten schwer zu arbeiten und bald mußten deren statt zwei vier vorgelegt werden. Es ging langsamer, die Reisenden wurden müde und alle befiel, wenn auch nur für kurze Zeit, die Neigung zum Schlaf.
Zerline rückte so lange auf ihrem Platze hin und her, bis sie die ihr bequemste Stellung gefunden hatte. Dann drückte sie das feine Köpfchen in die Ecke und versank nach einiger Zeit in den gesundesten Schlummer. Nicht so gut wollte es Geldern und Adolar, welche auf dem Rücksitz des Wagens, um dem Mädchen mehr Raum zu geben, nebeneinander saßen, gelingen, eine wirklich erquickende Ruhe zu finden. Der eine nickte rechts, der andere links, jetzt vorwärts, dann zurück, und bei diesem Ringen mit Schlaf und Wachen gab es schon in der ersten Viertelstunde einige recht fatale Carambolagen beider gegen einander fallenden Köpfe, die man indeß in Betracht der Umstände als zu den kleinen Leiden des menschlichen Lebens gehörend, geduldig, wenn auch bisweilen unverständliche brummende Laute der Unzufriedenheit ausstoßend, ertrug. Einmal aber ward diese unfreiwillige Berührung der beiden Schläfer so heftig, daß Geldern, der seine Stirn gegen einen harten Gegenstand stieß, mit einem Schmerzensschrei erwachte und sich sofort völlig ermunterte. Die Stelle, welche der Stoß getroffen hatte, schwoll sogleich an, und indem er tastend den Gegenstand suchte, dem er diese schmerzhafte Ermunterung zu verdanken habe, gewahrte er, daß sich derselbe im Mantel seines Neffen befinden mußte.
» Parbleu!« rief Geldern, sich die Stirn reibend aus, »was trägst du denn für Werkzeuge bei dir? Hätte ich Unglück gehabt wie sonst, so würde ich mir ein Auge daran aus- oder den Nasenknorpel eingestoßen haben, und eins ist gerade so schlimm wie das andere. Es veranstaltet beides und kann dem bravsten Mann unter Umständen schlechten Leumund machen. Was für Instrumente führst du denn?«
Adolar bedauerte die nicht vorauszuberechnende Kopfbewegung des Oheims und erwiderte mit keineswegs sehr freundlich klingender Stimme.
»Es sind Pistolen, Herr Onkel, die ich im Mantel trage.«
»Pistolen? Doch nicht geladen?«
»Mit Pulver und Blei!«
»Welche Unvorsichtigkeit! Wir konnten das größte Malheur damit haben.«
»Nicht gut, Herr Onkel. Die Hähne an beiden Läufen stehen in Ruhe.«
»Also Doppelpistolen hast du zu dir gesteckt? Zu welchem Zwecke, wenn ich fragen darf? Wir leben in diesen hyperboräischen Gegenden doch nicht mehr unter den romantischen Schrecknissen straßenräuberischer Wegelagerer?«
Adolar schlug seinen Mantel zurück und zog eine der Pistolen hervor. Die stahlblauen, damascirten kurzen Läufe blitzten im Halbdämmer der hellen Winternacht. Das Auge des jungen Mannes glühte von Rachelust, als er sagte:
»In dem Falle, mein werther Herr Onkel, daß die Papiere, welche Sie mir zu zeigen und auszuhändigen die Güte hatten, nicht ganz echt sein sollten, werde ich mir die Ehre geben, mit Ihnen einen Gang auf Cavaliermanier zu machen. Da man sich nun auf eine Kugel nicht immer verlassen kann, so bin ich vorsichtig gewesen und habe mir doppelläufige Schußwaffen bester Qualität angeschafft. Sollten Sie aber nicht gewillt sein, einen so ernsten Handel, der meinerseits auch sehr ernst ausgefochten werden würde, mit mir einzugehen, so dürfte ich mich veranlaßt fühlen, mit Ihnen von ein und derselben unverdaulichen Speise zu kosten, Ihnen jedoch aus Respectsrücksichten das Vorkosten überlassen.«
Geldern zwang sich zu lachen, obwohl die Stimme seines tödlich beleidigten Neffen kalt und schneidend klang und nur zu deutlich den festen Willen verrieth, der alle seine Schritte leitete.
»Du bist ein verdammt ernster Bursche,« versetzte er, »den man, wie ich sehe, nach der Schnur behandeln muß. Aber im ganzen gefällst du mir und sind unsere beiderseitigen Angelegenheiten erst geordnet, so werden wir uns gewiß ganz vortrefflich vertragen. Vorläufig jedoch sei so gut und stecke deine vier Angströhren beiseite! Hier in dieser Kalesche kann man sich auf anständige Weise unmöglich schießen, höchstens ist hier Platz genug, um sich mit Uebergehung aller Complimente langsam zu erwürgen. Letzteres wäre unzweckmäßig und ignobel dazu, also fort in die Tasche des Wagenschlags mit deiner edelmännischen ultima ratio! Wenn Zerline aufwacht, und sie sieht dies Spielzeug, womit verletzte Männerehre gefahrvoll tändelt, gibt’s unausbleiblich ein Unglück. Das Kind würde so lange Zeter schreien, bis sich die Polizei oder sonst eine Gewalt, der ich mich nicht gern unterwerfe, ins Mittel legte, und, wenn nicht sofort unsere Personen, so doch ganz sicher den Gegenstand ihres Entsetzens in sichern Gewährsam nehmen.«
Adolar willfahrte dem Wunsche des Oheims, und die weitere Reise verlief am nächsten Tage ohne fernere Störung. Da es gegen Abend sehr windig ward und die Wege durch den massenhaft aufgehäuften Schnee immer unfahrbarer sich gestalteten, zogen die Reisenden vor, in einem Landgasthofe, der in waldiger Thalsenkung lag, zu übernachten. Das Quartier ließ sehr viel zu wünschen übrig. Nur Zerline erhielt ein Kämmerchen, Onkel und Neffe mußten sich mit einer bescheidenen Streu, die auf umgelegten Schemeln zurecht gemacht ward, begnügen.
Schon früh beim Erwachen erklärte der Inhaber dieses landesüblichen Gebirgsgasthofes, daß eine weitere Reise mit großen Schwierigkeiten verbunden sein würde. Diese Schwierigkeiten wurden dadurch noch erhöht, daß man genöthigt war, die Hauptstraße zu verlassen, um auf schlechten Communicationswegen weiter in die immer bergiger werdende Landschaft vorzudringen. Mittels der bisher benutzten Wagen ließ sich dies gar nicht bewerkstelligen. Man mußte daher zu einem Schlitten seine Zuflucht nehmen, der denn auch bald in Stand gesetzt und hinreichend mit wärmenden Strohbündeln ausgefüllt ward, welche den Reisenden zugleich statt der mangelnden Sitzkissen dienten.
Zerline amusirte sich bei diesen Vorbereitungen, die ihr neu waren. Sie bestieg lachend das etwas schwerfällig aussehende Gefährt, fand es aber, bis zum halben Leibe in Stroh versinkend, ganz behaglich. Um von dem sehr scharfen Nordwinde nicht zu leiden, umwand sie den Kopf turbanartig mit einem bunten Shawl, steckte die bepelzhandschuhten feinen Händchen in den übereinander geschlagenen Poncho, und sah nun mit Blicken voll Schelmerei den Dingen entgegen, die da kommen sollten.
In den ersten Vormittagsstunden fiel bei fortwährend scharfem und immer mehr sich steigerndem Winde wenig Schnee, dennoch hatten die Pferde schwer zu arbeiten, da überall hohe Schneewehen quer über die wenig befahrene Straße liefen. Je mehr sich aber die Reisenden dem höhern Gebirge näherten, desto stärker wurden Wind und Schneefall, und als die Dämmerung einbrach, hüllte ein gewaltiger Schneesturm Himmel und Erde dergestalt in graue Nacht, daß man kaum ein paar Schritte weit sehen konnte.
Weg und Steg, so wie jedes Zeichen, das die Richtung der Fahrstraße kenntlich machte, waren verschwunden. Der Postillon, ein Sohn des Landes und genau bekannt mit der Gegend und deren vielfach sich kreuzenden Richtwegen, fuhr nur Schritt, ermunterte ab und an die schnaubenden Pferde durch einen Zuruf, und stieg von Zeit zu Zeit auch ab, um einige Schritte seitwärts oder vorauszugehen und hier sich zu vergewissern, daß er nicht vom Wege abgewichen sei.
Nun bog man in den Wald ein, der in einer Ausdehnung von kaum einer Stunde die nächste Umgebung Kaltensteins begrenzte. Es war nicht eben schwierig, den rechten Weg in diesem Walde zu finden, jetzt aber, wo man weder die Baumstämme deutlich unterscheiden, noch wegen der Schneewirbel die Richtung genau festhalten konnte, die man einschlagen mußte, um Schloß Kaltenstein auf geradem Wege zu erreichen, war es eine schwierige Aufgabe, sich zurecht zu finden. Der Postillon gestand nach mehrmaligem Anhalten und darauf folgendem Abbiegen erst zur Linken, dann zur Rechten, daß er die Richtung verloren habe. Er hatte sich verirrt, und mehr noch die Sorge um die ihm anvertrauten Thiere als um die Reisenden, deren Schicksal doch auch von seiner Ortskenntniß abhing, erfüllten den armen Menschen mit Angst und Entsetzen.
Adolar, ebenfalls mit den Umgebungen Kaltensteins vertraut und selbst in den weitläufigen Forsten, die sich nach der Grenze hin verdichteten, wohl bewandert, hatte schon wiederholt die Frage aufgeworfen.
»Sind wir auch recht, Schwager?«
Die Antwort desselben: »Machen Sie mich nicht irre, Herr,« gab leider zu erkennen, daß das Gefürchtete bereits eingetreten war. Indeß sprach dies noch keiner mit klaren Worten aus. Der Postillon ließ die Zügel lose hängen, um dem Instinct der Thiere die Führung zu überlassen. Vielleicht witterten diese den rechten Weg und fanden ihn leichter wieder als ihr völlig verwirrt gewordener Leiter.
In solcher Ungewißheit verging wohl eine Stunde. Der Wald ward immer dichter, das Schneegestöber undurchdringlich, der Sturm wühlte in den hochwipfeligen, breitästigen Tannen, als wolle er sie zersplittern. Da stürzten gleichzeitig beide Pferde bis an den Hals in eine Vertiefung, der Schlitten schlug um und Wolken von Schnee fegten gleich einer weißlichen Rauchsäule über die Versinkenden fort.
Zerline schrie, Geldern schimpfte, mit beiden Händen sich gegen den rollenden Schnee, der ihn immer von neuem wieder überschüttete, vertheidigend. Adolar machte seinem Aerger durch lästerliches Fluchen Luft, sein Hund bellte bald, bald stieß er ein ängstliches Geheul aus. Der Postillon begann, um die Pferde beschäftigt, in seiner gänzlichen Rathlosigkeit wie ein Kind zu weinen, und ließ es zuerst seine Sorge sein, die armen keuchenden Thiere aus ihrer mislichen Lage zu befreien.
Inzwischen hatten sich die Reisenden auch wieder gesammelt und fühlten festen Boden unter sich.
»Zum Teufel, wo hast du uns hingelootst!« fuhr Adolar den völlig bestürzten Postillon an. »Was soll denn nun geschehen? Hier sitzen bleiben können wir doch unmöglich bei diesem Schneesturme! Wir sind spurlos verweht, ehe eine halbe Stunde vergeht!«
»Ach Herr,« jammerte verstört der Postillon, »was aus uns wird, daran wollen wir gar nicht weiter denken, wenn ich nur meine armen Pferde erst wieder gesund im Stalle stehen.«
»Hast recht, dummer Teufel!« fiel Geldern ein, den diese Aeußerung des sich unglücklich Fühlenden ergötzte. »Was gehen dich die Menschen an! Solch unnützes Gelichter gibt es genug, aber gute zuverlässige Gäule, von denen das Stück gewiß an die dreißig Thaler kostet, die sind nicht so leicht wieder anzuschaffen.«
»Nimm dein Horn, Tölpel, und blase!« schrie Adolar dem Unbeholfenen zu. »Ewig weit von menschlichen Wohnungen können wir nicht sein; ich hörte soeben Hundegebell.«
In der That trug der fliegende Sturm abgerissene Laute, die man für Hundegebell halten konnte, in kurzen Zwischenräumen durch den Wald.
»Ja, ja, Hunde sind ’s freilich,« versetzte der Postillon, bald schluchzend, bald ein paar Gebetzeilen, wie sie ihm gerade einfielen, sprechend, mochten sie nun Sinn haben oder nicht, »es sind aber nicht kaltensteinische Hunde. Die kenne ich alle an der Stimme wie meine Herrschaften, bei denen ich gedient habe! ... O Gott, o Gott! ...
Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast! ... «
»Eure schöne Bescherung!« sprach Geldern, hell auflachend. »Eine recht heiße Bowle Punsch wär’ mir lieber! ... Donnerwetter! Ich glaube in meinem Magen steht das hunderttheilige Thermometer auf 5 Grad unter Null. Der Umsturz dieses Musterschlittens hat mir eine ganze Lavine in den Leib geschüttet.«
Adolar entriß jetzt dem völlig unzurechnungsfähigen Postillon das Horn und fing an, demselben Töne zu entlocken, die Todte zu erwecken im Stande gewesen wären. Er erprobte seine Fertigkeit als Virtuose auf dem Posthorn in kurzen Pausen noch einigemal, aber nicht einmal das Echo gab Antwort auf diese der Hölle entstammten melodielosen Weherufe. Der Sturm entführte sie auf seinen Fittichen, und Wogen von Schnee stäubten und sprühten um die mächtigen Stämme der alten, ächzenden Tannen.
Zerline war zähneklappernd ohne Aufforderung wieder in den aufgerichteten Schlitten gestiegen, der Postillon legte die Pferde wieder vor, und Geldern packte sich auch aufs neue in das mit Schnee reichlich durchknetete Stroh. Wüthend über diese Fatalität, deren Ende gar nicht abzusehen war, hieb Adolar auf die Pferde, sprang, als sie anzogen und den Schlitten in gewaltigen Sätzen mit sich fortrissen, auf das Schleppholz, und jagte auf gut Glück zwischen den Stämmen hindurch, daß die Aeste sein Haupt streiften. Der Postillon lief rufend und heulend dem Schlitten nach, um nicht allein in der wüsten Sturmnacht im schauerlichen Walde zu bleiben.
Plötzlich ward eine weißliche Fläche zwischen den Bäumen sichtbar. Dort rechts unter dem gespaltenen Fichtenstamme erhob sich ein Muttergottesbild auf sandsteinernem Sockel. Es war der gekreuzigte Christus, dem zur Seite Maria kniete, eine Schüssel haltend, um den Blutstrahl aufzufangen, der aus der vom Speer zerrissenen Seite des Gottessohnes quillt, und den hier die Hand des naiven Künstlers in Form eines rothgemalten Bogens aus Eisenblech dargestellt hatte, eins jener zahlreichen Bilder dieser Art, wie man sie auf allen Wegen und Stegen an den Grenzen Böhmens und Schlesiens antrifft.
»Sieh’ da,« rief Adolar beruhigt und wieder Muth fassend aus, »das ist ja der Bildstock im Klosterforst! Fünf Minuten weiter hinauf steht das schiefe Kreuz zum Andenken an den dort vorgefallenen Mord ... Wir sind Kaltenstein umfahren. Jetzt werd’ ich die Zügel festhalten und – ich stehe dafür – in einer halben Stunde sehen wir die Lichter von Kaltenstein schimmern.«
Sandomir Geldern betrachtete sich das Muttergottesbild sehr genau, und auch Zerline richtete ihr Auge darauf.
»Die Stelle kommt mir bekannt vor,« sprach sie zum Vater gebeugt. »War’s nicht dort – links – wo der Schuß aufblitzte?«
Geldern nickte beistimmend, ohne zu sprechen, er gab sogar Zerline durch Zeichen zu verstehen, daß er es lieber sähe, wenn sie schweigen wolle.
Adolar hatte das Geflüster nicht beachtet. Er war froh, den rechten Weg wiedergefunden zu haben. Ohne auf das Flehen des geängstigten Postillons zu achten, trieb er fort und fort die schweißtriefenden Thiere mit scharfen Peitschenhieben zu beschleunigterm Schritte an, bis der Wald sich lichtete und auf der freien Hochebene später trübe Dunstscheine in der dicken Schneeluft das Lichtgeflimmer menschlicher Wohnungen verkündigten. Es waren die Lichter auf Schloß Kaltenstein, das in einer Entfernung von kaum einer halben Stunde gerade vor den ermatteten Reisenden lag.