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SCHRECKWIRKUNGEN.
Auf Hildegardens Befinden schien die frische Luft sehr wohlthätig gewirkt zu haben. Die Gräfin fand sie blühend und heiter wieder, nur etwas aufgeregter als sonst kam ihr das Mädchen vor. Sie wechselte Blicke des Einverständnisses mit dem Abbé, der, was selten geschah, die ernste Miene des Priesters annahm, der im Begriff steht, der sündhaften Welt eine Strafpredigt zu halten.
Einige Tage vorher hatte Fürst Bulabicki an seinen Freund Adolar geschrieben. Er theilte diesem mit, was er seit ihrer Trennung erlebt, welche interessante Entdeckung er gemacht. Von Hildegarde wußte der reiche Sarmate nur Lobendes zu sagen, aber er hütete sich wohl, begeistert von der Tochter des Försters zu sprechen, um den Freund nicht eifersüchtig zu machen. Auch von den übrigen Bewohnern des Schlosses Hammerburg war in dem Schreiben Bulabicki’s die Rede. Er schilderte und charakterisirte sie alle. Am längsten verweilte er bei dem Abbé. In die Charakteristik dieses Mannes ließ er die Worte einfließen: »Abbé Kasimir ist entweder ein sehr zurückhaltender, geheimnißund ränkevoller Priester oder ein tief unglücklicher Mann. In seiner Nähe fühle ich mich immer gebunden. Sein Blick, der weder kalt noch heiß, aber scharf ist wie ein geschliffener Dolch, schmerzt mich. Andern, dünkt mich, geht es ebenso, wenigstens habe ich die Bemerkung gemacht, daß Fräulein Frei fast immer leise zusammenzuckt, wenn das Auge des Abbé sie mit seinem langen schattenhaften Blicke trifft, der nur innerlich glüht, ohne wohlthätig wärmend zu leuchten. Abbé Kasimir ist mein Landsmann und heißt eigentlich mit seinem ganzen Namen Kasimir von Ludomirsky. Er ist der letzte verlorene Sproß dieses alten Wojwodengeschlechtes, das eine sonderbare Geschichte hat. Ich vermuthe, etwas von den Geheimnissen dieser Geschichte verbirgt die Hammerburg. Man will es aber aus Gründen, dir mir unbekannt sind, entweder noch nicht wissen lassen oder man sieht überhaupt noch nicht ganz klar. Ermittelt aber wird die Sache gewiß, denn deine jugendliche Flamme aus dem Forsthause hat sich in die Geheimnißwelt des Abbé einzuschleichen verstanden.
»Am Schlusse seines Schreibens forderte der Fürst den Erben von Kaltenstein auf, sich nicht gar zu lange bei der Frau Mama zu verweilen, mit dem Herrn Papa sich auf guten Fuß zu setzen, aller Sorgen sich zu entschlagen und den betrübten Förster wegen des Verbleibens seines einzigen Kindes zu beruhigen.
»Ich hoffe,« – lautete das Ende des Briefes –»daß ich dich, sobald der Schnee schmilzt, in Begleitung des Försters auf Hammerburg eintreffen sehe. Bis dahin bin ich wohl nach allen Seiten hin klüger geworden. Uebrigens beneide ich dich um das schwarzbraune Waldkätzchen mit den brillantenen Nixenaugen. Schade, daß diese schlanke Zauberin keine Polin ist! Ich würde sonst ein ehrliches Abkommen mit dir treffen und mich auf einen Wettkampf einlassen, dessen Preis die Liebe Hildegardens wäre!«
Einige Tage nach der erwähnten Schlittenpartie blieb sich das Benehmen Hildegardens gleich. Diana von Serbillon fand sie aufgeweckter und unbefangener als früher. Namentlich bemerkte die Gräfin, daß ihre Pflegebefohlene dem Fürsten gegenüber ihre früher zuweilen etwas störende Zurückhaltung völlig abgelegt hatte. Sie sprach mit dem vornehmen Polen wie mit ihresgleichen; sie war harmlos und ging bereitwillig, ja mit offenbarem Muthwillen auf jeden Scherz des Fürsten ein, ohne doch diesen geradezu herauszufordern.
Aus diesem allen zog Diana von Serbillon den Schluß, es müsse zwischen beiden jungen Leuten zu irgendeiner Erklärung gekommen sein. Ohne ein gegenseitiges Aussprechen hielt es die Gräfin nicht für möglich, daß ein junges befangenes Mädchen sich andern so zufrieden darstellen könne. Nur vermochte sie nicht zu ermitteln, ob der Fürst das unerfahrene Kind zu irgendeiner bestimmten Zusage habe bewegen können oder ob er sich mit der bloßen Freundschaft Hildegardens zu begnügen gewillt sei.
Gern hätte sich die Gräfin mit ihrer Schutzbefohlenen offen ausgesprochen, um das Herz des jungen Mädchens zu ergründen und über ihre Neigung ins Klare zu kommen, es gab aber täglich neue Störungen, welche der Einleitung eines so delikaten Zwiegesprächs stets hinderlich waren. So mußte denn Diana auf günstigere Zeiten warten.
Eines Tages, als Hildegarde ihre gewöhnliche Unterrichtsstunde bei dem Abbé nahm, ward der Architekt Morwaldt und der Inspector am Ort dem Grafen gemeldet. Dieser empfing die von ihm eingeladenen Herren mit höflicher Zuvorkommenheit, und unterhielt sich ziemlich lange mit dem Inspector über die von seinen Pächtern theils schon im Gange befindlichen, theils noch im Entstehen begriffenen industriellen Anlagen. Joseph am Ort sagte viel Lobendes darüber.
»Den Riß zur Anlage der Spiegelschleiferei billige ich in allen ihren Theilen,« schloß er seine Bemerkungen, als der Graf die Frage an ihn richtete, ob Morwaldt ihm den Riß dazu vorgelegt habe.
»Ich möchte wohl ähnliche zweckmäßige Einrichtungen auch in unserer alten sogenannten Musterfabrik treffen, allein, – setzte er achselzuckend hin zu – »wenn man nicht völlig freie Hand und unbedingtes Dispositionsrecht besitzt, stößt man auf gar zu viele Schwierigkeiten. Nichts aber lähmt den Unternehmungsgeist mehr als Rücksichten!«
»Nehmen Sie meinen Vorschlag an, Herr am Ort,« versetzte der Graf. »Hier verdrängen Sie niemand und sind auch niemand im Wege, und daß ich wünsche, die Unternehmungen meiner Pächter mögen prosperiren, habe ich Ihnen ja schon bei unserer ersten Begegnung gesagt.«
»Dieses ehrenvolle Anerbieten, Herr Graf, das ich vollkommen zu würdigen weiß, würde ich gewiß nicht von der Hand weisen, wäre ich nicht an meine jetzige Stellung gebunden.«
»Contractlich?«
»Auch durch contractliche Verpflichtungen, doch würden diese sich lösen lassen, namentlich wenn ich mich zu einer Entschädigung bereit fände und einen tüchtigen Stellvertreter herbeischaffte.«
»Was kann Sie aber sonst noch binden?«
»Ein alter Mann, der mit sonderbarer Liebe an mir hängt,« sagte mit wehmüthigem Lächeln Herr am Ort. »Es ist vielleicht thöricht, daß ich diesen alten Ritter zu verlassen Anstand nehme, dennoch kann ich es nicht über mich gewinnen, den blinden Greis in dem alten Schlosse allein seinen Grillen, seinen wunderlichen Erinnerungen und seinen oft ins Kindische spielenden Phantasien zu überlassen. Er liebt mich wie einen Sohn und ich habe ihm feierlich geloben müssen, bei ihm auszuharren, bis seine verschollene Braut, auf deren Wiederkunft er wartet, ihn nachruft ins Jenseits, wo sie wohl schon vor einem halben Menschenalter angekommen sein wird.«
»Also ein kindischer Greis hält Sie fest in ... in ... «
»Bürgstein heißt der Ort, Herr Graf.«
»Und ein Ritter ist der wunderliche Kauz?«
»Ritter von der Dub, ein sehr altes berühmtes Geschlecht, das seinerzeit eine geschichtliche Rolle spielte.«
»Von der Dub!« wiederholte Graf von Serbillon. »Ganz recht, ich erinnere mich. Bis zum Dreißigjährigen Kriege ungefähr waren die Dub einflußreiche Männer in Böhmen. Aber was ist das für eine romantische Geschichte mit der verschollenen Braut? ... Kennen Sie dieselbe?«
»Der ehrwürdige Ritter hat mir allerdings mancherlei aus seiner Vergangenheit erzählt und auch wiederholt seiner Verlobten dabei gedacht. Selbst das Zimmer im Schlosse, das sie seiner Angabe nach bewohnt haben soll, habe ich gesehen, nur ist es ungewiß, ob nicht alles, was der unzurechnungsfähige Ritter vorbringt, Erfindungen seiner Phantasie sind. Ich gab nie etwas darauf, hörte immer nur mit halbem Ohre auf seine sentimentalen Vorträge, lasse mir diese aber geduldig gefallen.«
»Nun, mein werther Herr am Ort,« sagte der Graf, »Ihrem Versprechen will ich Sie nicht untreu machen. Der blinde alte Herr wird nicht Methusalem’s Alter erreichen. Schließt er eines Tags die Augen für immer, dann hoffe ich, denken Sie an mich. Jetzt lassen Sie uns nach dem Ahnensaale gehen, wo mein trefflicher Morwaldt große Veränderungen vornehmen soll.«
Auf dem Wege dahin mußten die Männer einen Corridor kreuzen, welcher den Ausgang zur Treppe nach der Wohnung des Abbé enthielt. Gerade als sie denselben erreichten, stieg Hildegarde, einen Quartband in der Hand, die letzten Stufen herab. Sie war so ganz in ihre Gedanken vertieft, daß sie der Entgegenkommenden schwerlich geachtet haben würde, hätte der Graf nicht ein paar laute Worte zu dem Inspector gesprochen. Diese Worte machten Hildegarde aufblicken. Ihr Auge traf den Inspector, und Todtenblässe überdeckte ihr Gesicht. Es war nicht möglich, den Eindruck zu verheimlichen, den Joseph am Ort auf das Mädchen machte. Auch dieser verrieth sich bei dem so unerwarteten Erblicken der von ihm Geretteten dem Grafen. Ohne recht zu wissen, was er that, trat er der Erschrockenem Zitternden entgegen und bot ihr den Arm.
Hildegarde ließ das Buch auf die Fliesen des Corridors gleiten; sie legte beide Hände an ihre Schläfe, die Glut der Scham, vielleicht auch zornige Aufwallung röthete ihre runden Wangen, und indem sie mit zauderndem Widerwillen dem Inspector auswich, flog sie wie ein verfolgtes Reh über den Corridor nach der Richtung, wo ihre Zimmer lagen.
»Was kann das bedeuten, Herr am Ort?« sagte der Graf, der über dies seltsame Benehmen Hildegardens erstaunt und halb beleidigt war. »Kennen Sie das Mädchen?
Hat das arme halbverstoßene Kind Ursache Sie zu fliehen?«
Joseph am Ort hatte inzwischen in halber Zerstreuung und um seine Verlegenheit zu verbergen, das den Händen Hildegardens entglittene Buch aufgehoben. Er klappte den Deckel zurück und bemerkte, daß es ganz mit heraldischen Zeichnungen angefüllt war.
»Gnädiger Herr Graf,« versetzte er, das Buch wieder schließend, »ich hatte vor einigen Monaten das unverdiente Glück, dieses Fräulein einer sehr mislichen Situation zu entreißen. Daß mir die im Walde Verirrte, die mich der Zufall finden ließ, später wieder durch eine dritte, leider muß ich sagen, sehr ränkevolle Person entrückt wurde, habe ich tief bedauert. Ich glaubte schon, das Fräulein habe mich foppen wollen, dies scheint jedoch nicht gerade ihre Absicht gewesen zu sein, wenn ich ihr Erbleichen zu meinen Gunsten auslegen darf. Scham und Aerger beherrschten offenbar die Bedauernswerthe bei meinem Erblicken.«
Der Graf hatte ruhig zugehört. Von Diana bereits aufmerksam gemacht auf den sonderbaren Wechsel in Hildegardens Stimmungen, schöpfte er jetzt Verdacht gegen den Schützling der Baronin von Kaltenstein, und da er in Joseph am Ort einen rechtlichen Mann vor sich zu haben glaubte, hielt er dafür, es könne der Tochter des Försters nur dienlich sein, wenn er ohne Umschweife erfahre, weshalb und auf welche Weise das verführerische Mädchen dem Hause ihres Vaters eigentlich entfremdet worden sei.
»Im Ahnensaale sind wir allein, Herr am Ort,« sprach der Graf. »Dort werden wir Zeit finden, uns auszusprechen über diese, wie mir scheint, gefährliche kleine Intriguantin. Es sollte mir leid thun, wenn ich genöthigt wäre, mich an ihre Beschützerin mit der Bitte wenden zu müssen, das sehr talentvolle, aber mich dünkt auch sehr versteckte junge Mädchen in möglichst kurzer Zeit von Hammerburg wieder abzuholen.«
Joseph am Ort gerieth durch dieses Verlangen des Grafen, der ihm persönlich so großes Wohlwollen bewies, in die peinvollste Verlegenheit Es war durchaus nicht seine Absicht gewesen, Hildegarde, die noch immer sein Herz erfüllte, irgendwelchen Schaden zuzufügen. Schon in der Fabrik mußte sein eigenes maßvolles Benehmen der schönen Geflüchteten, die ihn ja schlau hintergangen hatte, sagen, daß er nicht gesonnen sei, ihr die ihm zugefügte Beleidigung entgelten zu lassen. Joseph am Ort hatte sich sogar vorgenommen, gar nicht zu thun, als ob er Hildegarde kenne, falls sie ihm etwa im Schloß des Grafen von Serbillon nochmals begegnen solle, wohl aber wünschte er noch eine kurze Unterredung mit ihr. Sein Entschluß stand fest. Eine einzige Frage und eine auf diese Frage gegebene Antwort sollte sein ferneres Handeln bestimmen. Das Erbleichen Hildegardens bei der zweiten Begegnung mit ihm, ihr Entsetzen, ihre unüberlegte Flucht machten seinen vorsichtig entworfenen Plan scheitern. Der Frage des Grafen mußte er Rede stehen, und wollte er die Lage Hildegardens nicht noch verwickelter machen, als sie es ohnehin schon war, so mußte er gegen den edel denkenden Mann sich offen über den Flüchtling aussprechen.
Der Graf schritt seinen Gästen voran, um die Thür zum Saale zu erschließen. Dann bat er die Herren einzutreten. Morwaldt’s letzter Besuch hatte, wie wir mittheilten, unter den Gemälden eine arge Unordnung angerichtet. Eine Anzahl derselben war abgenommen und lehnte jetzt schräg gegen die Wand. Das einfallende helle Sonnenlicht beleuchtete einzelne sehr grell, sodaß sie jedem Eintretenden in die Augen fallen mußten. Auch das Porträt des Ulanenrittmeisters gehörte zu diesen hell vom Licht beglänzten, und ward für Joseph am Ort sogleich ein anziehender Magnet. Er trat dem Bilde langsam zögernd näher und der sinnende Ausdruck seines Gesichts ließ errathen, daß ihn ein ernster Gedanke beschäftige.
»Ein interessanter Kopf, nicht wahr, Herr am Ort?« sagte der Graf, zur Seite des Betrachtenden tretend. »Das Bild hat uns schon viel zu schaffen gemacht.«
»Mich erinnert dieser Kopf,« erwiderte Joseph am Ort, »an eine Persönlichkeit, der ich früher schon einmal begegnet sein muß, und doch weiß ich nicht genau ... «
»Sie kennen vielleicht die Familie Geldern,« fiel der Graf ein.
»Geldern?« wiederholte Joseph am Ort. »Ich wüßte nicht.«
»Oder das Geschlecht der Ludomirsky?«
Joseph am Ort blickte den Grafen mit scharfem Auge an.
»Ritter von der Dub hat mir von den Ludomirsky mancherlei erzählt,« sagte er gedankenvoll.
»Der nämliche kindische Greis, dem zu Liebe Sie in Ihrer gegenwärtigen Stellung bleiben wollen?« sprach Graf von Serbillon, an der Seite seines Gastes, der noch immer den Quartband trug, den Saal hinaufschreitend. »Das muß wohl ein Irrthum sein.«
»Ich weiß nicht, was ich davon denken soll, Herr Graf,« fuhr Joseph am Ort fort. »Des alten Ritters Gespräche mutheten mich immer an wie Märchenerzählungen. Ich hielt sie für Mittheilungen aus einer längst verschwundenen Zeit, denen einzelne wahre Momente zu Grunde liegen möchten, während das Meiste schimmernde Zuthat einer kranken, an verschwommenen Bildern sich ergötzenden Phantasie sei. Ohne Zweifel hat Ritter von der Dub vor einem Menschenalter in innigen Beziehungen zu einer polnischen Familie gestanden, die er Ludomirsky nennt, zu den edelsten Sprossen des altpolnischen Adels scheint diese Familie jedoch nicht gehört zu haben; denn sie bestand, trägt sich mein alter blinder Freund nicht mit lauter Träumereien, aus gewissenlosen Abenteuerern. Die Braut, an welcher der Ritter noch heute mit rührender Liebe hängt, war seiner Behauptung nach eine Ludomirsky, und wie ich vermuthe, ward ihm dieselbe entweder durch einen falschen Freund geraubt oder sie verließ ihn aus freiem Entschlusse in stiller Heimlichkeit. Der blinde Greis freilich hält seine verschwundene Berenice noch heute für einen Engel von Schönheit, Liebenswürdigkeit und Treue.«
»Berenice?« sprach der Graf. »Besitzt Ritter von der Dub keine Andenken, keine Papiere?«
Joseph am Ort hatte wieder das Buch aufgeschlagen, das mit Wappenzeichnungen und Adelsemblemen ganz angefüllt war. Sein Blick fiel auf ein Schild, das ihn fesselte.
»Das ist das Wappen der Wojwoden von Ludomirsky,« sagte Graf von Serbillon.
»Dieses Schild mit den drei gekreuzten Pfeilen unter dem durchbohrten Halbmonde?« fiel Joseph am Ort ein. »Das wäre in der That sonderbar, denn bis zu dieser Stunde habe ich dasselbe immer für das Wappen derer am Ort gehalten. Ich führe es, wie dieser Ring beweist, selbst. Meinen Vorfahren war es verliehen zum Andenken und zur Belohnung der Tapferkeit, die sie unter Sobiesky’s Führung in der Schlacht vor Wien bewiesen. Ein Herr am Ort war es, der einem Türken die Standarte entriß und den Halbmond unter seinem Fuße zertrümmerte.«
Joseph am Ort sprach laut und lebhaft, und da man unfern der Thür stand, welche aus dem Ahnensaale in das Zimmer des Abbé führte, hatte dieser jedes Wort vernommen. Gefesselt von dem Inhalt des Gesprächs, das ihm wichtig schien, erhob er sich schnell und stand jetzt dem Grafen und dessen Begleitern gegenüber.
»Ah, der gelehrte Herr Abbé,« sprach der Besitzer von Hammerburg. »Die Herren kennen sich ja schon.«
Joseph am Ort trat überrascht ein paar Schritte zurück, denn in dem ernsten Antlitz des Priesters lag jetzt jener charakteristische melancholische Zug, welcher das Porträt Sigismund Geldern’s so eigenthümlich scharf ausgeprägt zeigte, daß diese frappante Aehnlichkeit zwischen dem Porträt und dem Lebenden jedem auffallen mußte.
»Der Herr Abbé ist auch ein Ludomirsky,« sprach der Graf, das Staunen des Inspectors gewahrend.
»Und hier dieser Ring beweist,« fiel Kasimir ein, »daß ich ein Recht habe, das Wappenschild der Ludomirsky für das auch mir zukommende zu erklären ... Meine wißbegierige Schülerin hat also doch nicht reinen Mund gehalten,« fuhr er fort, »obschon ich sie dringend bat, das Buch nur in der Stille auf ihrem Zimmer zu studiren. Aber freilich, wer mag die Launen eines Mädchenherzens ergründen, das sich ja selbst noch nicht halb versteht!«
Abbé Kasimir schlug die Augen nieder, als fürchte er den streng fragenden Blick des Fremden, und streckte die Hand nach dem heraldischen Werke aus, das Anlaß zu dieser Begegnung ward.
Joseph am Ort trug kein Bedenken, dem Priester das Buch zu überreichen. Dieser nahm es in Empfang und lud gleichzeitig den Grafen und dessen Begleiter ein, sein Studirzimmer zu betreten. Obwohl es nun eigentlich nicht Zweck des Grafen war, den Abbé zu besuchen, glaubte er doch in Betracht der Umstände diese directe Einladung, die ja zu einer weitern Unterhaltung führen mußte, nicht ausschlagen zu dürfen. Nur der Architekt Morwaldt zögerte einige Augenblicke, nahm aber auf die wiederholte Aufforderung des Grafen keinen Anstand, der Einladung ebenfalls Folge zu leisten.
Hier nun im Zimmer des Abbé kam Graf von Serbillon abermals auf seine vorige Frage zurück, die sich auf Hildegardens Vergangenheit bezog. Joseph am Ort theilte dem Besitzer von Hammerburg das Nöthigste mit, ohne den Charakter des jungen Mädchens zu verdunkeln. Daß Hildegarde ihm ganz allein das Leben verdanke, erwähnte er nicht. Er suchte das Betreffen der Verirrten als eine Fügung des Zufalls darzustellen. Das spätere Verweilen der Erkrankten im alten Schlosse der Dub führte zu Seitenbetrachtungen, welche den Grafen nicht weniger als den Abbé fesselten. Auch warfen sie Streiflichter auf das in ziemlichem Düster liegende Leben der Familie von Kaltenstein, die Joseph am Ort zu wenig kennen wollte, um sich ein Urtheil über dieselbe zu erlauben. Am Schlusse seiner Erzählung bekräftigte er nochmals, daß es ihm äußerst schmerzlich gewesen sei, sein Vertrauen so arg misbraucht gesehen zu haben, doch wollte er Hildegarde durchaus nicht für das Verfahren, zu dem sie sich entschloß, verantwortlich machen, weil er die feste Ueberzeugung in sich trage, daß sie bei ihrer Abreise nicht vollkommen Herr ihres Willens gewesen sei.
Abbé Kasimir war sehr nachdenklich geworden. Einige wenige male nur unterbrach er Joseph am Ort durch Einschaltung kurzer Fragen, mit deren Beantwortung er sich immer beruhigte. Zuletzt ließ er sich noch einmal die Abreise Hildegardens aus dem alten Schlosse erzählen, die auf das Unzweideutigste darthat, wenn man die Zeit in Anschlag brachte, daß die Baronin von Kaltenstein ihren Schützling auf Umwegen westlich geführt haben mußte.
Graf von Serbillon konnte seine Verstimmung über diese Entdeckung nicht ganz verbergen. Sein Mistrauen gegen Hildegarde, die so merkwürdig verschwiegen war in Bezug auf das Vergangene, steigerte sich beinahe zum Zorne. Es bedurfte der eindringlichsten Vorstellung des Abbé, um den redlichen Mann, der sich so unwürdig hintergangen sah, von einem Schritte abzuhalten, der höchst wahrscheinlich nicht den gewünschten Erfolg gehabt haben würde.
»Hadern wir nicht mit den Fügungen des Himmels, Herr Graf!« sprach Abbé Kasimir. »Ich habe mich leider in den letzten Wochen von weltlichen Dingen so ausschließlich beherrschen lassen, daß ich mehr wie einmal meinen Gelübden abtrünnig werden konnte. Wir wollen deshalb dem Allmächtigen und Allwissenden dankbar sein für das Licht, das er auf die dunkeln Pfade unsers vielverworrenen Lebens fallen ließ. Die Unruhe, mit der sich unsere Herzen füllten, die Angst, die von unserm zaghaften Geiste Besitz nahm, waren wohlthätige Prüfungen, die uns läutern müssen. Sie brachten uns zum Nachdenken, sie lehrten uns, uns selbst zu erkennen! ... Uebereilen wir uns nicht! ... Auch das Herz dieses Mädchens, das sich schon längere Zeit nicht mehr selbst gehört, wird sich krümmen unter der Hand des Ewigen! ... Die Frau Gräfin, Ihre verehrungswürdige Gemahlin muß zuerst ins Geheimniß gezogen werden. Der mütterlichen Freundin wird die Geängstigte ihr Herz ausschütten, ihr Geheimniß verrathen ... Aber zerknirscht muß Hildegarde sein, ehe sie sich gegen andere ausspricht! Ueberlassen Sie es mir, diese Zerknirschung herbeizuführen.«
Abbé Kasimir sprach so feierlich und mit so großem Nachdruck, daß der Graf keine Einwendungen machte. Joseph am Ort stand hier eine eigenmächtige Wahl zu treffen nicht frei, obwohl er nicht früher abzureisen gedachte, als bis es ihm gelungen sein würde, sich noch einmal gegen Hildegarde auszusprechen. Architekt Morwaldt, der gegen seine Absicht Einblicke in Familienverhältnisse erhalten hatte, die ihm persönlich fern lagen, fühlte sich unbehaglich. Ihm war es daher sehr angenehm, als der Graf ohne langes Besinnen dem Vorschlage des Abbé zustimmte und sich anschickte, das Zimmer desselben zu verlassen.
Um nicht etwa Hildegarde nochmals zu begegnen, nahm man seinen Rückweg wiederum durch den Ahnensaal. Der Abbé geleitete die Fortgehenden aber nicht.
»Auf dieses Intermezzo war ich nicht vorbereitet, lieber Morwaldt,« sprach der Graf. »Richten Sie sich ein, nach einigen Tagen wiederzukommen. Wir wollen uns dann rasch über die hier vorzunehmenden Neuerungen einigen. Heute bin ich wirklich zu zerstreut, um meine Gedanken auf diesen einen Punkt concentriren zu können.«
Joseph am Ort stand wieder vor dem Porträt des Ulanenrittmeisters.
»Er muß sein Bruder sein,« sagte er leise vor sich hin. »Wenn ich den Alten wieder spreche, will ich ihm doch sagen, daß ich einen Sprossen der Ludomirsky kennen gelernt habe. Vielleicht macht ihn das so vertrauensvoll, daß er mir doch noch das Porträt seiner Braut zeigt, das seiner Behauptung nach seit dem Tage oder der Nacht ihres Verschwindens noch kein Sterblicher gesehen hat.«
»Lassen Sie das Grübeln sein, Herr am Ort!« rief der Graf dem Inspector zu, »man quält sich dabei immer ohne Nutzen. Der schöne Unhold, der sich als Kobold auf Hammerburg eingenistet hat, soll erst beichten, dann Buße thun und um gnädige Strafe bitten, und schließlich wollen wir Anstalten zur Ermittelung des zersplitterten Stammbaums treffen, dessen geknickte Aeste sich um mehr als eine Familie zu schlingen scheinen. Zerstreute Familienglieder wieder zusammenführen ist unser Beruf als Bürger, dem Abbé bleibe es überlassen, verirrte Seelen zu sammeln und ihnen den rechten Weg zu zeigen.