Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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I. Kapitel.

Wie Herr Asmus Semper an ein Perpendikel befestigt war.

Der Volksschullehrer Asmus Semper wußte nicht so recht, ob er ein sehr glücklicher oder ein sehr unglücklicher Mann sei. In dem Augenblick, da diese Geschichte beginnt, war er jedenfalls ein sehr glücklicher Mann. Er saß nämlich im blank geputzten Wohnzimmer seiner Dreistubenwohnung und las den fünf Damen, die bei ihm Literaturunterricht nahmen, aus Gottfried August Bürgers Gedichten vor. Wie liebte er diesen Bürger, der so gar kein Bürger war, wie liebte er ihn um seines tiefen Unglücks willen! Wie er alle liebte, auf die der Pharisäer mit dem Finger zeigt. Wie er schon als Knabe den Esau geliebt hatte und nicht den Gottesgünstling Jakob, wie er Saul geliebt hatte und nicht das Schoßkind Jehovas: David. Wie einsam er gewesen sein mußte, dieser arme Amtmann von Altengleichen! Und wie es Asmussen zu diesem Einsamen hin drängte! Schiller hatte ihn nicht verstanden, wie Goethe den Kleist und den Uhland nicht verstanden hatte; er hatte seine Kunst mit den Worten und Überzeugungen eines anständigen Mannes verurteilt. Das war kein Verbrechen; Asmus liebte den Schiller darum nicht weniger. Jeder wirkliche Künstler ist ein einziger Gedanke der Natur, den unmöglich jeder begreifen kann, auch nicht jeder Künstler. Im Paradiesgarten der wahren Kunst ist keine Blume zweimal zu finden. Aber wenn er den Schiller um seines Irrtums willen nicht weniger liebte, so liebte er den »zügellosen« Bürger, den die Schulästhetiker in die Besserungsanstalt ihrer Literaturgeschichten steckten, um jener Rezension willen noch mit einer Extraliebe. Gewiß, er hatte Molly schon geliebt, als er noch mit Doretten nur verlobt war. Aber er konnte das Verlöbnis nicht brechen, ohne zugleich ein Herz zu brechen, er, der das schönste Lied an das Herz gesungen hat. Seine Schuld kam aus der Güte.

Herr Semper las also die »Lenore« und malte mit seiner Stimme ein wundervolles, blühendes, heißherziges Weib, dem der Geliebte mehr galt als Seligkeit und Hölle. Und als es von ihren Verzweiflungsrufen still war, da war's auch plötzlich ganz still, wie in einer Totenkammer um Mitternacht, und dann hörte man Hufschlag; aber er klang nicht wie am Tage, und ein Reiter sprang vom Pferd; aber es war wie hinter tiefen Nächten; der zog den Pfortenring, aber so, daß man nicht wußte: klang es, oder klang es nicht? und da – da scholl eine Stimme, wie fernher durch ein tausend Ellen langes unterirdisches Gewölbe:

»Holla, holla! Tu auf, mein Kind!
Schläfst, Liebchen, oder wachst du?
Wie bist noch gegen mich gesinnt?
Und weinest oder lachst du?«

Und dann kam dieses grausige Liebesgeflüster der Hochzeitsnacht wie klagender Wind in nächtlichen Büschen.

»Sag an, wo ist dein Kämmerlein?
Wo? Wie dein Hochzeitbettchen?« –
»Weit, weit von hier! . . . Still, kühl und klein . . .
Sechs Bretter und zwei Brettchen!« –
»Hat's Raum für mich?« – »Für dich und mich!
Komm, schürze, spring und schwinge dich!
Die Hochzeitsgäste hoffen;
Die Kammer steht uns offen.«

»Wohl um den trauten Reiter schlang sie ihre Lilienhände« – da sah er aus der tiefsten Nacht die schmalen, weißen Hände leuchten. Und nun mußten Anger, Heid' und Land vorübersausen, siebentausendmal so schnell wie der wildeste Renner Arabiens, und die Brücken mußten donnern

»Rum bumbum, rum bumbum,
rum – – –«

und der Leichenzug mußte mitgerissen werden, hinein in den Zug, daß die Gewänder pfiffen, und das Galgengesindel mit grinsenden Zähnen mußte hüpfen und hopsen und huiii! hineingerissen werden in den Zug, daß die Gebeine rasselten, und immer tiefer mußte die Arme ihr Antlitz in des Reiters Mantel bergen, und immer tiefer, immer tiefer mußte seine Stimme ihr ins Herz bohren:

»Graut Liebchen auch? Der Mond scheint hell –«

und siebenzigtausendmal schneller als der schnellste Renner im Angesicht des Zieles mußte der Zug dem Friedhofstore entgegenjagen.

»Rasch auf ein eisern Gittertor
Ging's mit verhängtem Zügel;
Mit schwanker Gert' ein Schlag davor
Zersprengte Schloß und Riegel.«

Man erzählt, als Bürger seine »Lenore« den Hainbündlern vorgelesen habe, da habe er just eine Reitgerte in der Hand gehalten, habe im Feuer der Rede mit ihr gegen die Tür geschlagen, und einer der Stolberge oder wer sonst sei entsetzt auf die Füße gesprungen. Eine Reitgerte hatte Asmus bei seinen Vorlesungen nicht zur Hand; man mußte also mit der Stimme gegen das Gittertor schlagen, daß Schloß und Riegel sprangen. Und wie es nun hieß:

»Des Reiters Koller, Stück für Stück,
Fiel ab wie mürber Zunder.
Zum Schädel ohne Zopf und Schopf,
Zum nackten Schädel ward sein Kopf . . .«

da mußte man mit der Stimme das Fleisch von den Knochen schälen, daß der weiße Schädel im Mondlicht gleißte.

Und Asmus las den »Wilden Jäger« und die rührend-flehende, rührend-nutzlose Vorstellung »An die kalten Vernünftler« und das ewig herrliche Trochäen-Sonett »An das Herz«, dieses wohllautendste Sonett der deutschen Sprache, diese erschütterndste Klage eines unsterblichen Herzens in allen Literaturen der Welt. Er las die wild aufflammende Empörung des »Bauern« und erzählte dann wieder gemächlich, wie beim Wein, das Märlein vom »Kaiser und Abt«, und die Pausbacken des Lesenden gingen auf wie ein Vollmond, der lachend über den Horizont blinzelt. Und dann – ja, es ist nicht zu glauben – dann las er das »Lied vom braven Mann« und las es mit jagendem Herzen. Dieser komische Kerl las mit stürmendem Blute ein Lied vom braven Mann, und das in einer Zeit, da die Bravheit genau so verachtet war wie früher die Gemeinheit. Ja, er las es mit all den Strophen, in denen der Dichter seinen eignen Sang anredet und von sich selber spricht, Strophen, die von solchen Leuten, die klüger als Bürger sind, bekanntlich gestrichen werden; er entzückte sich an diesen Strophen, weil in ihnen der reine Jubel eines kindlichen Mannesherzens über eine große Tat frohlockt.

»Gottlob, daß ich singen und preisen kann,
Unsterblich zu preisen den braven Mann.«

Ja – da begann nun freilich das Unglück des Herrn Asmus Semper: Konnte auch er singen und preisen, was edel, groß und gewaltig war, unsterblich singen und preisen wie der Amtmann von Altengleichen? Vorläufig gewiß nicht, und wenn ihm wirklich einmal die Flügel zu solcher Länge und Breite wachsen sollten, so würde das Schicksal schon rechtzeitig mit der großen Gärtnerschere kommen und sie beschneiden. »Wie?« würde das Schicksal sagen, »Dichten? Zuvörderst hast du mal dreißig Stunden in deiner Schule zu geben; da dich das aber noch lange nicht mürbe macht, so geb' ich dir auf, noch achtzehn Privatstunden dazu zu geben. Für diese 48 Stunden wirst du dich gewissenhaft und gründlich vorbereiten, so gründlich, daß deine Schüler sich freuen, wenn du kommst, und deine ganze Weisheit ihnen wie ein eigenes Erlebnis vorkommt, und da bei deiner bauernrüpelartigen Gesundheit zu befürchten steht, daß dich auch das nicht umbringt, so wirst du noch täglich dreißig Hefte korrigieren, sonntags aber sechzig, mit Aufsätzen! Was du dann noch dichtest, das wird schon danach werden.«

Ja, wenn er bedachte, daß er gar zu gern den langsamen Satz von Schuberts D-Moll-Quartett oder die Eroica Beethovens in Worten gesungen hätte, daß er gar zu gern erzählt hätte, wie ein schlechter Schulmeister durch sein Kind in einen brauchbaren verwandelt wurde, oder wenn er gar an das Trauerspiel dachte, das er schreiben wollte, das Drama, das die Gewissenstyrannei des Pöbels für immer zerbrechen und »Der Verrat« heißen sollte, und wenn er sich sagte, daß er dazu wohl niemals Zeit und Sammlung finden werde, dann führte er sich schwer unglücklich.

Und wenn er sich dann fragte, für wen er seine schwere Last denn trage, dann war er mit einem Male wieder überglücklich: denn dann konnte er nicht anders als an die schöne, schlanke Hilde mit den schmalen Händen und Füßen und dem duftenden Wald von kastanienbraunem Haar denken, die eine Adlige ohne »von« war und ihm die flachshaarige Isolde geschenkt hatte und dann den weißrotgoldnen Wolfram und dann die porzellanzierliche Leonarda, und die ihm erst kürzlich mit banger Freude gestanden hatte, daß die Ergänzung dieser Sammlung nur eine Frage der Zeit sei, und an seine alte Mutter mußte er denken, die fast ganz auf ihn angewiesen war und kürzlich das eine der drei Stübchen bezogen hatte. Er mußte daran denken, wie seine starke, seine Frau ihm diese drei Stübchen zu einem Tempel und Palast erweiterte und vergoldete, vor dem sich der Moskauer Kreml und der Tempel Salomonis verstecken konnten, und wenn er dann daran dachte, daß übermorgen die Quartalsmiete für den Kreml mit 77 Mark 50 Pfennig fällig sei, ohne daß ihm bewußt wäre, woher er sie nehmen solle, dann war es ihm, als ob ein brutaler Kerl ihm plötzlich mit einer Riesenfaust in die Magengrube schlüge und die Verbindung zwischen seinem oberen und seinem unteren Menschen abgeschnitten sei. Dieser entsetzliche Kerl mit dem furchtbaren Boxerhieb kam immer häufiger, besonders abends vor dem Einschlafen, aber auch am hellen Tage, mitten in einer fröhlichen Schulstunde oder zwischen den Atemzügen eines werdenden Gedichts, und dann war nicht nur die Seele des Asmus wie ein törichter Vogel, der mit dem Kopfe gegen alle dicken Glaswände seines Käfigs rennt; auch körperlich war's ihm, als habe er einen eiskalten Stein von der Größe einer Faust verschluckt, der sich niemals erwärmen, niemals zergehen wollte und die Atmung unterband. In solchen Stunden und Tagen war Herr Semper wiederum nicht sehr glücklich, o nein.


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