Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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XXXVI. Kapitel.

Asmus und Hilde vertauschen die Rollen.

Als er nun wieder daheim war, konnte er noch lange nicht »Erster Aufzug« auf die vor ihm liegenden Blätter schreiben. Monatelang noch tobte in ihm die Schlacht zwischen deutschen und fremdgeistigen Gedankenheeren. Gewiß war der Ausgang des Kampfes nicht mehr zweifelhaft; aber der Feind wehrte sich verzweifelt, auch in ihm, in seiner Brust, in seinem Hirn. Er war ein zu echter Deutscher, um dem Feinde nicht gerecht zu werden, um stets von seinem eigenen Recht überzeugt zu sein. Im letzten Grunde war es ja der ewige Kampf, der den Menschen wie die Menschheit durchtobt: der Zweikampf zwischen dem Geist, der stets verneint, und dem, der stets bejaht. Und danach sollte seine Komödie auch ihren Namen bekommen: »Der Zweikampf« sollte sie heißen.

Und in munterem Spiel sollten die beiden großen Lebensmächte ihre Kräfte gegeneinander führen: gegen die Verleumdung der Welt die wissende Lebensfreude, gegen den alles vergiftenden Zweifel die eingeborene Gewißheit des Lichts, gegen das weltmüde Verzagen die ernste Hoffnung, gegen den Größenwahn des Einzelnen die Heiligkeit der Gemeinschaft, gegen die allgemeine Herren- und Gesetzlosigkeit die Zucht und Erziehung, gegen die Vergötzung der brutalen Gewalt die Hoheit des Rechts und der Sitte, gegen die Frechheit die Ehrfurcht, gegen den fälschenden Neid die redliche Sachlichkeit, gegen Mystifikantenschwindel die geradäugige Klarheit, gegen die Kunde vom Niedergang der Menschheit im allgemeinen und der Deutschen im besonderen die jubelnde Zuversicht in den Fortschritt der Menschen, ganz vor allem in den unhemmbaren Aufstieg des deutschen Volkes.

Söhne dieses Volkes sollten sich verstrickt zeigen in jenem Netze feindlicher, blutsfremder Gedanken; einer aber von ihnen sollte das Netz zerreißen, aus eigener Kraft, durch eine helfende, rettende Brudertat, und helfen sollte ihm, spornen und zurücklocken zum heimischen Blute sollte ihn ein deutsches Mädchen, stark und süß, klug und fest und doch hold und hingebend wie Hilde. Auch die andere Gefahr der deutschen Seele sollte das Lustspiel zeigen: das Philistertum, und zwar in seiner lockendsten Gestalt, der des Elternhauses, der Familie. Aber sicher sollte der Held am Ende mitten hindurchschreiten zwischen Philistertum und Gewissenlosigkeit, zwischen dem Famulus Wagner und dem pudelnärrischen Lügengeist.

Als das feindliche Gedankenheer im Abzug war, begannen neue Mühen. Ein dramatischer Richter darf nicht nur ein Sänger, er muß auch ein Baumeister sein. Einen sorgfältig bis ins kleinste durchdachten Plan muß er entwerfen; denn ein Drama ist ein Haus, das überall richtig gestützt, in dem jedes Fenster und jede Tür am rechten Platze, jede Kammer und jeder Flur zugleich zweckmäßig und schön sein soll. Das ist das Schwerste am Werk des Dramatikers, daß er zugleich kühl und heiß sein soll. Die Überlegung allein erzeugt kein Bühnenwerk, und die Glut allein genau so wenig.

Außer den intellektuellen und technischen Schwierigkeiten gab es aber noch ein drittes Hindernis, und das war das Sprachrohr. Von dem Zimmer, in dem er neuerdings arbeitete, führte nämlich ein Sprachrohr in die Küche hinunter, und das war allerdings ein gefährliches Hemmnis. Wenn ihm nämlich schien, daß er einen besonders glücklichen Einfall gehabt habe, und sein Grundriß mächtig fortschritt, so war ihm das natürlich noch nicht Glückes genug; unmäßig, wie dergleichen Leute sind, mußte er auf dieses Riesenglück noch ein zweites Riesenglück türmen, und so lief er denn ans Sprachrohr und fragte die da unten, ob sie ihn noch lieb habe. Das führte dann zu einem längeren und stark ablenkenden Gespräch. Sie andererseits, wenn sie stundenlang dort unten gewirtschaftet hatte, wurde von begreiflichen Zweifeln geplagt, ob seine Liebe diese Ewigkeit überdauert habe, rief ihn ans Sprachrohr und fragte, ob er sie noch lieb habe. Seine Versicherungen nahmen wieder viel Zeit in Anspruch; auch küßten sie sich durch das Rohr wie Pyramus und Thisbe, wenn auch leider nur »imaginär«. Und wenn dann auch noch ein verheißungsvoller Duft von Kräutern und Brühen durch das Rohr zu seinem Herzen sprach, dann hätte Asmus zwar schändlich lügen müssen, um zu behaupten, dies sei ihm unangenehm; aber äußerst störend war es doch. Sie kamen schließlich überein, das Rohr an beiden Enden zu verstopfen und ihre Zweifel an des andern Liebe bis zum Mittag geduldig zu tragen.

Und wie nun trotzdem der Plan vollendet war und das Gebäude in Mauern und Dachstuhl vor seinem Geiste fertig dastand, da zog er mit der Muse Thalia hinein und baute es mit ihr gemeinsam auf in ununterbrochenen Honigmonden. Ein unaufhörlich Singen und Klingen war in allen Kammern und Winkeln des neuen Hauses. Und als der letzte Schlag und Strich getan waren und die Muse von ihm ging, weil sie noch anderes zu tun hatte, als Herrn Asmus Semper zu helfen, da besah er sich sein Werk und bemerkte alsbald, wie jeder, der ein eigen Haus gebaut hat, wie so manches daran doch eigentlich recht viel besser und schöner sein sollte, als es war, wie so manches doch gar nicht das geworden war, was er sich geträumt hatte! Das entlockte ihm wohl schwere Seufzer; aber das Ende allen Seufzens und Grübelns war, daß er sich gestand: Besser kann ich's vorläufig nicht.

Er las das Stück einem größeren Freundeskreise vor, und die Wirkung war ganz absonderlich. Als er geendet hatte, blickte er in erstaunte, lächelnde, verlegene Gesichter. Und die Meinung der meisten ging dahin: Ja ja, alles recht gut und schön, uns gefällt's ja; aber – das große Publikum? Ein Lustspiel, das sich um philosophische, um ästhetische, ethische, um Weltanschauungsfragen dreht? Welches Theater soll denn das annehmen?! Wie kommst du verrückter Kerl zu der Naivität, unseren Theatern ein solches Stück anbieten zu wollen? Komisch!

Asmus hohnlächelte ob dieser Schwarzseherei und ging, erleichtert wie eine Frau, die Drillinge geboren hat, mit Globendorff und einem Hamburger Kaufmann auf seine erste Alpenreise.

Als er auf einem Postwagen zum ersten Male in die Gebirgswelt der Alpen hineinfuhr, machte er wohl ein recht dummes Gesicht. Wenn alle Erwartung, Hoffnung und Aufmerksamkeit vor die Tür getreten ist, dann steht der menschliche Körper leer und macht ein dummes Gesicht, und Asmussens dummes Gesicht dauerte diesmal lange. Er hatte ja gewußt, daß er in eine wunderschöne Welt eintreten solle; aber – so schön? Hier war ja ewiger Feiertag! Hier mußten ja alle Menschen glücklich sein! Hier hatte ja alles Kinderaugen, nicht nur die Dörfer und Berghalden, auch die gewaltigsten Felswände hatten Kinderaugen! Hier begriff man ja mit einem Male das Wort »neugeboren«! Man »erblickte das Licht der Welt« und war sich dessen bewußt, war in jeder Faser wieder ein Kind! Als der Kaufmann nächsten Tages auf das schlechte Wetter schimpfte, begriff Asmus ihn nicht. War das nicht einerlei? Gewiß: freie, klare Berghäupter waren herrlich; aber waren Berge, die durch Wolkenschleier brachen, waren nebeldampfende Zacken und Schroffen nicht eigentlich noch schöner? Wenn solch ein millionenjähriger Riese durch Wolken äugte, daß man nicht wußte, was ist Wolke, was ist Stein – war das nicht zum Grausen schön? Mußte nicht gleich aus jenem Wolkenmantel das Gesetz des Herrn hervorbrechen, wie einst aus Nebeln des Horeb? Eigentlich wollte Asmus immer nach zwanzig Schritten verweilen und in Abgründe des Staunens und Sinnens versinken; denn alle zwanzig Schritt war die Welt ja wieder anders, ganz anders, und ein Tag war hier wie tausend Jahre! Er wollte so wandern, wie er zu lesen pflegte. Aber da kam er bei seinem kaufmännischen Freunde an den Rechten!

Der war ein Präzisions-Wanderer und Chronometer-Renner; er mußte sein Pensum erledigen. So und so hatte er die Reise eingeteilt, und genau so mußte sie abschnurren. Beim nächsten Viertel Wein leitete Asmus eine Konferenz ein: ob man nicht ganz anders reisen und auf den Reiseplan recht fröhlich pfeifen wolle. Aah – nicht daran zu denken! Herr Schleppegrell machte ein Gesicht, als ob man ihn zu einer Wechselfälschung verleiten wolle.

Von nun an blieb Asmus meistens zurück, allein oder mit Globendorff, der eigentlich gern wie Asmus gewandert wäre, aber ein viel zu versöhnlicher Mensch war, um Schleppegrellen zu kränken. Schleppegrell war immer voraus; denn er wollte zwanzig Kilo in den Alpen verlieren. Und wenn Asmus irgendwo eine Andacht von drei Minuten verrichtet hatte, mußte er wieder drei Minuten traben wie der Bote von Marathon. Schleppegrell war unerbittlich.

»Herr Schleppegrell,« sagte Asmus, »es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie den Reiseplan so schön ausgearbeitet haben und uns führen; aber ich bin nun einmal ein Mensch, der nicht gern über sich verfügen läßt. Ich lasse mich nicht an einem Nasenring durch die Alpenwelt ziehen.«

Da sprach Herr Schleppegrell einundeinhalb Tage lang kein Wort. Aber er war ein braver Mann und hub nach einundeinhalb Tagen plötzlich wieder an zu reden wie Zacharias, der Vater des Johannes! Und von nun an bestand ein stillschweigendes Kompromiß zwischen Fortschritt und Beharrung. Aber das gelobte sich Asmus im stillen: Mit Schleppegrellen niemals wieder!

Als sie drei Wochen zwischen Bergen gewandert waren, hatte Asmus das Gefühl, daß sich ein Ring um seine Brust gelegt habe, der sich täglich enger zog. Er wußte nicht, was ihm fehlte: ringsumher war alles so schön, so schön, und doch war ihm nicht gut. Sie waren im Salzkammergut und kamen an den Atter-See. Da offenbarte sich's. Der Atter-See hat nur an drei Seiten Berge, nach Norden lacht er in die Ebene. Und wie der Blitz fuhr Asmussens Seele zu diesem Loch hinaus gleich einer gefangenen Nachtigall, die eine Tür offen sieht, und schrie:

»Und frische Nahrung, neues Blut,
Saug' ich aus freier Welt!«

Wie war er plötzlich glücklich, wie namenlos glücklich! Dem Sohn der Ebene, wenn er drei, vier Wochen zwischen Bergen gelebt hatte, legten sich alle Berge ringsum auf die Brust, und selbst der erhabene Felsensaal des Vierwaldstätter Sees wurde ihm endlich zum dichtverschlossenen Zimmerchen. –

Inzwischen war sein Stück gedruckt worden, und er versandte es an die Bühnen, nach Berlin, Wien, Dresden, München, Hamburg u. a. m. Es ging aufs Haar genau wie bei seinem ersten Drama: keine Antworten oder Ablehnungen. Zum Teil sehr höfliche, sehr anerkennende Ablehnungen, aber Ablehnungen. Und Asmus der Sanguiniker und Optimist war nicht einmal so, daß er von allem nur das »Nein« hörte. Aus einer großen Stadt kam ein sehr ernsthaftes, eingehendes und anerkennendes Schreiben, und er war sehr glücklich darüber; es gab doch Hoffnung, daß man sein Werk – anderswo nehmen könnte. Aber dann ging es Herbst und Winter hindurch mit Schweigen und Ablehnung, Ablehnung und Schweigen. –

Nun hatte er ein ganzes Jahr der Freiheit genossen; nun hatte er vor aller Welt einen – mit Mißgunst betrachteten – langen Urlaub gefordert, hatte von einem hochgesinnten Manne ein reiches Geldgeschenk angenommen – und nichts erreicht. Nichts konnte er für all diese Wohltat wiedergeben. Er stand vor sich selber da als ein Wortbrüchiger, als ein Aufschneider, ein Schelm, der Versprechungen gab, die er nicht halten konnte.

Es kam der erste Tag, da er wieder zur Schule mußte. Als er zu seinem Stockwerk hinaufstieg, standen da am Treppenabsatze zwei Kollegen. Sie flüsterten sich schnell etwas zu und lachten dann einander an, und sie sahen ihn an und lächelten. Sie waren keine Virtuosen der Verstellung; man konnte verstehen, was sie meinten!

Er hatte die alte Doppellast wieder auf die Schultern genommen. Er schrieb viel für ein Witzblatt und man wünschte immer noch mehr, als er schreiben konnte. Das brachte Geld; aber es brachte auch Stunden, da er rief: »Verdammt – her mit einem Witz! Her mit einem Gedicht! Her mit einer Geschichte! Fluch über dieses Hundeleben!«

Und endlich kam der Zusammenbruch: Schluß machen mit der Dichterei für immer! Examen machen, immer mehr Examina und dann Karriere machen! Die Sterne, die begehrt man nicht; man strebt nach höheren Gehältern.

Und eines Mittags, als er müde und zerbrochen aus der Schule kam und auf seinem Bücherbrett die sauber und hübsch geschichteten Exemplare seiner »deutschen Komödie« liegen sah, da sagte er zu seiner Frau:

»Bitte, schaff sie fort; gib sie einem Lumpenhändler oder wirf sie ins Feuer; es wird doch nichts draus.«

Und da geschah etwas Unerhörtes. Hilde Semper legte ihm beide Hände auf die Schultern und sagte mit Lachen:

»Du lieber Junge! Da sei nur ganz getrost: daraus wird doch einmal was.«

Sie, ein Zögling des Kummers, ein Pflegling des Schmerzes, sie, die jede Gunst des Schicksals dankbar erkannte und genoß, aber nie eine Gunst vom Schicksal erwartete, sie erwartete, sie hoffte, sie glaubte!

Er sah sie an, so lange, wie er sie wohl noch niemals angeschaut hatte; dann nahm er das edle Oval ihres Gesichtes zwischen seine Hände, küßte ihr die Stirn und sah sie an, küßte ihren Mund und sah sie wieder an und küßte ihre beiden Augen und war wieder der alte junge Semper.

Und am Abend schickte er ihr durch die kleine Sigrun ein Blatt, darauf stand geschrieben:

Kameraden.
        Manchmal aus aller Wirrnis und Plage
Hebst du den Blick,
Schweigend zu forschen, wie ich sie trage:
Sorgen und Mühen – unser Geschick.

Manchmal am dunklen, schleichenden Tage
Sucht dich mein Blick,
Sucht dich mit stummer, mit bebender Frage:
Wie noch erträgt sie's, unser Geschick?

Dann an milderen, lichteren Tagen
Mag es geschehn,
Daß unsre Augen sich finden im Fragen
Und ihr zitterndes Leuchten verstehn,

Daß sie sich bannen – und stiller dann leuchten,
Stille. – Und fern,
Fern aus den Nächten, die ewig uns däuchten,
Wächst ein milder, ein ewiger Stern!


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