Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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XXIV. Kapitel.

Die Leiden von Hjerneborg und die Einsamkeit von Skallö.

Als Asmus mit seinen sieben Köpfen und drei Koffern die dänische Grenze erreicht hatte, wo Zollrevision und Wagenwechsel vorzunehmen waren, verwandelte sich das Amtsgesicht des Stationsvorstehers auf den Gruß des dänischen Dichters hin sofort in sonnigste Menschlichkeit, und als der Beamte merkte, daß Asmus nach dänischen Vokabeln suchte, sprach er auf der Stelle deutsch.

Überhaupt waren die Menschen freundlich genug, wenn nur die Natur sich gastlicher bewiesen hätte. Ogier le Danois hatte sein Hjerneborg offenbar nur deshalb ein »famoses« Dorf genannt, weil er täglich 24 Stunden viele Meilen weit davon entfernt auf dem Meere geschaukelt und von dem ganzen Ort nichts in Gebrauch genommen hatte, als gelegentlich ein Bett. Dieses Dorf roch nämlich täglich 24 Stunden lang vom ersten bis zum letzten Hause und noch einige Seemeilen darüber hinaus nach Schellfisch und Dorsch; nur das Bauernhaus, in dem die Semperfamilie wohnte, roch außerdem nach Pferden, Kühen, Schweinen, Schafen, Ziegen, Enten, Gänsen, Hühnern, Hunden, Katzen und ihren verschiedenen Hinterlassenschaften. Auch lag das Dorf nicht an der offenen See, sondern an einer seichten Bucht, die gerade breit genug war, um das eigentliche Meer den Blicken vollständig zu entziehen. Segelfahrten, wie sie sich Danebrog der Wikinger gedacht hatte, sind ein königliches Vergnügen, aber bei drei zarten Kindern und einem kranken kein passendes Programm. Zu alledem kam ein drei Wochen langer Regen und ein ebenso langer Weststurm, der den Geruch von frischen und faulenden Fischen munter ins Dorf trieb und ein so überhöflicher Pförtner war, daß er einem die Tür, wenn man sie nur um einen schmalen Spalt zu öffnen versuchte, mit Lakaienschnelle aus der Hand riß und knallend gegen die Mauer schlug.

Auf den rasenden Sturm in der Natur antwortete in Hildens Seele eine furchtbare Stille. Ihr Herz blutete unaufhörlich um ihrer Schwester Schicksal, und als die gute Bäuerin, bei der sie wohnten, hörte, daß die kleine Gesina schon drei Jahre alt sei, und darüber verwundert die Hände zusammenschlug und rief: »Tre aar!« und dann mitleidig den Kopf schüttelte, da riß auch diese Wunde sich auf zum tausendsten Male. Sie fühlte sich endlich auch körperlich krank und, von seltenen Augenblicken abgesehen, da sie den Ihrigen zuliebe ein Lächeln versuchte, verbrachte sie die Tage in lebensmüder Erstarrung. Wenn der Sturm das Haus umjohlte und der Regen wie aus Kübeln gegen die Scheiben klatschte, saß sie in einem großen Korbstuhl und las über den Rand eines Buches hinaus in den leeren Augen das Schicksals; Asmus lag auf dem Sofa und las ohne Erquickung und Erhebung Spinoza, oder er spielte mit den Kindern und ließ hundert- und aber hundertmal Stube auf und Stube ab die kleine Gesina auf seinen Schultern reiten und sang dazu den Jäger aus Kurpfalz; das war das einzige, womit man dem Kinde ein Lächeln abgewinnen konnte. Und er war schon glücklich, wenn es öfter und öfter nach diesem Spiel verlangte, wenn es überhaupt nur irgend ein Begehren zeigte. Wenn aber Sturm und Regen ein wenig nachließen, dann wickelte er alle, damit sie nicht frören, in alle erreichbaren Mäntel, und sie gingen an den Strand, immer noch um jeden Schrittbreit Landes mit dem Winde kämpfend, oder sie gingen landeinwärts nach einem winzigen Haine, der unter der ewig drohenden Faust des Seesturmes ein gedrücktes, nur geduldetes Dasein führte und in dem ein kleines, nie besuchtes Borkenhüttchen stand. Wenn man in dieser Hütte saß – nur dann –, sah man durch Stämme und Unterholz hindurch eine einzige rote Blume ihr Angesicht zum Himmel richten; sonst konnte man suchen, soviel man wollte, man fand die Blume nicht. Wenn er hier mit seinen Kindern saß und wenn er bemerkte, wie sein Söhnchen immer wieder mit träumenden Augen nach der roten Blume sah, dann klangen plötzlich aus dem Boden hervor die Märchen, die aus diesem treuen, stillen, kindlich lächelnden Lande hervorgekommen sind wie Elfen aus Blumenkelchen: die Märchen Hans Christian Andersens. Und einst an einem heiligen Tage saß er wieder dort und sah, wie sein Sohn nach der Blume starrte; da brach plötzlich ein Sonnenstrahl durch das jagende Gewölk und fiel geradeswegs auf die rote Blume, und als das kranke Kind auf seinem Schoße hell auflachte, da mußte er die Augen in seiner Hand verbergen, damit die Kinder nicht sähen, daß sie feucht geworden. Und er mußte an das Märchen vom »Buchweizen« denken und hörte die Sperlinge zum Weidenbaume sagen: »Weshalb weinest du? Hier ist es ja so gesegnet; sieh, wie die Sonne scheint; sieh, wie die Wolken ziehen! Atmest du nicht den Duft von Blumen und Büschen? Weshalb weinest du?«

Er weinte vor Hoffnung. –

Einmal wagten sie es, ihr Jüngstes einen Tag lang der Obhut des Mädchens und ihrer Wirte zu überlassen und mit einem alten Schiffer, der einst auf Hamburger Schiffen um die Welt gefahren war und ihnen zu Ehren ein wunderbares Gemisch von Plattdeutsch und Englisch sprach, nach der unbewohnten Insel Skallö zu segeln. Der Schiffer blieb bei seinem Boot zurück, und sie machten sich auf, die Insel zu durchwandern. Nie hatten sie eine so tiefe Einsamkeit empfunden; wenn sie auf dem Grunde eines Dünentales saßen, so war es, als habe das Herz der Erde aufgehört zu schlagen. Ein einsamer Wanderer, dachte Asmus, der in diesen Sandgebirgen stürbe, könnte hier liegen, bis seine Gebeine bleichten und zerfielen; die Sonnen und Sterne eines Jahrhunderts könnten über ihnen auf- und niedergehen, ohne daß jemand sie fände. Sie schritten weiterhin quer durch die Insel bis an die äußerste Küste, bis ans große, wirkliche und wahrhaftige Meer. Da saßen sie wiederum nieder im Sande und schauten hinaus, einsam und morgenstill wie die ersten Menschen. Und aus einer rätselvollen Ferne klang ein langgezogener, tiefer, dunkler Ton. So regelmäßig klang dies wundersame tiefe Brausen herüber, daß sie glaubten, es sei der Atemzug des Meeres. Oder war es das Horn eines riesenhaften Tritonen? Ja, ja, das war es; schon sah Asmus den Sohn des Laertes sein Schiff vom Ufer der Kalypso lösen. Und zehn Jahre lang wanderte Asmus mit ihm über dieses Meer vor seinen Augen und sah am Schnabel seines Schiffes die schwebende Gestalt der schimmernden Leukothea. Und als die heimatsüßen Lüfte Ithakas ihn umwehten und sein drängendes Herz Penelopen entgegenstrebte, da, eben da legte Hilde ihre Hand auf die seine und sagte:

»Du guter Mann!«

Und als er sie ansah, da lächelte sie und hatte Tränen im Auge.

»Fehlt dir etwas?« fragte er zärtlich.

Sie schüttelte den Kopf. »Dir fehlt etwas,« sagte sie. »Ich bin eine schlechte Frau.«

Da mußte er laut auflachen, aufspringen mußte er und wieder lachen; so komisch fand er es, daß sie eine schlechte Frau und er ein guter Mann sein sollte.

»Das mußt du näher erklären, sonst versteht man's nicht,« sagte er mit liebevollem Spott.

»Ich spinne dich ganz in meine Trübsal ein und sollte dir doch eine muntere Frau sein.«

»Das wäre noch schöner,« rief Asmus, »daß ein Mensch nicht traurig sein dürfte, wenn er verehelicht ist! Dies Recht würd' ich mir niemals streitig machen lassen. Ich weiß und fühle alle deine Trauer, mein Herz, und kann dir freilich nicht sagen, wie dankbar ich bin, wenn du lächelst. Und so schön hast du eben gelächelt!«

Sie atmete tief und sagte: »Mir ist seit langem nicht so wohl gewesen wie heute.«

An der Größe dieser Meer und Himmelswelt war sie gesundet. In der Enge des Menschenlebens hatte sie sich verloren; im Großen findet ein großes Herz sich wieder.


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