Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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VII. Kapitel.

Die »Rostra« wird gegründet und ein Talent gekränkt.

Spät am Abend war er heimgekehrt, war zu seiner bei behaglichem Lampenlichte nähenden Hilde hingekniet, und sie hatte ihm Haar und Stirn und Wangen und Mund mit Küssen bedeckt. Und als er das Gesicht erhob, hatte auf dem Tische ein Bild seiner Kinder gestanden, das erste Bild seiner Kinder. Rosenberg hatte während seiner Abwesenheit seine Kinder weggefangen wie der Marder Macbeth die Küchlein Macduffs und hatte sie photographieren lassen. Die Juden sind wunderbare Künstler im Freudebereiten; in langen Jahrhunderten der Not und des Leidens bildeten sie sich untereinander heran zu unübertrefflichen Meistern im Kranz- und Blumenwinden.

Auch ein anderes Glück hatte zwei Gesichter: die neue Wohnung. Dieser Wohnung gegenüber lag eine weite grüne Weide, hinter deren Büschen am Abend die Sonne versank. So tief ihn die Berge des Harzes ergriffen hatten – Asmus Semper war ein Sohn der weiten Ebene, der unausmeßbaren Traumfluren und mußte es bleiben bis an sein Ende. Weiden waren ihm schier das Schönste in aller Natur; auf Weiden spielte seine Erinnerung, und die »ewige Seligkeit«, von der sein Lehrer gesprochen hatte, war eine sonnenhelle Weide gewesen. Über die Wiese vor seinem Fenster zogen silberne Wolken und Lieder und riefen: »Komm, komm, greif uns, fang uns!« aber er durfte nicht kommen, und Wolken und Lieder zerflossen auf ewig im endlosen Raum. So ward ihm alles Glück zum Midas-Glück; was seine Seele berührte, wurde zu Gold; aber er durfte es nicht münzen und konnte nicht leben; seine Seele verkam inmitten des Goldes.

Da fuhr eines Tages plötzlich um eine Ecke ein kräftiger Windstoß und gab den Gedanken Sempers vorläufig eine andere Richtung. Als sich eines Abends zu den fünf Freunden um Rosenbergs runden Tisch – auch Salomon Freudenthal war diesmal dabei – ein gelegentlicher Gast gesellt hatte und man in spöttischen und elegischen Worten über die künstlerische Leblosigkeit des guten »Hamborger Börgers« klagte, da rief jählings dieser Gast die geflügelten Worte: »Laßt uns in den Böhmerwald gehen und eine Räuberbande bilden, d. h. laßt uns in Hamburg einen literarischen Verein gründen!«

Der nächste Erfolg dieses Vorschlags war ein mehrere Sekunden langes Schweigen der Erstarrung. Dann ließ Salomon Freudenthal, der liebevoll den Brand seiner Rosa Aromatica betrachtete, sein mädchenhaftes Lachen hören. »Ja,« meinte er, »das kostet nicht viel Saalmiete; mehr als wir sind, werden wir doch nicht.«

»Was?!« rief Asmus, der sofort in hellen Flammen stand: »die Idee ist glänzend; wir werden im Handumdrehen hundert Mitglieder haben!«

»Och, Asmus, du bis jo meschugge!« rief Freudenthal vergnügt.

»Denkt an das, was ich sagte,« rief Asmus. »Diese Hamburger sind ein jungfräulicher Boden, kein unfruchtbarer. Ich stelle mich mit Haut und Haaren zur Verfügung.«

Ein vorberatender Ausschuß wurde gebildet, und man berief Dichter, Schriftsteller, Journalisten, Gelehrte, Kaufleute, Lehrer und Damen hinein. Denn das war eine der ersten Forderungen Asmussens: kein Ästhetenkonventikel, keine Kathederkavallerie, keine Literatenliteratur: volkstümlich wollte man wirken; die Konsumenten, die Leser sollten mitreden, an die der Dichter sich wendet. Der Ausschuß wählte Sempern zum Leiter der Verhandlungen.

Nur der Deutsche verträgt sechsstündige Satzungsberatungen und beraumt dann immer noch eine nächste Sitzung auf morgen an. Allein die Satzungen wurden gut und fertig, und auf Grund dieser Satzungen wählte man Herrn Semper zum ersten und Dr. Rosenberg zum zweiten Vorsitzenden der »Rostra« – das war der Name der neuen Bildung.

Aber diese Einstimmigkeit war nicht ewig. Es gab heiße Stunden, heiße Nächte, heiße Köpfe in diesen Zeiten. Einige wollten die Vorträge der Gesellschaft mit Ibsen oder Tolstoi oder Zola beginnen. Nein, sagten Asmus und Genossen, den Großen der Fremde alle Ehrerbietung, die ihnen gebührt; wir werden eines Tages auch auf sie kommen; aber wir sind eine deutsche Vereinigung, und so weit wir entfernt sind von französischer und englischer Borniertheit, die deutsche Literatur so gut wie gar nicht kennt – bis dahin wollen wir doch die Selbsterniedrigung nicht treiben, daß wir ihnen durch unsere Handlungen recht geben. Bei gleichem Werte immer zuerst das Vaterland, dann das Ausland. Und selbst wenn das Einheimische einmal etwas schwächer wäre – hier in Deutschland haben wir Ackerbauerspflichten, nicht in Norwegen. Mit einem Deutschen müssen wir beginnen.

Einige wollten mit einem großen Alten anfangen, mit Goethe oder Wolfram von Eschenbach. Ich glaube nicht, meinte Asmus, daß diese Namen einem Menschen ehrwürdiger und heiliger sein können als mir, und ich hoffe, daß wir den Größten unseres Volkes auf unserem Altare manches Opfer bringen werden; aber noch ringen eine ganze Anzahl Lebendiger vergebens um Anerkennung; denen wollen wir so schnell wie möglich eine helfende Hand hinstrecken. Mit einem Lebenden sollten wir beginnen.

Mit Theodor Körner wollte einer eröffnen, weil er gerade hundert Jahre alt sei. Hut ab vor dem Patrioten und Helden, meinten Asmus und seine Freunde, und nochmals Hut ab vor seinen Kriegsliedern; aber für eine literarische Vereinigung, die, wie wir hoffen, recht groß werden und recht große Wirkungen zeitigen soll, ist Theodor Körner kein Anfang.

»Na,« machte Dr. Louis Meckehorn, ein altphilologischer Oberlehrer, »ick kenne moderne Dichter, wo sich freuen könnten, wenn se so viel Talent hätten wie der jute Theodor.«

»Mit dieser Meinung, Herr Doktor,« rief Asmus lachend, »werden Sie sicherlich nirgends aus Widerspruch stoßen. Ebenso gewiß werden Sie nun auch zugeben, daß es Leute gibt, die mehr können als Theodor Körner.«

Meckehorn schaute mit einem Blick des Einverständnisses zu dem Rechtsanwalt Wichmann hinüber, der ebenfalls der Meinung war: »Na ja – Volksschullehrer!«

Meckehorn gehörte zu jenen Akademikern, die sich für überlegen halten, weil ihr Vater das viele Geld für sie ausgegeben hat. Außerdem war er schlechter Laune. Er hatte kurz vorher einen eigenen Eröffnungsvortrag angeboten: »Über die Flagellanten« und hatte erleben müssen, daß eine erdrückende Mehrheit sein Anerbieten dankend ablehnte.

Wiederum andere wollten viele Dozenten kommen lassen, die sollten in gelehrten Vorträgen zeigen, wie ein »richtiges« Kunstwerk eigentlich sein müsse und wie ein echter Dichter zu dichten habe. »Es wird sehr schön sein,« meinte die Fraktion Semper, »wenn wir gelegentlich einen feinen Mann von künstlerischer Seele finden, der uns mit Behutsamkeit und Bescheidenheit ins Herz eines Dichters führt; aber wenn wir zu viel ›über‹ die Kunst reden, dann wird auch unser Publikum bald nur ›über‹ die Kunst und ›über‹ sie hinweg reden, und es wird sich bald ›über‹ der Kunst wähnen, wo es doch noch nicht einmal in ihr oder auch nur nahe vor ihr gewesen ist. Nicht destilliertes Wasser wollen wir geben, sondern die trocknen Lippen des Volkes unmittelbar an die Quelle oder die Quelle an seine Lippen führen; selbst trinken erquickt. Darum sollte bei uns vor allen Dingen die Dichtung das Wort haben und nicht der Schulmeister.

Und ein paar Unentwegte wollten dem Publikum sogleich mit den krassesten Naturalismen und mit dem Gewagtesten der Erotik vor die Brust springen, um »den Philister zu brüskieren«. »Ich glaube,« erklärte Asmus, »man entfernt sich am weitesten vom Philister, wenn man nicht nur in die eigene Seele schaut, sondern auch in fremde. Gerade weil dieses Publikum der neuen Kunst noch fremd gegenübersteht, wollen wir es langsam gewöhnen und gewinnen. Ein Schlag in die Zähne hat nichts Gewinnendes. Auch wir sind erst von anderen Gestaden gekommen. Gewiß wollen wir nur Gutes darbieten; aber das Gute gedeiht in vielerlei Formen auf vielerlei Äckern, und wir wollen dem Volke zunächst solche Früchte zu kosten geben, die es verdauen kann, um schrittweise zum Schwereren und Schwersten fortzuschreiten. Bekanntlich bedarf es weit größerer Schläue, die Menschen zum Guten zu überlisten als zum Bösen.«

Asmus drang mit seinen Ansichten durch; unter peinlichster Beobachtung aller parlamentarischen Formen und Rechte, mit einem demokratischen Gewissen von fast komischer Genauigkeit – denn er war noch ganz Demokrat und Parlamentarier – brachte er seine Anträge zur Annahme. Aber diplomatisch verfuhr er nicht; den Namen Semper hätte man ruhig in einem Wörterbuch als geradesten Gegensatz zu dem Worte »Diplomat« anführen können. Manche der Vorstandsmitglieder gingen schon von Natur mit ihm; andere überzeugte er; andere aber stellten sich ihm entgegen, entweder offen und redlich oder mit verstecktem Haß. Und wenn Asmus auf Widerstände stieß, die sich durch Gründe nicht beseitigen ließen, so sprang ihm das heiße Herz in den Hals; er wurde ungeduldig, heftig und zuweilen rücksichtslos. »Es ist nicht leicht, mit Ihnen zu verhandeln,« sagte einmal mit leiser Stimme ein ganz ruhiger, ganz stiller Mann zu ihm. Asmus sah ihn betroffen an und fühlte beschämt die Wahrheit dieses Wortes. Aber sein Blut war stärker als er; Heißsporn Percy war ihm immer ein Lieblingsheld gewesen, Polonius nicht. Er war auch insofern ein Deutscher, als er die Kunst, sich beliebt zu machen, vermissen ließ und – nicht vermißte. Er bedachte nicht, daß die Feinde in solchem Falle nicht sagen: »Er will seine Sache durchsetzen,« sondern: »Er will sich durchsetzen,« und wenn er es bedachte, so verachtete er's. Wer für eine gute Sache streitet, muß auch den bösen Schein wagen – das war sein gefährlicher Leichtsinn.


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