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Luftschiff und Gaurisankar.
Als Löwenclau ihm das Zentralgenie Leo Finstermünz vorstellte, hatte Asmus wieder seinen Instinkt des Gegensatzes; aber es war kein physischer und kein moralischer Gegensatz; dieser Herr Finstermünz machte einen durchaus reinlichen und honorigen Eindruck. Im übrigen entsprach er stilvoll seinem Namen; er war auf den Luzifer frisiert; das ewig zürnende Auge, die unentwegt senkrechte Stirnfalte und das schwarze, dräuend wider Gott gesträubte Stachelhaar markierten den Abfall von Gott aus finsterer Vortrefflichkeit. Auch Finstermünz las Gedichte vor. Einiges in diesen Gedichten verstand Asmus überhaupt nicht; wo er sie verstand, da war ein keineswegs neuer und imponierender, manchmal auch ein vollkommen banaler Gedanke in einen furchtbaren Bombast von tiefsinnig klingenden Worten gewickelt. Das war nun der geradeste Gegensatz von Asmussens Art. Wenn ihm je nach dem Vermögen seines Geistes und Herzens ein Gedanke, ein Gefühl aufstieg, so hatte er den unwiderstehlichen Drang, sie so vollkommen, so klar, so überzeugend, so zwingend zum Ausdruck zu bringen, wie er es vermochte. Das schien ihm Kunst. Nur der klar gemünzte Gedanke war erobert; nur das Gefühl, nur die Stimmung schien ihm wirklich gestaltet, die voll und rein im Nachbarherzen widerklang. Wie man eine Kerze an der andern entzündet, um vorzudringen ins Dunkel einer Höhle, so mußte ein Gedanke, ein Gefühl am andern entbrennen, damit wir vordrängen ins Dunkel der Welt. Dazu aber mußten die Kerzen brennen und nicht schwälen. Dieser Herr Finstermünz glich einem Tintenfisch, der das Wasser um sich her durch seine Tinte trübt, um nicht erkannt zu werden.
Der gute Löwenclau war außer sich vor Begeisterung. Er hatte als Dichter den blind-glücklichen Griff jener genial veranlagten Schauspieler, die den »Hamlet« glänzend darstellen, ohne ihn zu verstehen; eine vollständige Gedankenkette hatte er nie in seinem Leben abgewickelt, und so bestaunte er alles, was tiefsinnig war oder so aussah, mit der Naivetät eines Bauernkindes, das einem Feuerfresser zuschaut.
»Nun, was hab' ich Ihnen gesagt?« schrie er, »ist er nicht ein Riesenkerl? Noch nach Jahrtausenden wird man Sie lesen, mein lieber Finstermünz, noch nach Jahrtausenden! Was sagen Sie, mein Semper?«
»Ich habe leider nicht alles verstanden,« suchte Asmus auszuweichen.
Löwenclau stutzte. Dann lachte er laut heraus: »Jaaa – verstanden hab' ich auch nicht alles; aber das ist ja ganz gleichgültig, den Künstler, den Künstler müssen wir bewundern!«
Der Künstler fängt für mich dort an, wo er triumphiert, nicht, wo er versagt, dachte Asmus; aber er sagte nichts.
»Haben Sie vielleicht Goethe überall verstanden?« grinste Finstermünz.
»Verzeihung,« sagte Asmus höflich, »das scheint mir etwas andres. Wo Goethe ›geheimniste‹, da spielte er – er machte Architektenscherze, wie man sie an ehrwürdigsten Domen findet – wo er dichtete, da war er immer klar. So klar wie Shakespeare und Homer.«
In Finstermünzens Zügen las Asmus ganz deutlich das Wort »Kaffer«.
Der Tiefsinnige und der Kaffer paßten auch sonst nicht zueinander. Wo Asmus nicht noch in den Vorurteilen seiner Kindheit und Jünglingsjahre steckte, wo ihm eine Lebenserscheinung neu entgegentrat, da nahm er sie unbefangen in sich auf. Wenn er sie dann hassens- und bekämpfenswert fand, so haßte und kämpfte er mit Leidenschaft, ja auch mit Fanatismus; aber im ganzen war ihm die Welt mit allem, was sie trug, ein täglicher Geburtstagstisch. Finstermünz lehnte von vornherein die ganze Welt ab; Finstermünz war gegen alles. Er schien überzeugt, daß jeder Mensch zu beargwöhnen, jede menschliche Einrichtung zu verwerfen und der einem Denker einzig mögliche Standpunkt gegenüber dieser Welt der der höhnenden Überlegenheit sei. Nur Löwenclaus Rotspohn schien ihm gut zu schmecken. Der Entenbraten auch.
Als das Gespräch sich zufällig auf Familie und Kinder wandte, berichtete Asmus mit heiterem Gesicht, daß er bald wieder Nachwuchs zu erwarten habe.
»Das scheint Sie zu freuen?« meinte Finstermünz mit düsterem Grinsen.
»Ja!« rief Asmus laut und hell.
»Na – da muß man eine recht vergnügliche Vorstellung von der Welt haben, um sich darüber zu freuen.«
»Ja!« rief Asmus mit kriegslustigem Lachen.
»Na – da fühlen Sie sich offenbar in dieser Welt sehr wohl,« höhnte Finstermünz mit aller Verachtung, die die Höflichkeit eben noch zuließ.
»Sehr wohl,« versetzte Asmus. »Und sehr übel, je nachdem. Aber mein eigenes Ergehen scheint mir für diese Frage ganz bedeutungslos, meinen Sie das nicht auch?«
»Kennen Sie noch ein anderes Ergehen als das Ihre?« fragte Finstermünz.
»In gewissem Sinne nein,« antwortete Asmus, »es muß ja alles durch mich hindurch, was für mich Bedeutung haben soll. Es kommt eben darauf an, was durch mich hindurchgeht.«
»Und wie Sie es bewerten.«
»Das hängt weniger von mir ab.«
»Ich dächte, das hinge nur von uns ab.«
»Doch wohl nicht. Wenn dieser Wein Sie im Hals kratzte und Ihnen die Kehle zusammenzöge, dann käme Ihr Urteil vom Wein und nicht von Ihnen.«
»Und die Welt zieht Ihnen nicht die Kehle zusammen?«
»O doch! Manchmal! sogar ziemlich ›manchmal‹. Aber es gibt von diesem Wein auch köstliche Lagen und Jahrgänge, z. B. wenn diese Welt einen Ruck vorwärts macht. Ich will Ihnen nur gleich meine ganze Schwäche enthüllen: ich glaube nämlich an den Fortschritt der Welt.«
»Ach so!« machte Finstermünz, und in seinen Mienen lag jetzt viel mehr als »Kaffer«. Ein Kaffer braucht ja noch kein Idiot zu sein.
»Haben Sie Beweise für Ihren Fortschritt?« fragte er aus eisiger Höhe des Montblanc.
»Ich glaube fast,« sagte Asmus. »Ich weiß nicht, ob Sie wenigstens eine Entwicklung der Welt annehmen?«
»Und wenn ich es täte?«
»Nun, eine solche Entwicklung kann sich vorwärts, rückwärts oder im Zirkel bewegen. Daß sie rückwärts oder im Kreise liefe, hat noch keiner beweisen können. Warum soll ich so lange nicht annehmen, daß sie vorwärts ginge? Wenn die Welt in den Wissenschaften, in der Technik, in der Heilkunst und anderem fortschreitet, warum sollte sie es nicht überhaupt tun? Auch von den Rossen des Helios zieht nicht eines nach vorn und ein anderes nach hinten. Wenn Sie aber den stärksten von meinen Beweisen hören wollen: Ich weiß, daß die Winkel im Dreieck zwei Rechte ausmachen und daß eine andere Summe falsch wäre. Ich weiß, daß die Ilias mehr wert ist als ein Gassenhauer. Ich weiß, daß Liebe besser ist als Haß; das weiß ich sogar körperlich; denn wenn ich hasse, fühle ich mich krank. Das Ganze nenne ich Richtungsgefühl. Wir haben ein Gefühl für die rechte Richtung unserer Entwicklung, ein Gefühl, das schwanken und abirren kann, weit, weit abirren, das aber immer wieder zurückspringt wie die Magnetnadel.«
»Es paßt mir gut, daß Sie von Ilias und Gassenhauer sprechen,« meinte Finstermünz. »Die Ilias wurde vor dreitausend Jahren geschaffen, und Gassenhauer macht man heute.«
»Ich könnte Ihnen entgegenhalten,« erwiderte Asmus, »daß auch heute hervorragende Kunstwerke entstehen und daß es wahrscheinlich auch zu den Zeiten Homers Gassenhauer gegeben hat. Aber das ist belanglos. Ja, wollen Sie denn schon nach dreitausend Jahren einen zweifellosen Fortschritt erkennen? Sollen etwa die sechstausend Jahre Geschichte, die wir notdürftig überblicken, Beweiskraft haben für die Welt? Nach drittehalb Äonen wollen wir uns wieder sprechen, Herr Doktor.«
»Ach so, Sie haben Geduld!« tönte es jetzt aus der Höhe des Chimborazo herab.
»Grenzenlose Geduld!« rief Asmus mit übermütigem Lachen. »Man muß ja nicht alles selber machen und erleben! Ich bin stolz, einem Geschäft zu dienen, das weitschichtige Bilanzen hat und in dem man einen Sonnenwagen braucht, um vom Debet ins Kredit zu fahren. Sehen Sie, ein Mann der Bühne hat mir erzählt: Wenn wir eine Erstaufführung haben, hat auch der letzte Kulissenschieber das scheußlich-köstliche Premierenfieber; auch der Vorhangzieher zittert um Gelingen und Mißlingen des Abends; alle: vom Dichter bis zum Lampenputzer, sind eine einzige freudebangende Seele geworden, und wenn das Spiel gelang, geht auch der letzte Kulissenschieber mit dem Gefühl nach Hause: wir haben gesiegt. Oder, wenn Sie ein ernsteres Beispiel wollen: Auch der letzte Soldat, der einen Napoleon redlich überwinden half, fühlt am Tage des Sieges den ganzen Ruhm, die ganze Kraft und Herrlichkeit seines Volkes, die ganze Befreiung seines Vaterlandes. Wir müssen nur die Welt als eine gemeinsame Angelegenheit betrachten, dann kommt die fröhliche Geduld von selbst.«
»Diese Weltanschauung ist sehr bequem,« spottete Finstermünz, der jetzt den Gaurisankar erstiegen hatte; »da die Sache mit dem Fortschritt doch so lange dauert, so kann man ja getrost erst einmal hundert Jahre bummeln.«
»Sicherlich sind Menschen denkbar, die so fühlen,« rief Asmus, »obwohl dergleichen Leute sich gewöhnlich überhaupt nicht so weit in eine Weltanschauung hinein bemühen. Aber die natürliche Gedankenfolge ist die: Wenn die Entwicklung der Welt eine so schwere und ernste Aufgabe ist, wenn alle, alle an ihr mitzuwirken berufen sind, dann ist jeder Augenblick und jede Handlung von unberechenbarer Größe, und es gilt, mit allem Guten und Großen so früh wie möglich zu beginnen. Ich glaube nicht, daß ich den dauernden Weltfrieden erleben werde; vielleicht ist er noch weit, sehr weit – eben deshalb empfinde ich es als Pflicht, mit allen Kräften für ihn zu wirken.«
»Hahaaaa! Asmus Semper, Sie Friedenskerl – mit Ihrer Kampfnatur!« krähte Löwenclau dazwischen.
Asmus quittierte mit einem vergnügten Lachen über die Logik dieses Einwurfs und fuhr fort:
»Dieser Tage wurde gesammelt für ein lenkbares Luftschiff, das ein hoffnungsfroher Erfinder bauen möchte. Ich glaube felsenfest an das lenkbare Luftschiff, habe immer daran geglaubt; aber seine Zeit ist vielleicht noch fern. Eben deshalb habe ich gegeben, was ich vermochte. Vielleicht gelingt dies Lustschiff so wenig wie alle bisherigen; wenn ich aber einst den ersten Segler dieser Art durch den Luftraum schweben sehe, dann darf ich aus innerster Seele jauchzen: da fliegt unser Luftschiff; wenn ich's ohne Anmaßung meine, darf ich sogar jubeln: da fliegt mein Luftschiff.«
Da es einen höheren Berg als den Gaurisankar nicht gibt und Asmus überdies mit seinem Luftschiff immer höher zu steigen drohte, so stieg Finstermünz vom Berg herunter, nahm seinen Wodanhut, der so breit war, daß das ganze Männchen wie ein Champignon aussah, und verabschiedete sich von dem Baron mit einem freundschaftlichen Lächeln, das aber immer noch wie geronnenes Schwarzsauer aussah, von Asmussen mit einer flüchtigen Verbeugung und einem Gesicht, das soviel bedeutete wie »hoffnungsloser Fall«.