Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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XLII. Kapitel.

Kleiner Auszug aus dem Sündenregister des Herrn Semper.

In Berlin waren es nun gar zwei Darsteller, die Asmussen durchaus nicht gefielen, ein Herr und eine Dame. Und doch machte Asmus mit dem Herrn ein glänzendes Geschäft. Obwohl er ihm nämlich, der sonst ein vortrefflicher, feingebildeter Künstler war, gesagt hatte, daß er dem Stück den Hals brechen werde, wurde ihm dieser Bühnenkünstler in der Folgezeit ein ehrlicher, treuer Freund, und Asmus tauschte für eine verlorene Rollenwirkung ein großes Menschenherz ein. Er war eben ein Glückspilz.

Die Dame freilich war fest davon überzeugt, daß Medea die anmutigste Liedersängerin sei, und hatte offensichtlich das Gefühl, daß sie herabsteige und dem Dichter eine Gnade erweise, wenn sie wie Kreusa tue. Sie tat leider nur so.

Obendrein wurde das Lustspiel viel zu langsam gespielt, und ein Rezensent meinte, das Lustspiel sei gut, aber nicht kurz. Um die Jahrhundertwende durfte ein Stück, wenn es neu war, nicht länger als zweieinhalb Stunden dauern. Diese Zeit wurde dem Dichter gnädig bewilligt; um 10 Uhr mußte er ausgeredet haben. Denn am selben Abend mußte noch die Kritik geschrieben werden, und der Rezensent wollte danach doch auch zeitig ins Bett oder zum Abendessen. Man hatte nämlich dem Publikum eingeredet, daß es schon am nächsten Morgen die Meinung des Kritikers hören wolle. Das Publikum hatte nie dergleichen gewünscht; aber man sagte ihm, es wünsche es. Alle Werke unserer großen Dramatiker wären, wenn sie neu gewesen wären, in dieser Zeit an ihrer Ausdehnung zugrunde gegangen; Don Carlos und Faust wären schon auf ihres Weges Mitte dem Unwillen der Zeitlosen erlegen. Nur für Richard Wagner hatte man angeblich Geduld.

Da aber die Aufführung im ganzen doch einer ersten Bühne würdig blieb und zum Teil vorzüglich war, so erlitt der »Zweikampf« trotz des schwerfälligen Zeitmaßes dennoch keinen Mißerfolg; vielmehr fand er beim Publikum großen Beifall. Auch die Kritik war noch zur Hälfte freundlich oder doch nicht unfreundlich; zur andern Hälfte »reagierte« sie bereits »sauer«. Dieser Herr Semper war ja auch ein Schwerverbrecher.

Denn erstens: Bis dahin war Berlin das Maß aller dramatischen Dinge gewesen. Was den Beifall Berlins fand, war »gemacht«, wie der poetische Geschäftsjargon lautete; was Berlin mißfallen hatte, war ewig verloren. Der Berliner fand das auch ganz in der Ordnung, weil er doch den besten Geschmack hatte. Wie die Alpen bekanntlich viel großartiger wären, wenn sie bei Berlin lägen, so ist der Berliner noch heute davon überzeugt, daß Sago mit Berliner Buchdruckerschwärze angemacht der feinste Kaviar sei. Alles, was außerhalb Berlin lag und geschah, nannte der Berliner nach Pariser Muster »Die Provinz«, um die Vorstellung zu erwecken, daß Berlin alle deutsche Kultur aufgesogen habe wie Paris die französische. Was »die Provinz« leistete, war nicht einmal des Schimpfens wert; man sprach gar nicht davon. Und »die Provinz« hatte sich das gutmütig und auch wohl gläubig gefallen lassen; sie fand auch, daß der Berliner Kaviar doch eigentlich der feinste sei.

Mit einem Schlage, an einem einzigen Abend war das nun anders geworden. Ein obskurer Schulmeister, von dem man bis dahin wenig oder nichts gehört hatte, der zu keiner einzigen Berliner Kaffeestammtischclique Beziehungen unterhielt, hatte in der Provinzstadt Dresden (freilich ohne jede Absicht gegen Berlin) nicht nur einen »Provinzerfolg« gehabt – darüber hätte man mitleidig lächeln können – nein, er hatte einen deutschen, ja, er hatte einen Welterfolg gehabt; denn auch im Auslande wollte man jetzt den »Zweikampf« spielen. Ohne Berlin zu fragen, ohne den vorgeschriebenen Instanzenweg über Berlin innezuhalten, hatte das deutsche Publikum ihm diesen Erfolg bereitet, hatte er gewagt, diesen Erfolg einzustreichen, und den Bann für immer gebrochen. Das war Widerstand gegen eine vorgesetzte Behörde. Aber er hatte ja weit Schlimmeres getan.

Denn zweitens: Er hatte, wie jener beschränkt-intelligente Theaterdirektor ganz richtig gespürt hatte, gegen alles rebelliert, was das typische Berliner Theater und seine Schutzherren bis dahin vertreten hatten. Er hatte mit seinem Stück eine übermütige Kritik geübt an einer Philosophie und Kunst, die ja gar nicht kritisiert werden durften. Er hatte wider eine Lehre gestritten, nach der man alles anzweifeln durfte, nur nicht sie; nach der man über alles spotten durfte, nur nicht über sie; nach der man alles erbärmlich finden durfte, nur nicht sie; nach der die ganze Welt anarchisch eingerichtet werden sollte – unter ihrer absoluten Herrschaft. Ja, schlimmer noch: er hatte in seiner Komödie deutsches Fühlen bekundet in einer Zeit, da es befohlen war, norwegisch-schwedisch-dänisch-russisch-italienisch-französisch-belgisch zu empfinden (das Englische machte erst später den Regenbogen vollständig); er hatte sich so maßlos lächerlich gemacht, deutsch sein zu wollen in einer Zeit, da der deutsche Dichter nirgends in der weiten Welt so verlassen war wie in Deutschland. Wenigstens bis dahin gewesen war. Das Auge der deutschen Kritik hatte so andauernd über die Grenze gestarrt, daß es für die heimatliche Nähe verblödet war. Was es erkennen sollte, mußte so aussehen, daß es ebenso gut in Rußland oder Skandinavien oder Frankreich geschrieben sein konnte. Das Publikum und einige unüberlegte Kritiker hatten nun diesem neuen Manne zugejubelt. Es drohte also ein Erwachen. Vollends durch die Literatenliteratur, die Pseudoliteratur ging es wie ein Alarm: Holla, da ist einer, der klare Deklarationen verlangt – merkt ihn euch! Und man sammelte seine Kräfte für das nächste Stück dieses unangenehmen Ruhestörers. Mit seinem ersten Erfolg hatte er nun einmal die Welt überrumpelt; bei einem zweiten Versuch wollte man vorbereitet sein. Es war ja ein bekanntes, feststehendes Gesetz, daß auf einen großen Bühnenerfolg ein gründlicher Abfall folgte. Dann wollte man seinen Triumph über den »Antimodernen« feiern.

Asmus war damals der fröhlichen Meinung, daß man solche Feindschaften durch neue Leistungen und ehrliche Arbeit leicht überwinde und auf diesem Wege schließlich auch dem wütendsten Gegner Achtung abnötige Und er fühlte tausend Lust- und Trauerspiele in seiner Brust. Vor allen Dingen wollte er jetzt einer gottverdammten Hexe an den dürren Leib, die ihm Jahrzehnte, die ihm den Frühling seines Schulmeistertums verbittert hatte, der Bureaukratie, und sein nächstes Lustspiel sollte »Der heilige Bureaukratius« heißen. Wenn es Aufgabe des Lustspiels war, die Torheiten der Menschheit zu geißeln, so war hier eine ihrer lustigsten, traurigsten, ältesten und hartnäckigsten zu züchtigen.

Er wollte zeigen, daß die im Schematismus erstarrte Schule gar keine Schule mehr sei, sondern nur noch das Gespenst einer Schule, daß in der glatten und blanken Hülle des bureaukratischen Schulapparats kein Blut, kein Fleisch und keine Seele mehr stecke, und daß, was sie vom Lehrer verlangte, auch ein beliebiger Schwindler und Hochstapler leisten könne. Solch einem Schwindler als Schulleiter wollte er einen Mann unterstellen, der die Kindheit und ihr Recht liebte mit Pestalozzischer Glut und Kraft, der die Arbeit und Erziehung als eine Kunst fühlte, und es sollte – vielleicht zum ersten Male – das Wort fallen: Der Lehrer soll ein Künstler sein. Er wußte sehr wohl, daß Konflikte zwischen solchen Künstlern und dem Bureautisch fast immer tragisch verlaufen; aber er hatte sich längst von dem stupiden Dogma losgemacht, daß die Kunst nur zeigen dürfe, was ist; sie hatte nach seiner Meinung noch immer das uralt gute Recht, auch zu zeigen, was sein sollte und vielleicht einmal sein wird. Wenn die Tragödie vom lastenden. den Menschen unterdrückenden Schicksal sprach, so war ihm die Komödie die Kunst des Menschen, der sich gegen die Bosheit des Schicksals und der Menschen auflehnt und sich befreit, die Kunst des Optimisten, die Kunst der Hoffenden. Und da er einen Mann erlebt hatte, der furchtlos mit dem Recht ging, einerlei, ob es unter ihm oder über ihm vergewaltigt wurde, so wollte er ihn als Richter in diesen Kampf stellen; er sollte »eine Stimme sein von oben wie der Gestirne helle Schar«, sollte wie eine morgenbringende Sonne die stickigen Schwaden der deutschen Erziehungsbureaukratie durchbrechen. Ja, mit Hilfe dieses Mannes sollte – schrecklich zu denken – am Ende des Stückes die Tugend siegen, weil es das glühendste Gefühl der Semperischen Seele war, daß das Recht doch nicht umzubringen ist, daß letzten Endes doch das Licht triumphiert, sei es auch nach jahrtausend-, sei es nach äonenlangen Kämpfen. Er hörte schon das weit überlegene Hohngelächter der Pessimisten über diese Banalität. Tröstlicherweise war es dieselbe Banalität, auf der der ewige Tempel des »Faust« ruhte. –

Asmus erfreute sich eines guten Gedächtnisses; aber ganz besonders gut hatte dieses Gedächtnis die Versicherung des Senators Hartmann festgehalten, daß einem erneuerten Urlaub nichts im Wege stehen werde. Jetzt konnte er diesen Urlaub brauchen; er schrieb darum, und er hatte ihn.

Es regnete noch immer Freuden. Und als er eines Abends als Abgeordneter der »Rostra« mit dem Vorstand eines großen und reichen Hamburger Kunst- und Gesellschaftsvereins über eine Kulturfrage zu verhandeln hatte, da sah er sich nach beendigter Beratung urplötzlich zum gemeinsamen Ziele verschiedener Trinksprüche und zum Anlaß einer fabelhaften Maiweinbowle gemacht. Man »schätze sich glücklich usw.«. Da schmeckte Asmus doch in dem herrlichen Maitrank so etwas wie ein bitteres Kräutlein. Zwölf Jahre lang und länger hatte er als Dichter in der Nähe dieser Männer gerungen, und sie hätten ihn wohl bemerken können, wenn sie gewollt hätten. Aber ihm haftete der furchtbare Makel an, ein Hiesiger zu sein. Nun hatten sie's von außen her vernommen, und nun glaubten sie's, daß in Hamburg ein Dichter mit dem Namen Asmus Semper wohne. Nun war aus dem Hiesigen ein Landsmann, sogar ein »berühmter Landsmann« geworden. Zum Glück war Asmussens Herzensgedächtnis für dergleichen Dinge ebenso schlecht, wie sein Hirngedächtnis gut war; ein Unrecht, das aufgehört hatte, war ihm auch verschmerzt; er stieß lachend und dankend mit den Herren an und machte gute Miene zum bösen Spiel der Vergangenheit.

Zum »bösen Spiel«? War es wirklich ein böses Spiel gewesen? Ist »Ruhm« – das, was die Menge so »Ruhm« nennt – besser als Verborgenheit? War jenes schreckliche, tiefe Heimweh, das ihn damals, am Vorabend seines ersten Berliner Triumphes, befallen hatte, ein ahnendes Gefühl gewesen?

Er brachte in dieser Zeit dem großherzigen Herrn Leipoldt die 3217 Mark 50 Pfennig wieder. Herr Leipoldt wurde beinah unangenehm und sagte: »Was ich gegeben habe, habe ich gegeben und verlange ich nicht zurück.« Da gab Asmus das Geld mit seinem Segen weiter. Hatte es ihm Segen gebracht? Ob sein Wirken für die Menschheit ein Segen sei, hatte er nicht zu entscheiden. Und für ihn selbst und die Seinen? Die Zukunft mußte es lehren.


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