Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXVI. Kapitel.

Ein erwachendes Kind, ein Kinderheiland und lauter Glück.

Nach jenem einzigen lichten Tage in der Einsamkeit von Skallö waren Regen und Sturm zurückgekehrt, und als sie immer und immer nicht weichen wollten und auch Hildens Gemüt sich wieder umdüsterte, da ergriffen die Semper mit Freuden eine Gelegenheit, ihren Mietsvertrag mit Anstand zu lösen, packten in wenigen Stunden ihre Habe zusammen und kehrten fluchtartig in die Heimat zurück, wenig erhoben durch den Gedanken, daß sie »ein Vermögen« in die trübselige Bucht von Hjerneborg versenkt hatten.

Als Asmus sich wenige Tage später zu kurzer Ruhe aufs Sofa gestreckt hatte, machte er eine verblüffende Beobachtung: Die kleine Gesina, die bei ihm im Zimmer spielte – sie war so still, daß sie keinen Schlaf störte –, kroch zu ihm heran, griff mit einer Hand ins Sofa, dann mit der andern und – richtete sich auf. Richtete sich auf! Das war ein Akrobatenstück, das man nicht im Traum von ihr erhofft hätte. Und dann rief sie: »Pappa schudecken!« und zog ihm die Decke über die Schultern, und dann ahmte sie mit der Hand das Zusammenziehen der Fenstervorhänge nach und machte dazu: »Rrr! Rrr! Rrr!« und dann sagte sie im Tone einer allerechtesten Mutter: »Schooo, nu schlaf auch schön, mein Schuckerhertsch!« und dann fiel sie wieder auf den Boden zurück, weil die Kräfte nicht weiter reichten. Gebannt, in sprachlosem Entzücken hatte er ihr zugeschaut; dann war er mit einem Satz auf den Beinen, hob das Kind empor, bedeckte es mit Küssen und rannte zu seiner Frau, um ihr das Wunder zu berichten. Sie versuchten auf jede Weise, das Kind zu einer Wiederholung seiner Leistung zu locken; es zeigte indessen keine Lust dazu. Aber am nächsten Tage wiederholte es sein Spiel und lachte dazu. Und seine Krämpfe traten immer seltener auf und wichen endlich ganz, und immer häufiger lachte es, und immer lebendiger und lauter wurde sein Spiel, und mit einem Kegel schlug es immer mehr und immer tiefere Scharten in sein Tischchen, und die Eltern schauten diesem Zerstörungswerk mit Lachen und ermunterndem Beifall zu, und als man es am Weihnachtsabend an sein Tischchen mit Geschenken setzte, da rutschte es augenblicks mit Entschlossenheit wieder vom Stuhl, ergriff die Tischkante und lief, an ihr sich haltend, rund um den Tisch und rief: »O schüsche Puppe, schüsche Puppe!« – lief, lief, lief! Da stürzten den beiden Eltern im selben Augenblick die Tränen aus den Augen, und glücklichere hatten sie noch nicht geweint.

Das war der Segen von Hjerneborg, das war das Geschenk des Meeres, der großen, furchtbaren, gnadenreichen See.

Eine alte, alte Lehre zogen sich die beiden aus diesem Erlebnis, die man, wie alle alten Lehren, erst an sich selbst erfahren muß, ehe man sie annimmt: als ein trauriger, niederdrückender Fehlgriff war ihnen diese Reise erschienen; bekümmert hatten sie dem mühsam zusammengescharrten Gelde nachgeschaut, das sie dafür hinausgeworfen hatten, und hatten nun dafür eingetauscht, was mit keinem Golde der Welt zu messen war. Wie oft sieht Glück wie Unglück aus, Unglück wie Glück!

Mit jauchzender, fliegender Seele stürzte er sich da auf eine Ausgabe, die er glückselig mit beiden Händen ergriffen hatte. Pestalozzis Geburtstag jährte sich zum 150. Male, und Sempern hatten die Kollegen um einen Prolog gebeten. Pestalozzi sollte er verherrlichen, seinen früh erwählten Heiligen, den Mann mit den unergründlichen Liebesaugen! Mit zitternder Seele schrieb er, und wie er's geschrieben, so sprach er's vor vieltausendköpfiger Versammlung:

  Ein fremder Klang fürwahr in unsrer Zeit:
Der Name Pestalozzi! Zwar gehört
Hat man ihn oft genug in diesen Tagen;
Herab von tausend Rednerbühnen klang er
Und hallte nach von Millionen Lippen;
Doch der herabbeschworne Genius findet
Ein anderes Geschlecht, als er ersehnt.
War er nicht schwach im Kleinen, stark im Großen?
Und also ganz ein Gegenteil von uns?
War er nicht ungeschickt und unbeholfen
In allem, was er trieb? War er nicht »praktisch«
So ratlos und so hilflos wie ein Kind?
Ach, nicht einmal den eignen Vorteil kannt' er;
Den andern konnt' er helfen, aber nicht
Sich selber. Hat er jemals wohl verstanden,
Zu einer »immer gleich gestellten Uhr«
Die Schule umzuwandeln (wie man's heiß
Erstrebt in unsrer Zeit), zum Mechanismus,
Erstaunlich, wunderbar, von einem Punkt aus
Geregelt und bewegt und täglich, stündlich
Abschnurrend in vortrefflich ödem Tiktak?
In diesen Walzen, diesen Rädern freilich
Bewegung gibt es viel und viel Geschnarre;
Doch ist das Kunstwerk leider, leider tot.
Was Pestalozzi schuf, war nur ein Garten,
Von einem ewig frischen Quell genährt.
Aus seinem Herzen stark und eben floß
Der immer gleiche, reine Strom der Liebe,
Und hundert welke Blumen hoben rings
Die müden Köpfchen, von verschmachtetem
Gezweig erglänzte junges Frühlingslächeln,
Durch halb erstorbne Wesen ließ er rauschen
Des Lebens Atem und des Morgens Kraft –
Und diese Kunst verstehn wir leider nicht.

Da schlug ihm eine Sturzwelle bekenntnismutigen Beifalls entgegen, die ihn verwirrte; nur mit Mühe vermochte er sich wieder zu sammeln.

Er, dessen Bild euch grüßt, war ein Genie,
Das heißt, er ward verachtet und gemieden,
Das heißt, er ward verspottet und gehaßt.
Doch solcher Geister köstlicher Besitz
Ist ein geheimes, felsenfestes Wissen.
Er brauchte Kinder nur zu seinem Werk:
Denn alles andere besaß er selbst.
Und alle sollten klug und glücklich werden,
Die ärmsten und die schmutzigsten und kränksten –
Und solcher Kinder fand er bald und viel.
Sie zog er sanft in seinen Zauberkreis.
Und herrlich klingt sein Wort: »Sie waren außer
Der Welt; sie waren außer Stanz; sie waren
Bei mir und ich bei ihnen.« Bebt darin nicht
Der stille Jubel eines Siegergeistes? –

Die Neider kamen und verklagten ihn:
Er weicht von den gewohnten Wegen ab!
Er treibt es anders, als wir's Tag für Tag
Und Jahr um Jahr zu treiben längst gewohnt;
Er will ein Andrer, Bessrer sein als wir.
Es kann nicht gut und echt sein, was er tut,
Denn wir durchschauen's, wir begreifen's nicht.
Und als das Werk des Sonderlings man prüfte:
Sieh, da durch Wolken drang zum erstenmal
Die Sonne Pestalozzis klar und groß,
Da ward des Ruhmes grünster Lorbeer ihm,
Als man gestand: Er weiß die Kraft zu wecken.
Kein höherer Ruhm ist ihm zu teil geworden;
Denn höheren gewahrt die Erde nicht.

Der Großen edles Vorrecht war's von je,
Im Morgensonnenlicht das Ziel zu zeigen
Und neue Wanderfreude zu erwecken
In müden selbst und staubbedeckten Seelen.
Und ob er tausendfältig auch geirrt:
Am fernen Morgenhimmel sah er deutlich
Die lichten Berge unsrer Hoffnung glänzen.

O, war' er ganz lebendig noch in uns,
O, trüg' er uns aus aller dumpfen Kleinheit
Zur Freiheit seiner Größe mit empor!
Nun, da er längst gestorben, längst gekrönt,
Nun ist es kein Verdienst, zu tausend Kränzen
Noch einen neuen Lorbeer aufzuhängen.
Wohlan denn, Brüder, weitet euer Herz,
Im Innersten den Helden zu empfangen!
Seid Söhne Pestalozzis, folgt ihm nach,
Groß sei euch groß, und klein sei wieder klein;
Weckt aus geheimstem Seelengrund die Kraft.
Zieht ein Geschlecht heran voll eignen Lebens –
Und alle düstren Schleier dieser Zeit
Zerreißen vor dem Sonnenglanz der Freiheit.

An die Feier schloß sich ein Kommers, und im Verlauf des Kommerses bestieg einer seiner alten Lehrer, der strenge, bissige, immer zum Spott geneigte Grammatiker mit der wunderschönen Römerglatze, das Rednerpult und begann eine Rede. Und mit immer höher zum Herzen steigendem Bangen bemerkte Asmus, daß eine Lobrede auf ihn daraus wurde. Er saß »kalt durchgraut«, in immer neuen Frostschauern rieselte es ihm den Rücken hinunter, und seine Augen hafteten unlösbar am Boden. Als Junge hatte er in Indianerbüchern gelesen, wie die Rothäute Messer und Kriegsbeile scharf neben dem Kopfe des angebundenen »Blaßgesichts« in das Holz des Baumes schleuderten. So war dies. Und als dann die Rede in ein brausendes Hoch überging. da brach plötzlich der Schweiß aus allen Poren und rann ihm in dicken Tropfen von der Stirn. Ihm würde nie der vermessene Gedanke gekommen sein, daß man an einem Abend, da man einen Pestalozzi feierte, auch ihn feiern könne; aber da das Glück ihn überfiel, so hielt er still und war am Ende doch sehr glücklich.


 << zurück weiter >>