Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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XXIX. Kapitel.

Von dem großen Tröster und Erwecker, von einer verlorenen Schlacht und von Werthers Lotte in dritter Potenz.

Schon seit acht Jahren hatte er seinen Kollegen gepredigt: Bringt die Kunst in die Schule. Zunächst wollte er den Menschen und den Kindern der Menschen das große Glück und den Trost der Kunst bringen.

»Den müden und verzagenden Menschen ist eine Verheißung gegeben durch die Kunst: So werden einst die Wiesen leuchten und die Felder, so werden die Hügel klingen und die Haine, so werden die Seelen strahlen und flammen, wie sie flammen, strahlen und klingen in den Gebilden der Kunst! Die Kunst ist eine ewige Seligkeit auf Erden. In der Kunst ist all das Erhabene und Schöne, das Gute und Weise, das ihr ersehnt, zur Wirklichkeit geworden. Nicht zu einer Wirklichkeit, die ihr abpflücken und in den Mund stecken, die ihr zählen und in die Tasche stecken könnt. Dann hättet ihr keine Sehnsucht mehr, und das wäre das Ende der Menschheit. Aber doch ist es eine Wirklichkeit, die ihr im Hirn und im Herzen, in Augen und Ohren, in Nase und Zunge, in Händen und Haarwurzeln, in Blut und allen Nerven und Muskeln eures Leibes mit sinnlicher Gewißheit fühlt! Ein Trostgeschenk Gottes an die Menschheit ist die Kunst, ein Vorgeschmack unserer Vollendung. Ein Künstler ist ein Mensch, der selige Sinne hat. Und sein Auge vermag hunderttausend Augen aufzutun, daß sie wie er die stillgeschäftigen Geister ahnen, die über Berg und Tal die Schleier eines neuen Lichtes weben. –«

»Im Evangelium Johannis spricht Jesus zu seinen Jüngern von dem Beistand, den er ihnen senden werde, wenn er nicht mehr auf Erden wandle. Dieser Paraklet, dieser Helfer oder Tröster soll an seine Stelle treten und die Gläubigen in die ganze Wahrheit einführen. In der Kunst ist uns Menschen ein ewiger Beistand und Tröster, ein vor- und nachchristlicher Paraklet gegeben. Denn in der Kunst ist uns Kraft von der Kraft des Schöpfers, Geist vom Weltgeiste gegeben. In der Kunst jubelt die Menschenseele: »Ich kann schaffen! Ich kann der Idee einen Körper geben! Ich kann Werke schaffen, die das geheimnisvolle Gesicht der Natur tragen, kann Geist vom unfaßbaren Geiste fassen und halten, Geist, der die Grenzen der Gestalt an allen Enden überragt und ihr darum durch die Jahrtausende Leben verleiht; in der Kunst kann ich Seligkeiten, kann ich Paradiese schaffen.« Darum ist die Kunst ein Geschenk des Weltgeistes an die Menschen, das sie mit Händen fassen können, das der Zweifel nicht zerbrechen kann. Die Kunst ist ein Leib gewordenes Gotteswort, das bleibend unter uns wohnt.«

So und ähnlich hatte er geschrieben und gesprochen.

Aber er wollte den Kindern und Menschen die Kunst nicht nur als ein Glück und einen Trost geben, sondern auch als eine Kraft. Er konnte es einfach nicht fassen, daß man bisher von harmonischer Bildung aller menschlichen Anlagen gesprochen und dabei eine Hauptfunktion der menschlichen Seele vergessen hatte: die künstlerische. Man hatte immer nur den Intellekt und den sittlichen Willen zu bilden versucht und seltsamer Weise nicht gemerkt, daß sie gar nicht wirksam zu bilden sind ohne die künstlerischen, die schaffenden Kräfte im Kinde, daß seine Vorstellungen und Strebungen erst die Fülle und Wärme des Lebens erhalten durch Weckung der selbstschaffenden Kraft.

Nun sollten aus allen deutschen Landen die Volksschullehrer in Hamburg zu Tausenden zusammenkommen, und Asmus sollte, von einer Schar gleichgesinnter und stillbegeisterter Genossen gestützt, für die künstlerische Erziehung den gleichen Rang und die gleiche Liebe fordern, die man der geistigen und sittlichen gewährte.

Er kannte die Widerstände. Da waren die, denen das Wort »Utopie« immer vorn auf der Lippe sitzt und die nur zu blasen brauchen, daß es herunterfalle; da waren die, die diese abscheuliche Neuerung herrlich gefunden hätten, wenn sie von ihnen gekommen wäre; da waren die, die von der Gewalt der neuen Rivalin für den Glauben und für die Sittlichkeit fürchteten, da waren die Banausen, die von irgendwelchem Werte der Kunst überhaupt nichts fühlten; da war vor allen Dingen die große, die gefährlichste Masse der »maßvollen« Bremser mit ihrem angeborenen »Sachte, sachte!« in den gnädig lächelnden Zügen, jene Leute, denen die Kunst wohl ein recht angenehmes Sonntagsnachmittagsspielchen ist, aber doch unmöglich eine elementare Erziehungsgewalt, die »das bewährte Alte« in seinen Grundfesten erschüttern könnte!

»Stellen Sie,« rief Asmus, »stellen Sie die Sittlichkeit und die Religion auf den höchsten Gipfel Ihrer Imagination: wir stellen die Kunst daneben. Das wird freilich nicht begreifen, wer in der Kunst nur eine feinere Vergnügungsanstalt sieht; aber begreifen wird es, wer die erziehende Gewalt der Kunst an sich erfahren hat und wer meinen heutigen Worten darin zustimmt, daß die Kunst ein helltönendes und gewichtiges Wort in unserer Weltanschauung spricht, daß sie den Inhalt unseres Denkens unendlich bereichert, unserem Denken selbst eine im höchsten Sinne philosophische Haltung und eine produktive Beweglichkeit gibt, daß sie unsere psychologische Beobachtung wie keine andere Macht vertieft und damit die wirksamste Vorschule der Sittlichkeit gibt, daß sie vermag, dem Sumpfe niederen Vergnügens mit unvergleichlich lockender Gewalt zu entziehen, daß sie uns Mut zum Leben macht, weil sie ein ewiges Denkmal menschlicher Schöpferkraft und also ein Unterpfand unserer Hoffnung auf Vollendung ist, und weil sie unsere Geister und unsere Herzen den Frieden zwischen Geist und Sinnen, zwischen Natur und Gesetz lehrt, weil sie unseren Leib und unsere Seele, unser ganzes Wesen eingewöhnt in das Glück und in die Tugend des Schönen.«

Wie gesagt: Asmus kannte die Widerstände, die wider ihn auf dem Sprunge lagen; aber er hatte sich ihren Kampf doch anders gedacht. Zehn Minuten lang hörte die vielköpfige Menge ihn schweigend an; hier und da rief auch einer »Bravo!« – dann fühlte man sich beunruhigt und begann zu murren; dann ging man zum Lärmen, zu zornigen oder höhnischen Zwischenrufen über; endlich schrie man, in der Angst, daß doch jemand überzeugt werden könnte: »Schluß! Schluß!« obwohl Asmus überhaupt nur 20 Minuten Redezeit hatte.

Wenn den Menschen gar zu ungewohnte und gar zu unbequeme Gedanken entgegentreten und sie doch ein dunkles Empfinden spüren, daß diese Gedanken einmal siegen könnten, dann springt die Wut in ihnen auf.

Es war ein deutlicher Mißerfolg, und dem kleinen Häuflein der Hamburger blieb nichts übrig, als sich, in geschlossener Ordnung um seine Fahne geschart und mit dem Rufe: Wir kommen wieder! furchtlos fechtend zurückzuziehen.

Wäre es ein kriegsgerechter, ritterlicher Kampf mit guten oder schlechten Gründen gewesen, so hätte Asmus sich leicht mit der Hoffnung auf den gewissen künftigen Sieg getröstet. Aber hier war Unreines in die Wunde gekommen. Man hatte geschrien, und Schreien war kein Argument. Zum ersten Male fühlte er wie etwas Physisches die Häßlichkeit der Masse.

Geliebt hatte dieser Demokrat die Masse als solche niemals. Er hatte in Volksversammlungen zu oft erlebt, wie die Masse den größten Torheiten und den verlogensten Phrasen beifiel, und das Wort jenes griechischen Redners, der, als man ihm Beifall spendete, sich unterbrach und fragte: »Habe ich denn etwas Falsches gesagt?« war ihm nur zu verständlich. Aber sein volksfreundliches und revolutionäres Herz trieb ihn dann wieder, zu fragen. Können sie für ihre Unwissenheit und Roheit? Nein, mußte er antworten. Soll man sie mit Gewalt unterdrücken? Nein und abermals nein. Das würde sie nur schlimmer machen und alle bösesten Instinkte der Herrschenden begünstigen. Bleibt also immer nur das Eine: sie besser machen, sie durch Freiheit für die Freiheit reifen lassen.

Hatte somit die Masse seine Ideen zurückgewiesen, so begegnete er ihnen in der Folgezeit immer öfter bei einzelnen, von denen freilich viele seine Hüte trugen, nachdem sie seinen Namen daraus entfernt hatten.

Einen Druck auf der Brust, wie ihn diese verlorene Schlacht verursachte, konnte er aber eigentlich gar nicht brauchen; ihn drückte schon genug, und die Last des Doppelberufs, des dreifachen Berufs drohte ihn zu erdrücken. Seit einiger Zeit lud man ihn auch von auswärts zu Vorträgen und Rezitationen ein; aber da die Schule unter keinen Umständen leiden durfte, so mußten diese Reisen sozusagen »im Gedränge« und unter Zuhilfenahme nächtlicher Eisenbahnfahrten (dritter Klasse) erledigt werden. Er konnte aber in einem Eisenbahnzuge um alles in der Welt nicht schlafen, um so weniger, als die Erregung solcher Vortragsabende noch tagelang in seinen Nerven nachzitterte. Wohl war es eine glückliche Erregung, und auch, wenn er nach solcher »verlorenen« Nacht am Morgen vor seiner Klasse stand, hielt die Spannung der Nerven Geist und Körper noch aufrecht; aber dann, wenn er endlich heimkehrte, kam ein kleiner Zusammenbruch, und er schlich so langsam nach Hause, daß er sich bei seinen jungen Mannesjahren schämte. Und freilich – wenn er dann in die Küche trat und Hilden sah, wie sie, Gesina auf dem Arm, am Herde hantierte, während Leonarda an ihrem Kleide hing und auf tausend Fragen Antwort wünschte, wie sie zu gleicher Zeit Wolfram aus der Fibel lesen ließ und Isoldens erste Schreibversuche überwachte, wenn er sah, wie sie alles mit lächelnder Liebe lenkte, wenn diese Frau dann ihn, ihren Mann, noch mit glückstrahlenden Augen grüßte und wenn er daran dachte, daß diese Frau ihm vor kurzem wieder zwischen Lächeln und Weinen das Geheimnis einer Hoffnung ins Ohr geflüstert hatte – dann sagte er sich: Wenn sie das vermag, was mußt du dann können?!

Froh und stolz hatte Hilde die Pflicht übernommen, ihre Kinder in den ersten Jahren selbst zu unterrichten; sie glaubte, ihnen kein schöneres Geschenk machen zu können, als wenn sie ihnen mindestens noch zwei Jahre frühen und freien Kinderglücks schenkte. Als sie noch Lehrerin gewesen war, hatte ihr eines Tages eine gar nicht wohlhabende Mutter in dankbarer Begeisterung einen Taler in die Hand gedrückt und durchaus nicht verstanden, warum das Fräulein die Gabe lachend zurückwies. Wenn Asmus sah, wie Hilde ihre Kinder lehrte, dann hätte er ihr oft gar zu gern ein Geschenk in die Hand gedrückt; aber so viele Millionen Taler besaß er leider nicht.


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