Otto Ernst
Semper der Mann
Otto Ernst

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LVI. Kapitel.

Über was alles die Semper lachten.

Diese sieben Kapseln waren: seine Familie, seine rein menschlichen Freunde, seine Gesundheit, sein unzerbrechlicher, heiterer Lebensmut, seine unaufhörlich quellende Schaffenskraft, der Widerhall, den er bei Hunderttausenden seines Volkes, und das Verständnis, das er bei den besten Männern seiner Kunst fand. Seit kurzem hatte er auch eine Burg, die vom Jahresanfang bis Jahresende durch Schneeglöckchen, Krokus, Tulpen, Kirschblüten, Syringen, Rosen, Herbstzeitlosen, Astern und Christrosen, durch Nachtigallen, Drosseln, Meisen, Buchfinken, Fliegenschnepper, Stare, ja durch Zaunkönige gegen feindliche Angriffe geschützt war. Zwei Stunden Weges von Hamburg hatte er sich ein einfaches Landhaus gekauft.

Sie hatten die Wohnung wechseln wollen, und Asmus hatte in der Zeitung gelesen, daß in Groß-Offendorf eine »Villa« zu mieten oder zu kaufen sei. Er gedachte eines Feldzuges der Oldensunder Jugend gegen die Offendorfer, der vor 30 Jahren stattgefunden und bei dem er sich im Vordertreffen ein ungemein blaues Auge geholt hatte.

»Geh einmal hin und sieh dir's an!« sagte Asmus, angenehm bewegt, zu Hilden; denn er war nicht abkömmlich.

»Ach,« sagte sie, »das ist doch wohl zwecklos. So weit draußen – es wird auch zu teuer für uns sein.«

Aber er bestand darauf, und sie ging hin.

Als sie heimkam, war sie vollständig beschwipst. Vollständig beschwipst von Blattgrün, Apfelblüte und Drosselschlag.

»Asmus!« rief sie, »wie ist das herrlich!« und fiel erschöpft vor Glück in einen Stuhl. »Ich wäre am liebsten gleich dageblieben!«

»Ohne mich. Ja, das könnte dir so passen.«

Dann gingen sie gemeinsam hin. Der Ort, den Asmus lange nicht aufgesucht hatte, war ein einziger Garten; die »Villa« war schaudervoll. Das sah Hilde natürlich auch; aber sie hatte geglaubt, daß sie sich Besseres nicht wünschen dürfe.

»Und hier wolltest du einziehen?« rief er. »Du hast wieder mal keinen Mut gehabt. Du hast immer nur Mut für andere. Komm mit!«

Sie suchten und fanden zwischen alten, gastlichen Bäumen ein schlichtes Haus, auf dessen Turm ein goldner, zielender Schütze in der Sonne funkelte.

»Entweder,« sagte Asmus, »ist das Eros, oder es ist Krotos, der Sohn des Pan, der den Wohnort der Musen teilte und ein Schütze war. Beide Genien sind mir willkommen.« Und sie zogen ein.

Dort hatte er sich niedergelassen, wo er als Knabe seine seligsten Pfingst- und Maiengänge gemacht hatte. Einst auf solchem Gange hatte er durch eine enge Zaunlücke in einen sonnen- und schattenschönen Garten geblickt und hatte schöne Kinder in lichten Kleidern unter den gütigen Augen einer schönen Frau spielen sehen. Ein Blick durch den Zaun in einen schönen Garten ist immer wie ein Blick ins Paradies. Er hatte nicht wegfinden können von diesem Platze, und es war ihm erschienen, in einem solchen Garten wohnen zu dürfen, sei das wolkenlose Menschenglück, sei unendlich und rein wie die Seligkeiten des Himmels. Der Garten war voll Syringen gewesen, und Syringen schienen ihm der höchste Reichtum. Und Asmus hatte die merkwürdige, die seltsam glückliche Begabung, das Glück eines Gartens nicht nur von außen durch den Zaun zu erkennen, sondern es auch zu sehen, wenn er darinnen war als Herr des Gartens.

In einem Dorf war er geboren, hatte er goldene und traurige Tage der Jugend verlebt; in einer Großstadt hatte er 16 Jahre des Lernens, des Schaffens und des Kampfes verbracht – nun durfte er in die ländliche Natur zurückkehren, in die Heimat seiner Seele. Hier hörte er nicht nur an weichen Abenden den Wettstreit liebejauchzender Nachtigallen, hier sah er auch zuweilen den Specht an seinen Bäumen hämmern, sah er über den schmalen Weg hinter seinem Garten einmal ein wunderschlankes Wiesel huschen, sah er eines frühen Morgens auf seinem Rasen einen vertrauensseligen Hasen sitzen, der sich die Nase putzte, und in einer Sonntagsfrühe erschaute er gar auf der Brüstung seines Altans einen verflogenen, schneeweißen Pfau in majestätischer Ruhe thronen, so daß Asmus nun mitten im Märchenlande war.

Was aber vielleicht das Schönste war: Wenn er bis unters Dach seines Hauses stieg, so sah er über grünen Wipfeln die Wimpel der Schiffe schweben, die seine Mutter, seine andere Mutter: die Elbe, auf ihren Armen trug. Und wenn er abends im Bette lag, so hörte er die Nebelhörner der Schiffe und den eintönigen Gesang der Baggermaschinen und dachte glückselig: Mutter singt mich in den Schlaf. Und wenn er sich einmal ganz verlassen fühlte, trotz all seiner Lieben ganz verlassen, so brauchte er nur eine Viertelstunde zu gehen, um diese Mutter zu finden und getröstet den Saum ihres Kleides zu fassen. Noch immer leuchtete in ihren Augen die Himmelswiese seiner Kindheit.

Er behielt die Großstadt in leicht erreichbarer Nähe, und das schätzte er sich zum Glück. Denn er hatte Menschen so nötig wie Bäume und Bäume so nötig wie Menschen.

Er pflegte den Tag damit zu beginnen, daß er mit seiner Geliebten durch den Garten ging und eine stille Parade abhielt über alle Nadeln und Läuber, über Zweige und Zweiglein, über Blumen und Früchte, über herrlich erfüllte Erwartungen und leis ergrünende Hoffnungen. Und überall auf den kiesbestreuten Wegen zwischen den stillen Blumen gab es hüpfende, jauchzende Blumen; bald tanzten sie ihnen vor den Füßen, bald hallte ihr Lachen aus dem fernsten Versteck des Gartens, bald sprangen sie ihnen von rückwärts an den Hals; es schienen ihrer hundert zu sein und waren doch nur ihrer fünf, weil die Semper leider nur fünf Kinder hatten.

»Sieh doch, Vater!« rief eines der Mädchen, »wie wundervoll unsere Fichte gewachsen ist! Wenn die einginge, das sollte mir schrecklich leid tun!«

Und in Asmussens Kopfe sang es:

»Vater, sieh doch unsre junge Fichte,
Wieder säumt sie hell ihr grünes Kleid.
Und wie ist sie rank und schlank gewachsen!
Welkte sie, mir wär' es ewig leid!«

Also rief sie, unter Blumen stehend,
Selber schlank und lieblich wie der Baum,
Ahnungslos in allertiefster Seele,
Daß sie schlank und lieblich wie der Baum.

Dir, du weltenweiter Sommerhimmel,
Streck' ich unsichtbare Arme aus:
Nimm mit Garbenduft und Wälderklingen
Meinen Jubel in dein heilig Haus!«

Den frischen Hauch von Laub und Blumen in Haar und Kleidern, ging er an die Arbeit. Als er das Haus gekauft hatte, war es zu klein gewesen; er hatte sich ein Arbeitszimmer daranbauen lassen, ein recht langes, das er seine Rennbahn nannte; denn er lief beim Sinnen unaufhörlich auf und ab, und von Norden und Süden blickte die Natur mit immergrünen Bäumen und mit vielem, vielem Licht herein. Dort arbeitete er gern,

»Wo vom Schreibtisch er den Habicht sah
Schweben durch des Himmels große Stille.«

Die niedrigen, dichtumbuschten, dichtumrankten Häuschen sehen von außen lieblich aus; aber in ihrem Innern kann der Geist nicht ganz aufrecht gehen, und im Gange der Jahre wird er lichtscheu. Die Semper liebten hohe Räume mit vielen hohen Fenstern; sie ließen Licht hereinfluten, so viel nur immer wollte, und sie lachten über die kleinen Leute, die ihre Wangen lieber bleichen ließen als ihre Vorhänge, die ihre Teppiche schonten und ihre Seelen verschimmeln ließen.

Wenn er eine neue Arbeit beginnen sollte, fand er vom Garten nur schwer hinein ins Zimmer. Er wand und krümmte sich vor der neuen Aufgabe wie ein träger, ungezogener Schulbube vor seinem Pensum, oder wie ein verwöhnter Tenor, der hundertmal genötigt sein will; er hatte keine Lust zum Gebären. Sobald er aber im Schaffen war, war ihm ums Herz wie der Mutter, der das neue Leben schon im Arme liegt, und er wußte ganz genau, daß es kein Glück gibt über dieses Glück hinaus. Dann konnte er nicht zurückfinden, dann hätte er gern Zwillinge und Drillinge in die Welt gesetzt, dann bestahl er sich oft um den notwendigsten Spaziergang und sann und schrieb und schrieb und sann, bis ein vielstimmiger und wohlgestimmter Gong mit heiterem Klange durchs Haus schallte. Das war wohl ein köstlicher Ton; denn er rief ihn zur Versammlung mit den Seinen um den Mittagstisch. Am Tische der Semper gab es morgens, mittags und abends – außer festeren Speisen – mit seltenen Ausnahmen immer dasselbe Gericht, und das hieß Frohsinn. Wenn Asmus bei Tische noch seiner Arbeit nachhängen wollte und schöpferisch in die Erbsensuppe starrte, dann erhoben die Seinen entrüsteten Einspruch, und er gehorchte sofort, weil sie recht hatten. Die Semper lachten gern, und man lachte in diesem Hause nicht nur – wofern man alt genug dazu war – über Cervantes und Lichtenberg, über Gottfried Keller und Wilhelm Raabe, über Teniers und Spitzweg und über die Barbiere von Sevilla und von Bagdad; man kannte nicht nur das Lachen, bei dem die Gesichtsmuskeln unbewegt bleiben und nur das Auge warm erglüht, nein, man lachte auch – und das war das Furchtbare – über einen wohlgelungenen Hampelmann, über einen Heidelbeerfleck auf Sigruns Nase, über den Hund, wenn er nach Fliegen schnappte, und über tausend kindische Dinge, die mit der Höherentwicklung des Menschengeschlechts nicht das Geringste zu tun haben. Die schwer beglückende Weisheit, daß der Mensch nur mit ethischem Hintergrunde lachen dürfe, genau genommen nur mit tragischem, und auch dann nur einmal im Jahr, diese Weisheit und krampfhafte Hoheit war noch nicht in dies beglückte Tal gedrungen.

Die Kinder bestanden auf ihrem Recht zum Fröhlichsein; sie bestanden auch unerbittlich darauf, ihn jeden Mittag nach dem Essen unter furchtbarem Hallo in sein Arbeitszimmer zu schleifen und dort auf das Sofa zu werfen, auf dem er seine Mittagsruhe hielt. Wenn er dann mindestens zwölf unmögliche Gesichter – »aber verschiedene!« verlangte Sigrun – geschnitten und das Gebell von mindestens sieben verschiedenen Hunden nachgeahmt oder ähnliche eines gesetzten Mannes einfach unwürdige Dinge getrieben hatte, dann wurde er endlich in Gnaden in das Land des Schlummers entlassen. Und wer auf seinen Lippen die Küsse von fünf reinen Kindermäulchen fühlt und durch das klare Fenster in lauter Himmelsblau und Tannengrün hineinblinzelt und bei den wiegenden Wipfeln für alle Hoffnungen des Tages freundlich nickendes Gewähren findet, wie sollte der nicht köstlich schlafen und holde Träume haben!


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