Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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33.

London, den 15. August 1862.

Ja, ich bin's herzlich müde, das bunte Gewirr. Man verliert, wie in London überhaupt, den Begriff von Groß und Klein unter dem tausendfach Bewundernswerten und millionenfach Gewöhnlichen. Der Mensch sieht eben alles, was er sieht, nur in sich. Eine gewisse Menge saugt er ein, dann hat auch das Saugen ein Ende.

Und ich bin voll – nächstens. Ich wollte, ich könnte nach der Ausstellung aufpacken und mit einem Pflug an die stillen Ufer der Wolga ziehen, in einer Kosakenhütte wohnen und abends über die weite, flache Steppe sehen, auf der sich nichts regt, soweit das Auge reicht, als vielleicht, scharf gezeichnet in die Glut der untergehenden Sonne, ein paar einsame Schafsköpfe. Denn Ruhe brauch' ich.

Der Beginn des Drucks meines Volckmars regt mich trotz allem noch ein wenig an. Wie weitab liegen mir »des Ahnherrn Waffen«, wenn ich die Verhandlungen über Armstrongkanonen und Panzerplatten verfolge! Wie weitab Sophokles und Horaz, in dessen ungewohnter Zunge mir letzthin etliche Zeilen aus Deutschland zukamen! Welch eine Kluft liegt zwischen der Welt, die in meiner Heimat des Menschen Dichten und Trachten hinüberzieht in vergangene Jahrtausende, und der meinen, wo mit demselben Ernst, mit derselben nie ermüdenden Tatkraft des menschlichen Geistes gebaut wird für die Gegenwart und gedacht für die Zukunft!

So groß und schön sich das ansieht, so hat es doch auch seine Unannehmlichkeit. Der einzelne steht klein, kaum bemerkbar im Gewühl der Massen. Er ist ein Tropfen, selbst wenn er kein Tropf ist. Was hilft aber das unangenehme Gefühl? Das Kleine muß getan werden, damit das Große werde.

Und so, nachdem ich morgens mein Scherflein für Dingler ausgelegt, stehe ich gegen Mittag zwischen meinen Pflügen, empfange Fürsten und Bauern und predige ihnen zum tausendstenmal, zu was der Dampf auf der Welt sei, nämlich zur Erlösung von Ochsen, Pferden, Leibeigenen und Sklaven. Vor allem aber geben mir meine Landsleute noch immer zu tun. Unglücklich werde ich nicht sein, wenn allmählich die »Schwalben heimwärts ziehen«. Nach der ersten stürmischen Begrüßung ist es gewöhnlich meine Aufgabe, für ihres Leibes dringendste Notdurft zu sorgen. Dann wären sie dankbar, wenn ich ihnen zu einem guten Schluck Ulmer Bier verhelfen könnte. Was sie in ziemliche Verwunderung setzt, ist, daß ich nicht jeden Abend in der Lage bin, mit ihnen Tingeltangel und Theater, Kunstreiter und Wachsfiguren zu besuchen, und daß ich überhaupt nicht des Grades von Erhebung fähig zu sein scheine, die sie bei der Begegnung eines Landsmannes in London empfinden.

Wohl gibt es Ausnahmen, die mich deshalb doppelt freuen. Woche um Woche vergeht mit Kommen und Gehen, mit Erscheinen und Verschwinden. Das Ganze ist ein mächtig murmelnder Strom, den ich vorüberfließen sehe, während ich selber mitschwimme.

Was dann? frage ich mich gegenwärtig manchmal im stillen. Nach meinem Vaterländchen zurückzukehren habe ich vorläufig keine Veranlassung. Die Deutschen würden ja gern Dampfpflüge kaufen, wenn nur das Bezahlen nicht wäre. Überhaupt hat die Ausstellung nicht so unmittelbar auf die Entwicklung eines ausgedehnten Welthandels gewirkt, als man in sämtlichen Zweigen der Industrie erwartete, und die Dampfpflüge machen keine Ausnahme. Daß ich in dieser Richtung Arbeit finden werde, ist keine Frage; wie sie sich in den nächsten Jahren lohnen wird, ist aber auch von Bedeutung und ein zweifelhafterer Punkt.

Trotzdem ich sicherlich in vieler Beziehung mit meinem Schicksal zufrieden sein kann, liegt die Zukunft doch vor mir so ungewiß, so nebelig wie immer! Das ist das Leben! »Sorget nicht für den kommenden Tag!« Werde ich mich endlich auch daran gewöhnen?


Wie sich in damaliger Zeit – der Zeit vor 66 und 70 – in einem jungen, begeisterungsbedürftigen Sinn die Welt widerspiegelte, mag hier stehenbleiben, vor allem, um zu zeigen, wie gründlich seit vierzig Jahren unsre Auffassung des Verhältnisses von Deutschland und England und diese selbst sich geändert haben.


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