Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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98.

Neuorleans, den 6. Januar 1867.

Schneegestöber seit zwei Tagen! Es kann nämlich in der Neuen Welt selbst unter dem 30. Breitegrad schneien. Alles Leben steht fröstelnd still im »sonnigen Süden«. Und wer weiß, wann mir wieder eine solche Gelegenheit entgegenkommen wird, des deutschen Winterabendgeplauders zu gedenken. Sie soll nicht ungenutzt vorübergehen. Die Fahrt, die mich aus dem kühlen Norden in den kaum weniger winterlichen Süden gewirbelt hat, gibt Stoff genug zum Plaudern. Zum Beispiel:

Am dritten Tag, von Neuyork gerechnet, kam mir in der wilden Öde der halbverbrannten Wälder von Kentucky der Gedanke, auszusteigen und meine Weihnachtsfeiertage auch einmal unter der Erde zu feiern. Das war zehn Minuten vor der Station »Cavecity«, die aus ein paar Blockhäusern und, eine Meile waldeinwärts, aus dem »Höhlenhotel« besteht, wie ich nach längerem Suchen später entdeckte. Ich bereue es nicht. Es ist beruhigend für das ganze künftige Leben, wenn man sich sagen kann, einen Superlativ genossen zu haben. Zwei Tage lang kroch ich in der größten Höhle der Welt – der Mammuthöhle – umher und habe weit nicht die Hälfte derselben ausgekrochen. Das Ganze hat überhaupt noch kein Mensch gesehen, wie mir der Höhlengastwirt schon am Abend meiner Ankunft mit Stolz versicherte. Ich glaubte ihm später aufs Wort.

Bewaffnet mit einer Laterne, drei Öllampen, einem Dutzend bengalischer Lichter, mit Kompaß und Skizzenbuch, vor allem aber mit einem Korb voll Eßwaren und Weinflaschen, denn unser wissenschaftliches Streben war von solider Natur, machten wir uns am folgenden Morgen um acht Uhr auf den Weg. Wir waren nur zu dritt: neben mir der Führer und ein zweiter Höhlendilettant, der wie ich in Cavecity den Zug verlassen hatte und drei Tage lang mein hilfsbereiter Begleiter blieb. Wir konnten die Höhleneinsamkeit und das stille Schaffen dieser unterirdischen Welt in ihrer ganzen Gewalt auf uns wirken lassen.

Doch es lohnt sich kaum, all die Gänge, Kammern und Hallen zu nennen, die wir kletternd und gehend, watend und rudernd, aufrecht, gebückt, auf Händen und Füßen und auf dem Bauch kriechend durchforschten, die grotesken Auswaschungen des Gesteins, mit ihren übrigens spärlichen Stalaktitgebilden zu beschreiben und die wunderlichen Namen aufzuzählen, welche die nicht allzu lebendige Phantasie der Amerikaner den einzelnen Teilen der Höhle gegeben hat.

In vielen der Kammern und Gänge finden wir noch das Wasser in voller Arbeit, Schachte vertiefend, Hallen erweiternd, Dome erhöhend. Quellen rieseln von den Decken aus hoch emporgefressenen Nischen und sammeln sich in dunkeln, unerforschten Teichen, deren Zusammenhang mit den Wassern der Oberwelt nur durch das entsprechende Steigen und Fallen derselben erkannt wird. Mit den Tälern draußen unter blauem Himmel sanken auch die Wasseradern und Teiche dieser Unterwelt tiefer und tiefer. Was vor Jahrtausenden ein Wasserbecken war, bildet heute nur noch einen schwachen unterirdischen Zufluß zu tiefer gelegenen Hohlräumen und wird bald, das heißt nach etlichen weiteren tausend Jahren, eine trockene Halle bilden, die nur an der eigentümlichen Form der abgewaschenen Wandungen, an dem geflößten Schlamm, an dem hereingespülten Sand oder Lehm verrät, was einst in ihr vorgegangen.

Dies ist in aller Kürze die Geschichte des Höhlengewirrs, das den Kalk eines mächtigen Gebirgsstocks in dieser wunderlichen Weise zerklüftet. Von den Eindrücken, die man aus der unterirdischen Welt heraufbringt, möge nur einiges Wenige als Beispiel dienen:

Etwa eine Stunde vom Eingang biegen wir um eine scharfe Ecke, von wo aus sich die Haupthöhle scharf nach Osten wendet. Ausschwitzungen von schwarzem Gips überziehen fast die ganze nahezu wagerechte Gewölbdecke des etwa fünfzehn Meter breiten Gangs und geben ihr im Gegensatz zu den senkrechten Wänden ein tief dunkelblaues Aussehen. Der Führer, der hier einen Witz zu machen pflegt, nimmt uns die Lampen ab und entfernt sich mit denselben, in eine Felsenspalte versinkend. Die Wirkung ist großartig. Noch sind die Wände matt beleuchtet und werfen wildgezackte Schatten in ihre Nischen und Mulden. An der Decke aber, die wie der Himmel in tiefer Nacht aussieht, erscheinen blinkende Sterne, welche ihr unsicheres Licht wie aus unendlicher Ferne in dieses entsetzliche Felsental herabwerfen. Es gehört keine Phantasie dazu, dies zu sehen. Es erfordert im Gegenteil die ganze Kraft der Überzeugung, zu glauben, daß wir nicht den blauen Nachthimmel, sondern eine Steindecke fünfzig Fuß über unserm Kopfe anstarren.

Doch der Hauptwitz kommt erst. Der Führer versinkt in einem andern unterirdischen Gang, und der Schatten des Felsens, der uns sein Licht verbirgt, stiehlt sich über den scheinbaren Himmel. Die Sterne verlöschen. Es wird stockfinstere Nacht.

Und diese Stille!

Ich höre die Uhr in meiner Westentasche picken. Mein Begleiter flüstert – und sein erster Laut schlägt wie ein Hammerschlag in das stumme Nichts um uns –, »er höre sein Herz klopfen«. Mein neuer Freund hat Poesie im Leibe, obgleich er Wagner ist.

Plötzlich in weiter, weiter Ferne ertönt das Krähen eines Hahns. »Hallo!« sage ich und will noch etwas hinzusetzen; aber ein Echo, das gleichfalls, nur zehn Schritte von mir, mit einem gespenstigen Seufzer »Hallo« antwortet, geniert mich, und ich bleibe still.

Wieder ein Hahnenschrei und dann hört man die erwartete Sonne heranstiefeln. Erst dämmert es hoch oben über einem zackigen Gebirgshorizont; heller und heller steigt die Morgenröte über der wilden Landschaft empor, die sich da und dort in graulichen Umrissen aus dem Dunkel herausschält. Die östlichen Bergkuppen glühen, und ah! – da erscheinen drei Öllampen vierzig Schritte von uns hinter einem Felsblock!

Der historische Grund, auf dem wir dies erlebten, ist die »Sternkammer«. Die Sterne werden durch das stellenweise Losspringen der schwarzen Gipsdecke erzeugt, hinter der sich Glaubersalz gebildet hat, dessen weiße, zutag tretende Plättchen die Täuschung hervorbringen.

Eine Eigentümlichkeit der Höhle sind die sogenannten »Dome«; senkrechte Auswaschungen des Gesteins von oft unbekannter Höhe und Tiefe. Der schönste derselben ist der Goriasdom, welcher durch einen Nebengang erreicht wird, der von der Haupthöhle rechts abzweigt. Eine Leiter führt in einen engen Spalt hinab, der sich nach einiger Zeit zu einem sechs Fuß breiten, vielfach gewundenen Gang ausweitet. Ein Steg trägt uns sodann über einen Schacht ohne Namen, bis wir schließlich in der linken Wand eine Öffnung erblicken, die mit einem Balkonfenster verglichen werden könnte, wenn nicht alle Vergleiche aus der Oberwelt in diesem Reiche der Nacht irreleitend wären. Eine andre Öffnung erlaubt dem Führer, ein bengalisches Licht in den Schlund zu werfen, von dem wir tatsächlich nur durch eine dünne, durchbrochene Wand getrennt sind. Welcher Anblick! Gräuliche Felsenzacken werfen zuckende Schatten nach oben und unten. Von den nassen hervorstehenden Spitzen fallen perlende Tropfen in das unendliche Dunkel. Verwirrt starren wir in das Ding ohne Boden und Decke. Von unten flackert es auf, matter und matter, bis endlich das ganze dämonische Traumbild wieder in Nacht versinkt. Wir hören nur noch das einsame Tropfen der Steine und fragen uns mit leisem Schaudern, was oben und unten war.

Nun auch einiges von den Gewässern, den eigentlichen Schöpfern dieses Höhlengewirrs.

Das erste Wasserbecken, dem wir begegnen, liegt in einer Spalte, die sich in einer Breite von sechs Metern an der Wand auf unsrer linken Seite hinzieht. Der Boden der Höhle, der sich mehr und mehr senkt, ist hier mannigfach durch Spalten zerrissen und das Vordringen beschwerlicher. Doch läßt die wilderhabene Szenerie den Gedanken an die kleinen Unannehmlichkeiten der Wanderung kaum aufkommen. Die Stelle heißt das Tote Meer.

Der nun folgende »Styx« ist ein fünfzig Meter langer Teich, von einer natürlichen Felsenbrücke überspannt, über die wir auf das andre Ufer des Wassers gelangen. Die Höhle, deren Decke nahezu horizontal zu bleiben scheint, gewinnt hier an Höhe, indem wir allmählich den dunkeln Wasserspiegeln unter uns näher kommen. Endlich erreichen wir das finstere Ufer der »Lethe«, welche die ganze Breite der Höhle einnimmt und über der sich in einer Höhe von dreißig Metern in undurchdringlicher Finsternis die Decke des Gewölbes schließt.

Ein merkwürdiger Anblick, diese stillen, regungslosen Wasser, die stummen Felsenwände und das tiefe Dunkel, in dem sich vor uns Wasser und Felsen verlieren. Ein rohgezimmertes Boot liegt am Strand. Das Klatschen der Ruder im Wasser hallt dumpf über dem schwarzen Spiegel, der in ungewohnter Bewegung zittert. Die drei Lämpchen schauen uns aus der unergründlichen Tiefe, über die wir gleiten, zitternd entgegen; jeder Ton wiederholt sich aus einer unerwarteten Nische. Nach wenigen Ruderstößen ist das Ufer aus dem Gesicht verloren, und wir gleiten fast lautlos zwischen den senkrechten naßbraunen Felsenwänden dem undurchdringlichen Dunkel entgegen.

Bekannt sind diese Höhlenwasser durch die augenlosen Fische und Krebse, die in denselben leben. Beide sind vollständig weiß. Die Unterwelt kennt keine Farben.

Der Eindruck der stillen, feierlichen Fahrt ist ein erhabener. Lautlos bewegt sich das Boot den Wänden entlang. Manchmal nur hört man einen Tropfen fallen und sieht plötzlich vor sich in der Nacht das Spiegeln der sich folgenden Wasserringe, die er erzeugt. Die starren, wunderlich gestalteten Wände scheinen leblos, und doch fühlt man sich im Innersten der ewigen, still schaffenden Natur, in der lautlosen, aber nie ruhenden Werkstätte der Jahrtausende.

Die Mammuthöhle mit ihrer trockenen, gesunden Luft, mit ihren geräumigen Gängen, mit ihren unerforschten Geheimnissen in jeder Richtung ist wohl die einzige, soweit ich Höhlen kenne, die man nicht mit einem aufatmenden Gefühl freudiger Erlösung verläßt. Wie fast jede andre Höhle, verwirklicht aber auch sie kaum die außerordentlichen Vorstellungen, die sich die jugendliche Phantasie so gern von Höhlen bildet; denn ihre gewaltige Größe macht sich eher den Beinen bemerklich als dem Auge. Dagegen gibt sie, wie wenige Höhlen, ein wunderbar vollständiges Bild der Tätigkeit der Natur, die noch heute an diesem ihrem Lieblingsmeisterwerk im Höhlenbau schafft und neue Kammern, neue Schachte und neue Gänge auswühlt zum Ergötzen künftiger Jahrtausende.


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