Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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82.

Jerusalem, den 26. September 1865.

Mit dem Lloyddampfer »Maximilian« kam ich in Jaffa an, um meine Pilgerfahrt anzutreten.

Ich glaubte schon der einzige »fromme Pilger« zu sein. Doch im Landungsboot zeigte sich, daß der Archimandrit der russischen Gesandtschaft in Konstantinopel desselben Wegs zu ziehen gedachte. Ein sogenanntes »English Hotel« fand ich Choleraangst halber geschlossen, und so befand ich mich eine Stunde später nach vielem Treppensteigen in dem Franziskanerkloster der Stadt einem gemütlichen Bruder und, weil es Freitag war, einem frugalen Mahle gegenüber, unter den schweren Kreuzgewölben des römischen Klosterstils.

Schon nach wenigen Minuten stellten sich Dragomans und Pferdeverleiher in Menge ein. Man sagte mir, daß die österreichische Post noch mit Sonnenuntergang abgehe und morgen um neun Uhr in Jerusalem sein werde; nichts sei klüger, als sie zu begleiten. Die österreichische Post besteht aber nicht etwa aus einem Eilwagen, sondern aus einem Mohren, einem Gaul und einer ledernen Tasche. Obgleich noch halb seekrank, entschloß ich mich, den Vorschlag anzunehmen. Zwei Pferde erschienen. Auf dem einen mein Koffer und mein Reitknecht, auf dem andern ich, so ging's um fünf Uhr, der »Post« voraus, in den herrlichen Abend hinein.

Zuerst, über den Hügel von Jaffa hin, kommen grüne Gärten, von mannshohen Kaktusbirnstauden eingehegt, dann Felder, Heiden, kahler und kahler werdend, da und dort ein Dorf im Schatten von Oliven- und Feigenbäumen, endlich Steine, Kalkfelsen, Sand und halbe Wüste.

Nach einer halben Stunde holte ich die russische Geistlichkeit mit ihrer Karawane von Packpferden und Kawassen ein. Der würdige Archimandrite sprach drei Worte Deutsch und weitere drei Französisch, war aber die sanftmütige Höflichkeit selbst. Es war finstere Nacht, als wir uns nach zwei Stunden Ramleh näherten, dem einzigen größeren Orte zwischen Jaffa und Jerusalem. In dem dortigen griechischen Kloster hatte mein hochwürdiger Reisegenosse im Sinn, einige Stunden zu schlafen, und da die Post mich noch nicht eingeholt hatte oder der österreichische Mohr bei Nacht vielleicht gar nicht sichtbar war, so ließ ich mich gerne überreden, zur Abwechslung unter die Fittiche der griechischen Kirche zu kriechen. War des Archimandriten Französisch auch mangelhaft, der Tee, den er mir in jener Nacht braute, machte seinem Herzen, seinem Vaterlande und seiner Kirche alle Ehre.

Um zwei Uhr ging es weiter. Sternenhimmel. Öde, stille Wildnis. Der Weg war etwas hügelig und geht streckenweise über bloßgelegte weiße Kalkfelsen, ein unangenehmes Reiten in der Finsternis. Endlich dämmert der Tag, und wir erreichen mit dem ersten Schimmer einen elenden Khan (syrisches Wirtshaus), wo außer Kaffee und Arak selbst um ein beträchtliches Backschisch nichts zu haben ist; er liegt am Eingang eines Felsentals, das uns in die Berge von Judäa hinaufführt.

Hier auf einer alten Römerstraße, deren fester Bau und halsbrechende Eigenart den Rossen und Reitern des alten Roms alle Ehre machten, geht es nach kurzer Rast weiter. Bald, von dem Kamm der mit Dorngestrüppe bedeckten Hügel aus, erscheint das ferne Meer und Jaffa in unserm Rücken, bis man in ein zweites tiefes Tal hinuntersteigt, wo bei einem Dorf eine zerfallene Kirche aus Kreuzfahrerzeiten steht. Abermals ein Khan, Kaffee, Arak und Trauben. Und wieder geht es aufwärts, der Wasserscheide zwischen dem Toten und Mittelländischen Meere zu. Oben ein Wartturm, plump und schwer, ringsum kahle, felsige Täler, dann noch ein Warttum, und noch einer, und als der vierte erscheint, ruft der landeskundige Führer des Archimandriten: »Jerusalem!«

Nach wenigen hundert Schritten liegt die Nordwestseite der heiligen Stadt vor uns. Den Vordergrund bildet eine nach Süden sanft abfallende Ebene, mit Geröll und Steinen und spärlichen Oliven bedeckt. Links auf derselben stehen die stattlichen Gebäude des russischen Konsulats. Rechts ist das »Tal Hinnom«, das sich nach Süden rasch vertieft. Von der Stadt sieht man fast noch nichts als die stattlichen Mauern, die sich über den Berg Zion hinziehen, den man in seiner ganzen Länge vor sich hat. Ungefähr in der Mitte der uns zugekehrten Westseite der Stadtmauer erhebt sich der »Turm Davids«, die jetzige Zitadelle der Stadt. Die Nordseite verschwindet hinter dem Rücken des Hügels, von dem wir herabkommen. Links im Hintergrund endlich ist der Ölberg mit der Himmelfahrtskirche auf seiner Höhe, rechts, Zion überragend, der »Berg des bösen Rats«, und zwischen beiden, einen vollen Blick in das Gebirg über dem Toten Meere gestattend, die tiefe Schlucht des Kidron. Gelb und grau und dunkelgefleckt, wo Oliven die graslosen Abhänge bedecken, würde das Bild im brennenden Sonnenlicht ohne jene Fernsicht öde und trostlos erscheinen; aber eben die Fernsicht, die örtliche der Wirklichkeit, und noch vielmehr die zeitliche, geistige, bringt die gewaltige Wirkung hervor, die seit mehr als tausend Jahren von Millionen Menschen auf dieser Stelle empfunden wurde – einer Stelle, wo der arme mißhandelte Pilger, der kühne Kreuzfahrer und der Reisende von heute in stiller Andacht aufatmen, und wo selbst der Zweifler aller Zeiten sich kaum erwehren kann, sein »Jerusalem!« zu rufen. Was soll ich nun schreiben das nicht schon hundertfältig besser und ausführlicher geschrieben worden wäre? Seit zweitausend Jahren haben Dichter und prosaische Menschen, Künstler und Gelehrte, Geistliche und Laien, Baumeister, Naturforscher und Philologen der Welt erzählt, wie Jerusalem aussieht. Von Kindesbeinen an haben wir uns aus all dem ein Bild geschaffen. Nichtsdestoweniger findet fast jeder neue Pilger, wie falsch dieses Bild ist, wie sehr sein »erster Eindruck« hinter seinen Erwartungen zurückbleibt oder dieselben übertrifft. Dem einen ist Jerusalem zu schlecht, dem andern zu gut, dem einen zu kalt, dem andern zu heiß, dem einen ist Moria zu bergig, dem andern Zion nicht hoch genug; der eine kann sich über die erbärmlichen Zustände, in denen er Häuser und Straßen, Menschen und Tiere, Berge und Täler, ja selbst das Wetter findet, nicht beruhigen, während der andre – In meinem Zimmer liegt eine englische Bibel, nach englischer Weise dem Gasthof für den Gebrauch der Reisenden geschenkt; auf dem ersten Blatt steht auf Deutsch eingeschrieben: »O du schönes Jerusalem! Luise Weber. Leising! Sachsen 1863.« –

Es kommt wohl daher, daß ich den Anblick orientalischer Städte mit ihren engen Gassen, ihrem Staub und Schmutz und ihren Trümmerhaufen gewohnt bin – mir gefällt die Stadt: die zinnengekrönte Mauer, die Häuser mit Hunderten von kleinen Kuppeln, die das fehlende Bauholz ersetzen müssen, das Auf und Ab der Gassen, und vor allem die tiefen schluchtartigen Täler von Josaphat und Hinnom. Nur ein Umstand, aber gerade dieser im Zusammenhang mit dem Angelpunkt, um den sich für uns die ganze Bedeutung der Stadt dreht, berührte mich in unangenehmer Weise.

Mit allem Suchen und Forschen, Behaupten und Widerlegen in betreff der heiligen Orte sind wir endlich so weit gekommen, daß wir gar nichts mehr wissen. »Der Glaube versetzt Berge.« Kann man sich wundern, wenn er die Mauer des Herodes etwas wunderlich zieht, um seine Grabeskirche, die freilich jetzt mitten in der Stadt steht, vor das Tor hinauszubekommen? Tut der Unglaube nicht noch Größeres, wenn er Zion nach Moria und Moria nach Zion versetzt, Golgatha auf die Tempelstätte legt und mit dem Tempel, nach einer kleinen Verlegenheitspause, gen Südwesten wandert? Es wäre fast komisch, wenn das Spielzeug, womit fromme Phantasie, oft auch Gelehrteneitelkeit und noch öfter konfessioneller Haß und Neid zu spielen pflegen, ein andres wäre. Ebenso lächerlich würde es sein, wollte ich mir in zehn Tagen eine bestimmte Ansicht selbst herausklügeln und sie Euch als das Neueste und deshalb Beste mitteilen. Ich habe keine neue alte Mauer gefunden und sehe es den Steinen nicht an, ob Salomo oder Herodes sie aufgebaut, Titus oder Nebukadnezar sie umgeworfen hat. Wo sich so viel Scharfsinn in den Haaren liegt, ziehe ich mich gern zurück und mache in der Entfernung friedlich und bescheiden eine Skizze des Schlachtfeldes, auf dem der Streit tobt.

Kehren wir zurück in die Welt von heute. Vor allem braucht man in derselben eine Wohnstätte. Gegen die Gastfreundschaft der Klöster sträubte sich mein protestantischer Magen. Es gibt zurzeit zwei Gasthöfe in Jerusalem, das Hotel von Damaskus und das Mediterranean Hotel, die beide seit Monaten völlig leer stehen. Letzteres wird von einem guten Altbayern in schwäbischer Mundart regiert und hat die Ehre, mich in seiner einsamen Größe zu beherbergen. Beide kennen die Allerweltsschablone noch nicht, sind aber gute, winklige Häuser mit kleinen Zimmerchen unter Kreuzgewölben, mit Treppen auf und ab und einem Dach, auf dem man über Kuppeln stolpert und den ersten erstaunten Blick auf das Innere der Stadt wirft.

Mein Hauptgang am folgenden Tag galt natürlich der heiligen Grabeskirche. Es war Sonntag. Doch wurde ich durch nichts gestört und ging meiner Wege ungehindert durch die bunt durcheinandergewürfelten Gebiete der vier Konfessionen: Lateiner, Griechen, Kopten und Armenier; obgleich ich nach Geburt und Überzeugung nur ein kleines Kapellchen für die »ketzerischen Fürsten«, in welchem Staubbesen, Leitern und andres frommes Handwerkszeug steht, beanspruchen konnte.

Von Rechts wegen gehöre ich in dieses Besenkabinett. Von Rechts wegen sollte ich mich auch mit Entrüstung von dem Stein abwenden, auf dem nach römischer Tradition der Leib des Heilandes gesalbt wurde oder von dem Riß im Felsen, in welchem nach griechischem Glauben das Kreuz gestanden hatte; denn es ist ja nahezu gewiß, daß weder das eine noch das andre wahr sein kann und überdies ist immer ein Stein Stein und der Geist Geist. Aber es hilft alles nichts, selbst vor der Kaaba in Mekka, der sich Millionen Menschen zuwenden, wenn sie beten, fühle ich eine gewisse Verehrung. Die Berührung mit so vielen Arten von Gläubigen, vom schottischen Presbyterianer herab fast bis zum Fetischdiener, muß es machen. Sind sie nicht alle Menschen wie ich? Soll ich sie geringer schätzen, weil sie einen andern Weg gegangen sind oder geführt wurden als ich? Niemand kann einen Stein verachten, aber achten kann ich ihn um ihretwegen, um der Millionen meiner Mitmenschen willen, die ihn verehren. Tausende denken und fühlen anders. Aber in diesen Sachen hat jeder Mensch sein eigenstes Recht und kein Mensch dasjenige, den andern zu richten.

Der Eindruck, den die Grabeskirche macht, war für mich ein ergreifender, und der Reichtum von Gedanken aller Art, den ein Gang unter diesen feierlichen, reichgeschmückten Gewölben und Kuppeln hervorruft, umgeben von einer Volksmenge aus allen Nationen, vom halb beduinenhaften Maroniten bis zum feierlichen Engländer, vom schwarzen Abessinier, der bescheiden und verlegen nach seinem Kapellchen sucht, bis zum Archimandriten aus Sibirien, welcher stolz in seinen goldschimmernden Chor tritt, ist überwältigend. Selbst all das Wunderbare und Wunderliche, vom Opfer Isaaks bis zur Auferstehung des Herrn, das Geschichte oder frommer Betrug hier zusammendrängt, vermag hieran nichts zu ändern.

Hundert bessere Federn haben übrigens all das vor mir beschrieben und werden es nach mir beschreiben. Mein Brief soll kein Buch werden. Ausflug folgte jetzt auf Ausflug; Skizze auf Skizze füllte meine Zeichenmappe. Ich bin versucht, die Bildchen aufzuzählen. Aber was könnte ich damit bieten, als Worte ohne Form und Farbe. Und schließlich werdet Ihr sie, so Gott will, doch einmal zu sehen bekommen. Aber auch damit kann ich Euch nicht geben, was ich als unveräußerlichen Schatz aus Jerusalem mitnehme: ein Stück gelebtes Leben, das das Innerste in uns berührt.

Ein viertägiger Rundritt soll meinen Aufenthalt in Palästina beschließen: Jerusalem, Bethanien, Jericho, Jordan, Totes Meer, Kloster Mar Saba, Hebron, Bethlehem, Jerusalem. Hier stellten sich aber zwei kleine Schwierigkeiten ein. Ich scheine nämlich in einem gewissen magischen Zusammenhang mit der Cholera zu stehen, infolgedessen sie ausbricht nicht nur, wo ich mich befinde, wie in Beirut, sondern auch wo ich hingehen will. So wurde am zweiten Tag meiner Ankunft verkündigt, daß zwischen Hebron und Jerusalem vier Tage Quarantäne zu halten sei. Damit fiel dieser Teil des Planes von selbst weg. Der zweite Punkt war, daß am ersten Tag meiner Ankunft ein Räuber, der Schech der Taamreh-Beduinen, die in den Gebirgen Moabs wohnen, aber die Straße von Mar Saba beherrschen, in Bethlehem gefangen worden war und wahrscheinlich gehenkt wird. Deshalb war dieser Stamm in großer Aufregung, und es wurde die Vermutung ausgesprochen, daß die Leute den nächsten besten Europäer als Geisel abfassen dürften, eine etwas unangenehme Aussicht für den Betroffenen! Vorerst besuchte ich den preußischen Konsul Dr. Rosen, einen liebenswürdigen und hochgelehrten Herrn. Dieser nahm die Sache leichter, mein Dragoman mietete vier Beduinen vom Stamm Niseria, durch deren Gebiet hauptsächlich unser Weg führt, und soeben bin ich von einem der lohnendsten und interessantesten Ausflüge zurückgekehrt, die der Mensch machen kann. Die Hitze war freilich fürchterlich, und acht bis zehn Stunden täglich im Sattel ist mehr, als man zur Verdauung nötig hat.

Mit Steinen und Blumen, Jordanwasser und Sand vom Toten Meer, Kreuzen und wunderbaren Angriffs- und Verteidigungsprügeln der Eingeborenen, wie auch mit etlichen fünfzig Skizzen reich beladen kehrte ich nach Jaffa zurück. Ich wollte nur, ich könnte Euch einen Teil davon zutelegraphieren.


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