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Der eisige, die Straße hindurchjagende Luftzug biß in sein erhitztes Gesicht. Kai griff empor, strich deckend darüber hin, aber nun war es doch, als ob Risse in seinen Wangen aufgegangen seien, ein tiefer, zackiger Spalt schien in der Stirn zu klaffen, und drinnen sang Blut, Blut preßte aus allen Adern, weißlich schäumend verhöhnte es die Kälte, und jeder Herzschlag trieb es zu immer wilderem Toben an. Es sang, es schrie, es jagte in ihm. Gegen jedes Fleckchen der Aderwände preßte es sich und erhitzte sein Fleisch.
Bilder waren plötzlich da und schon wieder ins Dunkel gerissen von dem Wind, der um die Ecken jagte: die anspringenden Brüste; ein geschlossener, roter, schmiegsamer Mundwinkel Ilses, den mit dem Finger zu durchdringen und auseinanderzutun Versuchung war; das Gesäß eines Jungen, an dem eine Sekunde lang seine Hand geruht – unter dem glatten Wollstoff schlug ein sich strammender Muskel wie der Schwanzschlag eines Fisches –, die rasende Lust überfiel ihn, sich hineinzukrallen in dieses Gesäß und es aufzubrechen wie einen mürben Apfel. Und wieder ergriff Kai jenes Unwohlsein, dieser Schwindel, der ihn ohne Zugriff die Treppe hinabgedreht hätte, dieses atemraubende Herzklopfen, das die Brust zerbrechen zu wollen schien, als er, die Stufen zu seinem Zimmer hinaufsteigend, die starken Beine von Erna gesehen hatte, über deren gestrammten Kniekehlen der weiße Rand einer Hose erschienen war.
Er taumelte. Wie von einem rasenden Zug aus gesehen enttauchten Häuser grell beleuchtet dem Dunkel und entzogen sich mit einer eigenwilligen und düsteren Gebärde seinem Blick. Kein Ruhepunkt! Stolpernd, vornüber fallend, fing er zu laufen an, streifte an Wänden vorbei, deren Poren einen klebrigen Schleim abzusondern schienen, ein O-förmiger Torbogen suchte ihn anzusaugen, die Luft war erfüllt von einem verdeckten, durchdringenden Geruch, der ihn zittern machte, aber da war die Brücke, der Park, er eilte unter Bäumen, das Eis einer dünn überzogenen Pfütze zerklirrte an seinem Schuh, eine Bank und nun ein Zusammensinken, ein Stillwerden.
»Wovor bin ich geflohen? Wer jagte mich? Was war das? Bin ich krank? Werde ich wahnsinnig? Was frißt an mir und empört mich gegen mich? Diese sich hebenden Fleischmassen, atmend, bedrängend, duftend! – Da ist es wieder!«
Er sah ins Dunkel. Irgendwo schlug der Wind einen losgebrochenen Ast trocken hölzern gegen seinen Stamm. »Nein, schon wieder fort, es läßt sich nicht fangen. Es bestürmt mich, macht mich rasen und ist von neuem verschwunden.«
Ein ungewisser Schein zeichnete auf dem Boden die Schatten der Äste über ihm, sein Fuß tastete dem einen nach und fand sein Bild plötzlich versickert, geendet. »Unbegreiflich, und doch – dies alles hat eine Wurzel: Erna, Ilse, der Junge, die Brüste. Aber ich begreife es nicht. Damals, als ich nichts wußte – aber jetzt? Damals, als ich entdeckte, daß die Frauen nicht so sind wie wir, anders gebaut. Habe ich nicht alles darüber nachgelesen im Meyer? Und nun? Was denn noch? Gibt es noch anderes? Oder muß dies so sein? Eine Krankheit, die jeden packte?«
Er hob sein Gesicht zum Himmel, stand auf; dann, rasch sich im Kreise drehend, griff er zu, und: »Ja, so war es. Sie flüsterten von Periode damals, in der Pause, auf dem Lokus. Dies wäre dann die Periode?«
Er setzte sich wieder, überlegte, rief Gesichter: Arnes, Klotzschens, das seines Vaters. »Nein, unmöglich, sie so aussehend, dem ausgeliefert! Unmöglich! Also ich allein? Ich allein krank an einer unnennbaren Krankheit, von der ich nie sprechen kann? Was wäre zu sagen? Nichts. Alles zu verbergen!«
In der Ferne sprang der Motor eines Autos an, erst ungleich, dann regelmäßig schlagend warf er zwischen die Bäume die Strophen eines Liedes von unfaßbarer Sicherheit. Kai strich mit der Hand durch die Luft, rasch, wieder und wieder. »Nein! Nein! Nicht für mich! Was denn nun? So, immer so weiter? Nein, nicht so weiter! Immer tiefer hinein, ich fühle es wohl. Bin ich nicht schon ganz gefangen, ganz vergiftet?«
Er horchte. Alles war still geworden, nur der Wind hämmerte seine trockene Melodie, irgendwo dorthinten. »Keine Rettung. Nirgends.«
Seine Arme hängen lassend, übergab er sich ganz der bitteren Stimmung tiefsten Entmutigtseins. Seine von Eiswasser gefeuchteten Füße schmerzten. Hier, so allein mit dem Wind und den namenlos fremden Bäumen, schien er sich der einzige Mensch auf der Welt.
Nein, nicht der einzige: rasche Schritte wurden laut, er schob sich zurück, eine Frau, ein Mädchen kam, unsicher spürte er ihren Blick nach ihm tasten, dann war sie vorüber. Kai sprang auf. Plötzlich fühlte er es: »Sie, sie weiß alles, sie, die dort geht, kann mir helfen. Ich muß nur den Mut haben, sie zu fragen, anzuflehen, dann bin ich gerettet. Und ich habe den Mut.«
Er stürmte los, er stolperte über Schneehaufen, vorn ihre Gestalt, er raste, er fühlte nichts als seinen Lauf, näher, näher. Sie warf den Kopf herum, spähte nach dem springenden Schatten und schrak zusammen. Aber schon war er heran, stolpernd umklammerte er ihre Arme, hinfallend hielt er sich an ihrem Kleid. »Sie! Sie! Hilfe!«
Da riß sie sich von ihm los. Er sah ihr erschrockenes Gesicht, einen halb geöffneten Mund, in dessen Feuchte ein Schrei ertrunken zu sein schien, dunkle Augen, deren klein gewordene Blicke über ihn weg in die Nacht irrten, aber schon war sie fort, und nun in der Ferne brach es aus ihr, spitz, überschlagend und dann lang wimmernd: »Hilfe! Hilfe! Hilfe!«
Er stand, strich mit den Händen über seine durchnäßten Knie. »War ich das? Was schreit sie? Ich habe sie erschreckt ... Auch sie schreit nach Hilfe, nach Hilfe vor mir. Was nun?«
Aber Rufe, näherkommende Schritte zwangen ihn zur Eile, er lief den Weg zurück, dort seine Bank, nun der hallende Schritt auf den sandgestreuten Platten der Straße, ein Platz, wieder Straßen, dort eine elektrische Bahn. »Seltsam! Noch immer fahren sie, soviel ist geschehen und noch fahren sie!«
Dann das Haus, der Schlüssel will nicht greifen, schon meint er den hastigen Schritt der Verfolger zu hören, da empfängt ihn das beruhigende wärmere Dunkel der Vorhalle, die Treppe, die er schleichend emporklimmt, um die Eltern nicht zu wecken, und nun sein Zimmer. Schon ist es erhellt, Menschen, Welt liegen hinter den gelben Vorhängen, und was um ihn ist, ist sein.