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27

Auf sein Klingeln sagt das Mädchen: »Die Sprechstunde ist vorüber. Herr Doktor bedauert.«

»So ... Es ist gut.«

Er dreht um, steigt wieder die Treppe hinab, langsam. Dann: »Aber ich bin angemeldet. Ich muß zu ihm.«

Zögernd wehrt er ab. »Das Mädchen. Gleich hätte ich es sagen müssen.«

Auf dem Treppenabsatz von neuem verharrend: »Papa wird meinen, ich habe nicht gewollt. Ich muß zurück.«

Vor der Tür: »Ihr Gesicht war mürrisch. Sie wird schelten. – Aber ich muß doch! – Nein! Nicht klingeln: zu laut.«

Er klopft: niemand kommt. Klopft noch einmal: nichts.

Ein Schritt geht die Treppe herunter. Beschämt steht Kai neben der Tür, als warte er nach Klingeln auf Öffnung. Ein Blick, der mißbilligend zu sein scheint, trifft ihn; dann aber, als die Haustür ins Schloß gefallen, klopft er von neuem.

Ein Ruck öffnet die Tür: vor ihm steht der Arzt.

›Er hat mich belauert!‹

»Kai? Ich schalt schon das Mädchen, daß es Sie wegschickte. Bitte, hierher.«

Das Bild einer Venus an der Wand stört Kai, er dreht ihr, sich setzend, den Rücken. ›Sich ausziehen und sie schaut zu!‹

In Gedanken verloren wirbelt der Arzt den Brieföffner in der Hand. Plötzlich: »Sie haben Differenzen mit Ihrem Vater?«

»Differenzen – aber wie denn? Differenzen – nein, nein!«

Und Scham wuchs auf, daß dieser hier wußte, Zorn, daß Papa geredet hatte. ›Steht er so hoch darüber? Hat er nicht auch ...? Nein, nein, jetzt nicht daran denken. Aber immerhin, dies ein Übergewicht, eine Stärkung.‹

»Nun, Differenzen, vielleicht zu stark; sagen wir: Meinungsverschiedenheiten. Sie kommen sich unterdrückt vor, zu wenig selbständig. Auflehnung, Zorn, Schwäche, Machtlosigkeit, bittere Wut – ist's nicht an dem?«

Ja, so war es. Aber leicht zu raten, da gemeingültig. Die Väter waren zu alt. Aber es zugeben, ihm, der gleich ans Telephon laufen und es Papa sagen würde? Nein, und so meinte er denn: »Aber nein. Nichts von alledem.«

»Sie sind also mit Ihrem Vater völlig in Harmonie? Nichts auszusetzen?«

Im Spott stählte sich Trotz. »Ja, natürlich. Wie denn sonst?«

Der Arzt legte das Papiermesser auf den Tisch, rückte daran, beugte sich vor. »Sehen Sie, Kai, zu mir können Sie doch reden. Von mir erfährt niemand was. Ich bin ja als Arzt verpflichtet, diskret zu sein. Sie wissen: Schweigegebot.«

Und er lehnte lächelnd sein Gesicht zu Kai.

»Reden Sie also. Ich sehe doch, daß was nicht in Ordnung ist. Dunkle Ränder um die Augen, das Gesicht spitz, Pupillen ohne Reaktion. Na, Sie kennen das alles. Nicht? Kein Buch über Aufklärung gelesen? Nun ... Die Hände – spreizen Sie die Finger. Nein, nicht so. Das Handgelenk frei. Sehen Sie, wie die Finger zittern. Ein richtiger Tatterich. – Onanieren Sie?«

»Was? Wie? Was ist das?«

»Machen Sie mir doch nichts vor. Wir sind doch hier nicht Diplomaten. Ob Sie onanieren, sich selbst befriedigen? Sie wissen doch recht gut, was ich meine.«

Kai senkte vor dem gleichgültigen Blick die Augen. Noch die Finger gespreizt, dachte er: ›Alles Mache. Er tut, als sei es beiläufig. Dabei entschieden wichtigst. – Was es nur ist? Nie hörte ich davon! Aber es muß schlimm sein. Er will mich fangen. Wenn ich ja sagte? Besser‹, und nun laut: »Nein, natürlich nicht.«

»Ich denke, Sie wissen nicht ...«

»Nun, so überraschend ...«

»Was soll das Genieren! Hören Sie, Kai. Sie sind doch aufgeklärt?«

Und, auf eine Bewegung des andern hin: »Ich meine, Sie wissen über das Geschlechtliche Bescheid?«

»Ja, aber wie denn? Natürlich. Ich und nicht Bescheid wissen! Schon lange. Ich weiß alles, alles. Nein, sagen Sie nichts, ich weiß ja schon! Ich weiß schon, hören Sie denn nicht! Und überhaupt, was soll ich denn hier? Was soll denn dies Fragen? Ich bin doch nicht krank. Hier so sitzen und ausgefragt werden.«

Er schweigt, weiß nicht weiter. Aber schlimm ist, wenn er länger schweigt, wird der Arzt zu reden anfangen und vielleicht darüber sprechen, über – es. Oh, man ahnt schon, was er will, aber so geht es nicht: ›Ich mag es ja schon und ich will es, aber ich werde dann schwach, ich verliere, sie machen mich gesund. Und dann nicht er, nein, nicht er. Er hat nackte Frauen an der Wand und zu Papa petzt er. Beide sprechen sie dann von – dem. Immerzu muß ich reden, daß er nicht zu Worte kommt. Gleich geht es los. Schon setzt er an.‹

»Ja, und Differenzen mit Papa, was soll da sein? Er ist ärgerlich, wenn ich Karzer habe, aber, Herr Doktor, das sind doch keine Differenzen, das ist doch verständlich, ganz selbstverständlich. Und nein, krank bin ich gar nicht, ganz und gar nicht, wie eine Schwalbe in der Luft, so munter. Aber ... jetzt muß ich zum Abendessen, schon zu spät. Ich darf doch gehen? Nicht wahr, ich darf gehen? Alles in Ordnung. Das Ganze ein Irrtum. Adieu, Herr Doktor. Nein, ich muß wirklich gehen. Sehr freundlich, nein, nein, ich kann nicht bleiben.«

Er ist aufgestanden, geht rückwärts zur Tür. Die Augen gesenkt, aber auf den Lidern brennt des andern Blick, der ihn halten möchte. ›Ihn nicht ansehen, ist das beste, aber auch das beste ist schlimm, denn nun weiß ich nicht, was er tut.‹

»Nein, Kai, das geht nicht, hier so einfach wegzulaufen. Erst muß ich Sie wenigstens untersuchen. Ihr Abendessen wird schon warten. Gehen Sie mal zum Diwan, ziehen sich aus. – Nein, nicht nur den Oberkörper freimachen, ganz ausziehen.«

›Ich will nicht, aber ich muß. Und sicher habe ich schmutzige Füße. Nein, nun lege ich mich so hin, Hände und Arme werfe ich ganz fort, all den Fleischkram, den ich verachte. – Was tut er? Warum kommt er nicht und beklopft mich?‹

»Was haben Sie an den Armen, Kai? Gebissen?«

›Natürlich habe ich mich gebissen. Aber ihm das erzählen?‹ Und er legte den Kopf zurück. »Ich weiß nicht.«

»Nun lassen Sie mal diese alberne Trotzerei. Sie sind doch hier, daß ich Ihnen helfe. Wenn Sie nicht wollen, so stehen Sie auf und gehen. Aber hier rumliegen und maulen ...«

›Oh, ich ginge schon. Aber er sagt das nur. Er hielte mich wieder.‹

Und dann, ganz plötzlich: »Hören Sie, Herr Doktor, es hat gar keinen Zweck, daß sie mich untersuchen. Wissen Sie, ich zieh mich an. Sie haben's ja selber gesagt. Nun tu ich's. Und, nein, nicht umsonst, ich kaufe mich frei von Ihnen, richtig frei. Ich erzähle Ihnen was. Papa, mein Vater, nun, das müssen Sie wissen, der ist erst richtig krank. Den müssen Sie mal untersuchen ... so, gleich, ich gehe doch. Gleich sage ich es Ihnen, erst muß ich bei der Tür sein, dann sage ich Ihnen das Richtige, daß Sie mich gehen lassen, sonst halten Sie mich ja doch. – Nein, jetzt nicht reden. Wissen Sie, warum ich es sage? Sehen Sie, Sie haben mich gequält, nun quäle ich dafür Papa. Jetzt fühlt er's, glauben Sie mir, er fühlt's. Sie meinen, ich schäme mich. Nein, ganz und gar nicht. Ich, müssen Sie wissen, kaufe mich ja frei. Von Ihnen und den Eltern: dann sind nur noch drei da oder vier: Ilse, Margot, Erna, Arne. Und versteht sich: Kai. Kai. Kai. Nein, kommen Sie nicht her. Jetzt bin ich frei. Jetzt habe ich die Klinke in der Hand. Also – nein, ich sage es Ihnen näher«, und er beugte sich zum Arzt, der ihn unverwandt ansah, »nun denn, die Sache ist die: heute mittag, der Papa, der Vater, ach, der Herr Papa mit dem Spitzbart, heute mittag, jetzt also – sogar die Serviette hatte er um den Hals (das ist übrigens gar nicht wahr!) – fallt er auf die Knie vor der Mama, und sie weint! Sie ahnen nicht, wie sie weint! Fällt er vor ihr also auf die Knie, faßt sie um und um. Und schreit: ›O Margrit‹, schreit er, ›Margrit, warum hast du mir das getan!‹ Und nun adieu, Herr Doktor, zu Ihnen, da komme ich ja auch lange nicht wieder. Nehmen Sie den Herrn Papa, den alten Herrn, da lohnt's. Da können Sie fragen, was Sie wollen. Mich zu schicken! Nein! Und nun wirklich adieu. Ich danke Ihnen, danke Ihnen vielmals.«

Die Tür geht. Er steht draußen. Der Arzt kommt nicht nach, läßt ihn gehen. »So ein dummer Kerl, nicht zu merken ...

Hier schon die Treppe. Aber immer noch kann er nachrufen, nachlaufen. Und doch, ich darf nicht rennen, keine Angst bekommen. In der Furcht bricht drinnen alles zusammen, und dann liege ich. Sieh, schon die Haustür.

In seinem Zimmer ist kein Licht mehr. Was? Kein Licht! Er schleicht nach, will mich belauern, einfangen. Was tun? Denn dieses ist das oberste Gesetz, in ihm hängen Moses und die Propheten, nicht umsehen, immer grade aus. – Wie weh der Nacken davon tut. Er verhärtet sich, wird Stahl, der scharfkantig auf Fleisch drückt. Eigentlich – die Haut darunter müßte ein feuchtes Weiß sein, das sich geworfen hat. Ob auch Ohrwürmer darunter sitzen wie unter den flachen Steinen im Garten? – Nein, er kommt nicht, aber oben, in seinem Zimmer, im Dunkel allein, hängt die Venus. Die Nacht liegt richtig an ihrer nackten Brust, die so drängt, gar nicht zugedeckt, nie zugedeckt. Tausend Jahre.«

Er setzte sich auf eine Bank, und mählich fühlte er, mit dem Wind, der durch die Bäume strich, eine schwermachende Beruhigung in sich hineinwehen. Stolz kam auf. Er reckte die Arme. »Was für eine Abfuhr. Kein Wort sagte er. Verstummt lauschte er dem Fluß meines Vortrages. Sieger; Sieger über ihn, Sieger über Papa. – Sieger?«

Er zögerte und nun wußte er's. Wie von einem Blitz dem Dunkel entrissen, war es da, blendend vor seinen Augen, und: »Sieger? Trauriger Besiegter! Wieder verraten, überwältigt, in Gänge gejagt, die ich nie gewählt. Was soll werden? Was? Alles verraten. Dieses bei Tisch ... und Papa wird's erfahren. Immer weiter geht es. Und kein Ausruhen!«

Er stand auf. Das Gefühl äußerster Wehrlosigkeit nahm Lust zur Abwehr. Er schlich in die Stadt. Die letzten Lastwagen polterten mit trabenden Pferden, die klirrend die Köpfe warfen, in kaum erhellte Torbögen hinein. Schon waren die Läden geschlossen. Über den Fenstern der Cafés wanderten leuchtende Zeichen.

Aus der Beruhigung des Altgewohnten wuchs ihm, wie nur je, Vergessen, und das Gefühl, machtlos zu sein im Kommen der Dinge, ließ ihn stiller und rascher seinem Heime zuschreiten.


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