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Hinter ihm Rufe – er lief, durch die triefende Wiese näher dem Ufer des Flüßchens zu, unter Büschen entlang, nun gedeckt, niemand konnte ihn sehen; was hinten gewesen, war verlassen worden, kam nie wieder.
Freilich, dunkel fühlte er: »Das bleibt nicht so. Konsequenzen« – nein, hier stockte das Denken, versagte dieses Hirn, das stets rasender Rennen und Laufen befahl, den Raum zwischen Geschehenem und ihm zu vergrößern. Dann das Herz: nichts war fühlbar als das Herz, unumgänglich, daran zu denken. Ein Trommelstock wirbelte rastlos gegen die gestraffte Brust; sah man nach unten, kamen die Knie, die Füße hervorgeschossen, taumelten tapsig in Pfützen, aber eh noch Befehl zu größerer Vorsicht gegeben, waren sie eingeholt von neuen Knien und Füßen, die weiterzerrten.
Plötzlich kitzelte es: »Wenn ich mich umdrehte! Alles wirklich fort? Ganz ausgelöscht?«
Doch dort waren wieder die Pünktchen: vier, sechs, zehn; Gruppen, ineinanderfließend, untereinander verschoben, nun deutlich abgegrenzt die einzelnen Gestalten, helles Kleiderrot, das geruhsam satte Weiß eines Sweaters, ein Ruf, irgendwo weiter Lachen, und nun, im Anhalten, ließ Ruhe das Herz toll loswirbeln, ein Hexensabbat von Schlägen.
Kais Hand krampfte zur Brust. Aber im stiller gewordenen Eintönigen sickerten breit wie dichte Regen Ermattungswellen in den Leib. Das Auge offen, die Hände vorgespreizt, stammelte er: »Kanaan! Kanaan!«
In einem Buch blätternd, hatte er dies Bild einmal bemerkt: dicht vorn bebuschter Graben, Pfützen, eine hängende Hand, entfärbt, nun überströmt: blutrot. Im Sinkenlassen des Arms entglitt das Bild. Täuschung. Sein weitgeöffneter Mund saugte Luft des Kommenden.
So, von der Süße des Augenblicks übermannt, ließ Kai den Unterkiefer hängen. Verhungert riß der Mund stets mehr Luft in den Leib, und langsam und warm floß Speichel über das Kinn.
Erwachen schob die Züge zurecht. Den Hut aus der Stirn ging er mit gleichmäßigen Schritten den andern nach, im Einholen winkte er erstaunt musternden Gruppen, sah Ilse, legte zögernd die Hand auf ihre Schulter. »Fräulein Ilse?«
»Was? Sie, Kai! Woher des Wegs? So plötzlich bei uns.«
»Ich bin – Ihnen nachgelaufen.«
Sie, mit einem Blick auf die andern: »Leise! Herr Goedeschal, nicht doch.« Dann entschiedener: »Und wo ist Ihr Freund Klotzsch?«
Im Anschauen: »Ich sehe ihn nicht. Eben war er noch da.«
»Ach! Bitte, lassen Sie Werner. Ich wollte Sie.« Ihre Farbe vertiefte sich, eine Weile schwieg sie. Der Blick schweifte am Boden, dann plötzlich, die Augen ganz allein für ihn aufgeschlagen: »Es ist schön, daß Sie uns nachkamen.«
Leiser: » Mir nachkamen.«
Kai stammelte: »Lernten Sie nicht eben Sehen, Ilse, Sie – nur für mich? Gingen nicht eben erst Ihre Augen auf?«
Er griff nach ihrer Hand, tastete nach der Wärme ihrer Finger.
»Nein«, sagte sie rasch. »Nicht hier. Die andern.« Aber den Blick weit über die ausgebreitete Landschaft geworfen, sagte auch sie, leise hingerissen von seiner Trunkenheit: »Die Felder – so braun. Sie drängen den Straßen zu. Und dann der Himmel.«
»Ja«, wiederholte er, »dann der Himmel.«
Im Aussprechen des Satzes zerglitt es: das Drängen der Landschaft erstarrt, plump glotzten von Lehm gefärbte Pfützen, ein Baum, gebrochen der Hauptast, ließ den irrenden Blick ruhen. Er zeigte: »Der Sturm!«
Und dem Erzitternden erschien das Gespenst jener Hand, die als Schwester eine Platane hatte streicheln wollen.
»Was hast du!«
Sie griff nach ihm, schon war er fortgetreten.
»Eben noch – alles war anders! Und nun? Sie hetzen mich. Wieder sind sie mir nach.« Näher zu ihr: »Retten Sie mich!«
Sie sah angstvoll auf ihn, faßte seinen Arm. »Kai, du, was hast du? Ich bin hier: Ilse.«
Er suchte sich zu befreien, dann plötzlich, den Oberarm fester in ihren Griff gedrängt: »Rette mich! Sag, daß du mich liebst.«
Ihr weißes Antlitz überglüht, ihre Hand fortgesunken: »Was ist Ihnen, Kai, kommen Sie doch! Sind Sie krank? Wie bleich Sie ausschauen! – Da ist die Führerin.«
Im Lodenjackett trat sie näher. »Wen haben wir da? So spät noch?«
»Zug versäumt!«
Mißbilligung war zu hören: »Sie kennen Ilse?«
»Er ist ein Freund von Klotzsch. Vom Werner Klotzsch. Der hat ihn zu uns gebracht. – Haben Sie Klotzsch schon gesprochen, Kai?«
»Aber nein! Gar nicht gesehen.«
Die Führerin musterte ihn, dann im Weggehen: »Sie müssen sich gerissen haben. Ihre Hand ist ganz blutig.«
Kai versteckte sie. Ilse: »Zeigen Sie doch! Warum denn nicht? Nein! Soviel Blut. Daß ich dies nicht sah!«
Sie rieb mit dem Taschentuch. Er wollte sich ihr entziehen. »So lassen Sie doch! Es ist nichts. Ich fiel ein wenig.«
Erstaunt aufsehend sagte sie: »Nichts zu sehen. Kein Riß. Gar nichts.«
»Ich sagte ja gleich, es ist nicht der Rede wert.«
»Wo Werner nur bleibt?«
Sie sah um sich, suchte, blieb stehen. Fragte die andern, alles verhielt.
»Abzählen!«
»Nur er fehlt.«
»Er wird sich verlaufen haben.«
»Ausgeschlossen! Klotzsch und verlaufen!«
»Wollen wir warten?«
»Er muß doch gleich kommen.«
»Oder zurückgehen?«
»Besser: warten.«
»Nein«, meinte Kai, »auch das unnötig. Er muß jede Minute da sein. Ich traf ihn vorhin. Er wollte gleich nachkommen.«
Sein Auge fing einen Blick. Ilse fragte: »Sie trafen ihn?«
»Ja, natürlich ... Hatte noch was zu besorgen.«
»Was denn – zu besorgen?«
Einige brummten, manche lachten unterdrückt.
»Etwas lange«, meinte einer. Die Lacher verstärkten sich.
Ilse rief: »Kai, kommen Sie einmal her! – Sie sagten vorhin, Sie hätten Klotzsch nicht gesehen, nun sagen Sie wieder, Sie haben ihn gesehen; was ist da wahr?«
Er, leise stammelnd, verhetzt: »Nachher. Ich sage Ihnen alles ...«
»Nein, jetzt ...« Sie brach ab. Sie sah seine Hand, blaurot, kraftlos herunterhängen. Wie im Krampf schlugen die Finger umeinander, seine Knie bebten, sein Kopf war gesenkt.
»Es ist nichts«, sagte er mühsam. »Gar nichts. Sie brauchen sich nicht zu ängstigen.«
Sie prüfte ihn, er wich aus, schob sich zurück.