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Kai hob den Kopf: eine Klingel schrillte. Türgeschramm, wispriger Stimmlaut stach spitz herauf.
»Das für mich ...?« Und überfuhr mit dem Tuch jagender Hand das Gesicht, während die Schminkstifte zur Lade rollten; – nicht schnell genug, denn schon schob Klotzschens gekräuseltes Haupt süßlächelnd durch die Tür, da noch Blaubraun Kais Auge umzirkte.
»Lieber Kai ..., aber nein! Wie siehst du aus! Krank? Sehr krank?«
Kai sprang zum Schatten, doch Klotzschens Augen prüften ... Fältelte schon Erkenntnislächeln seinen Mund?
»Wie? Krank ...? Ja, nun ... wirklich ... Ich will dir ... Komm her, ich zeige dir«, und Kai riß den Griff der Lade.
»Nein, jetzt nicht das. Nachher, später ... Also wirklich krank, man sieht schon. Daß ich nichts merkte, schon früher! Also war Ilse im Recht, sehr! Ich verneinte.«
»– – – Ilse?«
»Nun ja. Da du nicht kamst. Gar nicht mehr. Sie fragte. ›Sehr gut‹, drauf ich, ›der Kai. Wie stets im Pennal.‹ – ›Nein, er ist krank‹, hielt sie fest, ›sonst ...‹ Dann schrieb sie, ein-, zweimal. Keine Antwort. Du erhieltst die Briefe?«
»Natürlich ... nicht. Sonst hätte ich hören lassen.«
»Und krank? Darum nicht bei ihr?«
»Ja. Ja.«
»Ich werde berichten. Es wird sie freuen. – Du verstehst schon! Sie grübelte. Etwas schien geschehen, mir nicht bekannt. Du weißt?«
»Nichts. Nein.«
»Auch die Mutter fragte ... Nichts? Auch gut.«
Klotzsch bewegte die Achsel, Geheimnis schonend. »Aber wahrhaft schlecht siehst du aus.« Schwieg wieder. Endlich: »Du kommst mit, nicht?«
»Wohin?«
»Nun, Ilse!«
»Aber nein!!!«
Klotzsch, nähertretend, schob den Blick von unten. »Was ist dir? Warum schreist du? Was ist denn? Sag! Gezankt? Krach? Mir kannst du's sagen. Außer Konkurrenz.«
»Nichts ...«
»Doch gehst du zur Penne. Also komm schon. Sonst ...«
»Geh vorauf. Ich komm dann.«
»Nein, ich warte. Sie sagte ausdrücklich ...«
»Nun ... also komm.«
»Schön.«
Die Kälte strich ihr Gesicht. Schnee knirschte. Hier und da brannten hinter gelbverhängten Fenstern erste Lampen. An einem kaum kenntlichen Himmel ahnten sie Wolkenwandern; Schilder klappten, ein Kind schrie, und über den letzten Bahnhofsdächern stand eine falbe Röte gleich eines Sommerabends Abglanz.
»Wohin gehst du?«
»Hier entlang. Wir kommen immer noch früh. Luft! Mir ist der Kopf dumm«, und Kai drängte zur Straße, die an den Brandmauern spärlicher Vorstadthäuser vorbei zum Schlachthof hinausstieß. Wind traf fingernd die Brust. Dann und wann prickelte flockiges Eis. Schon dämmerte um sie verhalten und zögernd befleckter Schnee erster, drahtgezäunter Felder. Über den endlosen Schuppenrevieren des Schlachthofs schwankten am reifweiß leuchtenden Draht kuglige Lampen, und in das Brüllen hungernden Viehs schrie lauter die heisere Trompete der Mutterkuh. All dies schluckte die nachtende Stille.
»Und nun?«
»Weiter!«
»Aber ...«
»Weiter.«
Unter der Holzbrücke lagen die dunklen Fußschlangen der Bahn. Grüne und rote Laternen standen stumm und irgendwo wetterten Lokomotiven hügelauf.
»Umkehr!«
»Du!«
»Wie?«
»Du! Du! Du! Glaubst du, ich gehe? He? Glaubst du das? In eure Lauheit? Dickes Gas? Um den Tisch gehockt! Madiges Brabbeln! Dahin? Geh doch! Geh doch du!«
»Ja, was denn? Kai? Was soll er denn? Sollst du ihn hinbringen? Da, nimm mich doch, zerr mich doch, schieb schon, sieh doch, ob du's bringst! Zu euch ... Geh schon, Kleiner. Grüß sie nett, das Fräulein Laulich. Ihre Briefe ...«
»Was ist ihr? Was hast du!«
»... ihre Briefe ... Oh! Ich bekam sie schon, gesetzte Gefühle, höhere Tochter. Aber was gehst du nicht? Geh doch! Die Klampfe wartet. Zirp, zirp, duliö!«
Und stieß ihn.
»Laß!«
Aber Kai schwang weiter, dem Wind entgegen, der nun, über die letzte Hügelreihe aufheulend, hindernisfrei in die Pappelreihen brach, riß den Mantel auf, schwang die Hände und achtete den Schatten nicht hinter sich, der beschwörenden Mundes nachschlich, da doch schon Glut in Kai versackte und Schwermut tränenbeizend aufstieg.
»Bist du noch da? Es ist Zeit für dich!«
»Ich komme mit dir. Das geht nicht so«, und zwang sich entschlossen an Kais Seite, Besänftigung redend.
»Schon gut. Weiß, wie ihr es meint. Immer und immer.«
Und drehte grabenüberwärts durch die knackeisig peitschende Hecke ins schollige Feld.
»Da ist kein Weg.«
»Alles ist Weg. Ihr nur seht's nicht. Bleibt doch draußen.«
Beide keuchten. Ihre Füße fielen tapsig in das speckig Gepflügte. Die Weite hatte den Stadtlärm vertilgt, nur noch das unendliche Sausen des Windes war um sie. Schon auf den Wangen frierend troff Schweiß, Klotzsch stolperte, griff nach Kais Mantel, fiel.
»Sei vernünftig, Kai!«
Und hob sein blasses Gesicht von der Erde. Zwischen dem Zwinkern stachen die Augen.
»Wer sagt, daß du mußt?!« Und näher, den Atem zum Hockenden stoßend: »Geh zur Hütte, Hund! Soll ich wieder stechen? Diesmal stechen, nicht schneiden!« Griff in die leer gewußte Tasche, lachte auf, zuckte die Achsel und ging weiter, murmelnd, zwischen den Weiden am Grabenrand durch, springend dann, – und nun, geduckt zwischen den Kopfrutenhaufen, sah er den andern taumelnd sich erheben und still, ohne Umschauen, rückengewandt, der glostenden Stadthelle zugehen.
Da erst fühlte Kai Windes Verlassenheit, trübe Bitternis der Zunge, und ging langsam, schultergebückt in die Ferne hinaus, der nie wohl Tag dämmerte.