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42

Aufgekraust von der Winterluft überliefen flache Wellen den Teich seiner Langweile. Schon war es, als müsse er, schlank emporlohend, über die erleuchteten Fenster oben den Schein einer so innig gewollten Reinheit werfen, leugnen das lässige Zurücklehnen in Schweigen, da er für die neue Güte zeugte, die nun sein Blut sang. Die kleinen albernen Gebärden des Nachmittags wehten nur, kindische Flatterfahnen, um die Peripherie seines Seins, in dessen Zentrum geballt, unangreifbar und tatsüchtig, ein sehnender Wille hockte.

»Ich kehre um. Wieder die Treppe. Der Vorplatz. Auf dem alten Stuhl. Die Gardinen zurückwerfend, werde ich die von Leben angeglosten Scheiben weisen, meine Tatscheu zu tilgen.«

Er zauderte. Schon umfing Kälte ihn. Der Lichtschein der Laternen übertanzte einen Schatten, näherkommend, winterlich verhüllt.

»Ah!«

Im Schnee knirschten beider Absätze.

Aber sie wandten sich nicht. Ihre Augen tranken sich ein. So verharrten sie, gegenüber, wenige Schritte getrennt, reglos, bis der aufglühende Blick verfiel.

Kai drehte die Achsel, sein Fuß setzte an, schon wandte er sich, und gleich würden sie, zwei Rücken, augenlos, voneinander gehen, die Straße hinab, hierhin, dorthin, getrennte Wege, geschiedene Willen, gespaltene Freundschaft – (»Bäume«, dachte Kai, »unter Bäumen ruhen«) –, da verhielt er.

Den Blick über die polstrige Schneekruste horchte er der Stimme, die nun, leise, ihm kam: »Du, Kai ...«

»Ja, Werner ...?«

Still blieb's. Ein Windzug schüttelte Schilder, irgendwo schrie es: Kinder oder derart.

Nebeneinander ... sein Arm tastete, schlang sich in Werners. Sie gingen. Schweigend.

Kein Mensch. Der beruhigte Schein jener Fenster überstand mondgleich das Bleiche aus Fleisch ihres Gesichts; er ging unter. Einer tieferen Dunkelheit zu, prägten sie dem verlöschenden Schnee ihre Spuren, Schuh um Schuh.

Gingen sie nicht wahrhaft in eine Nacht ein, wattegepolstert, in das Lautlose schmarotzender Gespenster, deren blutsüchtige Hände den Strick tanzen machten, an dem jener Kleinen Glieder automatenhaft regten? Blieb nicht hinten das Ersehnte, Sonne oder, wenn nicht Sonne, doch die kleine rauchgeringelte Helle eines Wohnzimmers mit den Gliederrührungen von Frauen, unbegreiflichen Wesen, die, berstend gefüllt, immer irgendwie und -wo Weisheit tropfen ließen und ein Streicheln der Hand?

»Nein. So kauert kein zuckflügliger Falter in dem rinnenden Sand eines Ackerwagengeleises, bebend, sonnenbestrahlt, wie sich der Blick einer Langgehaarten vom Stickkissen hebt und auf die Wange setzt oder deine Hand und ruht und verflattert vor Einfang.«

Klotzsch räusperte, Kai hob den Arm: still.

Und sie gingen weiter, weißer bestäubt, und Kai war es, als verirre er sich mehr und mehr in dem Gespinst einer Nacht, das seine Hände bewob und über sein Auge Fäden hing. Drüben, über den Dächern, in der Schlucht eines Hofes schlug man wohl große Trommeln, um ein Feuer kauernd. Wieder schrie ein Kind.

Kai bebte auf, murmelte: »Flucht!«

Klotzsch, im Flüstern sich neigend: »Kai?«

Aber Kai war fort. Sein Fuß trieb durch Heide, in der Sonne summte es, Kieferngekuschel dehnte sich endlos.

»Hier, hingestreckt liegen, versinken in das Rieseln des Sands und nicht mehr ersehnen als einen Vogelschrei aus dem Blau und die Süße im Warmwerden und die Müdigkeit von Ausruhen. Tiefensee! Wunschlose Sommerwochen.«

Ja, drüben blaute es auf, über dem dürrgrasbewachsenen Hang mit den Pechnelken dehnte der See. Eine Kiefer starrte spitz. Vielleicht schlug die Dorfuhr, aber die Stunde war gleich.

Wo war das: Tat? Was war dies: Wille? Und Liebe? Und Güte?

Und Ilse?

Der Schnee sickerte, nistete, schwang seine Linien zu Boden.

Die Trommel brauste auf, dröhnend, und verstummte.

Werners Gesätz: »Wohin gehen wir?«

»Dort, wo die wandernd wehende Lichtfunkenreihe sich eint, steht der Bahnhof, Maschinengestampf übertönt Trommelbebungen, die neu beginnen. Knatternde Wagen reißen mich einer Welt zu, der ich Unbekannter mein Gesicht noch weisen kann.«

Er wandte sich fort. »Hierher. Nach Haus.«

Und: »Zu Haus.«

Das Zimmer dunkel. Zu den grauen Fensterquadraten tastend, hockten sie einander gegenüber. Still. Still.

Das Reden ging zu Schlaf, und Warten schwemmte langsam den Strand hin als ein Meer in windlosem Regen.

Leis schwankte Kais Haupt auf dem Wellengeschleich. Eine dumpf verschlafene Taubheit breitete die weichen Glieder über die Welt und ließ sie irgendwo in der Nacht Grenze sein – man wußte nicht wo.

Ein kleines Geräusch entfiel Werners Arm.

Dann war Kai nicht mehr. In seinem Haupte drehte langsam lautlos eine verglaste Laterne und entriß dem Hirndunkel endlose Zimmerfolgen, deren Leere von beschattetem Weiß aufging, unbelebt, totenstarr und schon wieder in tiefste Schwärze versenkt.

»Dort irgendwo liegt mein Leben; in einem Winkel, auf das ungesehene Gesicht gelehnt, schläft's. Nachts im Traum nach ihm suchend, durchfliehe ich angstvoll jene Räume, die durchscheinende Hand vor das Flackern der Kerze gestellt.«

Plötzlich stand die Laterne. Aufzuckend erlosch sie.

Ein warmes und weiches Ringeln durchwirrte die Brust, einem Hauf farbloser Würmer enthob sich blindes Tasten langer, streichender Köpfe; geisterhaft glitt es im Nacken, faßte ins Dunkel des Hirns.

Jemand rührte ein Glied.

Da nun klang eine Glocke; dumpf, widerhallend, langsam, sonor durchschwang ihr Dröhnen die bebende Höhlung der Brust.

Er neigte das Ohr näher.

Irgendwann war er dann fort vom Langstuhl am Fenster, stand am Nachttisch, eine Kerze flammte auf, flackte am Boden, ihr bleicher Schein warf auf Gesicht und Hand Plättchen, unregelmäßig gerandet, aus Weiß und Schwarz.

Kais Arm zuckte zur Tasche.

Da ging die Sonne über struppigem Haarwald der Föhren auf. Sand rieselte, Heidekraut blühte. Jemand träumte, das Gesicht zur Sonne gelehnt, von Luft und Verwiegen. In rinnender Wagenspur saß, flügelwippend, der Admiral.

Die Hand hielt an.

Neu ertönte die Glocke.

Aber nun entblühten der schwarztiefen Nacht farbigere Blumen, ihre wachsigen Kelchblätter durchpulste Röte, und während sie die leisen Lippen aneinanderzwängten und ewig hungrig neu öffneten, hoben sie sich von ihren Stengeln, durchsegelten das Dunkel – gekrauste Spürfäden wehten im Wind – und besetzten seinen Leib, den sie mit einer schwellenden Wärme erfüllten. Sie stürzten um, ihre rotfleischigen Münder seiner Haut angeheftet, saugten sie atmend Blutwärme aus ihr.

In der Tasche wühlte die Hand.

Und da, aufgesprungen, sah er's noch einmal: Hoffnung, du wehende Birkenallee, süßes, beseeltes Schwanken in Sonne, Feste, von Lachen überschwirrt, weites Gewoge aus Willen.

Aber drüben dehnte sich's dunkel, Verknotetes führte, ein Mundwinkel blößte, den mit dem Finger auseinander zu tun Lockung war, rot ging lippiger Riß einem Leibe auf, dumpfe Seligkeit, Verrat, Weinen nun und Weinen, Weinen in eine Nacht hinaus ...

Es schwirrt. Viele Flügel regen sich. Durch einen Park geht Wind. Über Kais Bein weht der Rand eines Kleides.

»Allein! Allein! Ungeteilt!«

Und er stößt den Zettel zu Klotzsch: »Lies!«

Schwarzsamtiger Mantel überwirft die bunten Erschautheiten. Im Dunkeln entwächst unsehbar Gestaltlosem ein Gestaltetes. Weit von jenem laufen die in Sonne plätschernden Lebenswellen auf den Strand.

Klotzsch steht. Nach hinten den Griff der Hand, der torkelnden, fragt er: »Und?«

»Allein! Allein! Ungeteilt!«

An der Tür wendet sich jener: »Ich verzichte. Mit Dank.«

Und nun ist das Traben draußen, das Traben fliehender Flucht, auf den sandgestreuten Platten; er trabt fort.

Traben. Traben. Traben.

Und Kai hört's, in das Löffelgeklirr des Essens, im Klappern der Schachfiguren trabt's, und das Einschlafen ist gewiegt vom Traben Werners in die Nacht, vom Traben, Traben, Traben.

Aber am Rande des Traums steht Ilse, ihr Haar weht und sie winkt – winkt Kai allein.


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