Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Um halb neun strahlt die Sonne vom Himmel auf das Paradies Wight herunter. Spithead kommt in Sicht, die komischen runden Türme, plump und untersetzt wie Puddinge, liegen verschlafen im Wasser und beschützen den Hafeneingang. Sie sind mit Schachbrettfarben angestrichen, hinter den schwarzen Feldern sieht man Kanonen den Mund spitzen, aber es pfeift höchstens punkt Mittag eine oder, wenn der König gekrönt wird, mehrere. Da kommen die ersten weißen Jachten vom Solent her an uns vorbeigejagt, hinaus in den Kanal! Jetzt sehen wir Ryde, einen Puppenhafen mit niedlichen Häuschen wie aus einer Schachtel. Der Dreadnought auf der Portsmouth-Seite ist auch nur ein kompliziertes häßliches Spielzeug aus der Ferne und wie aus Holz.
Wir halten auf Cowes, und aus dem Wald am Ufer schiebt sich ein feiner schlanker Turm ans Wasser heran. Ein Haus, eine Terrasse gleitet in den Sonnenschein heraus, grüner Rasen davor, blitzende Fenster, Efeu um die Fenster und hinauf bis an die Spitze des Turmes, dunkelgrün und doch ganz Licht und Fröhlichkeit. Ein paar helle Punkte bewegen sich zwischen dem Rasen und der Terrassenmauer.
12 Ich stehe weit vorn an der Spitze des Promenadendecks, man kann von da aufs Zwischendeck hinunterschauen, und durch mein gutes Fernglas kann ich zugleich den wundervollen Sommermorgen drüben auf dem Herrensitz beobachten.
Unten auf Zwischendeck ist das Gewimmel schon tüchtig im Gange. Alle bunten Farben der Welt tummeln auf Weiberröcken, Kopftüchern, Pantoffeln und Kinderwindeln durcheinander.
Aus dem Schloß drüben kommen zwei Gestalten heraus, weiße Kleider, ein Herr und eine Dame. Etwas Schwingendes, Rotes, begleitet sie: ein Sonnenschirm, der Herr trägt ihn. Sie gehen, hie und da stehen bleibend, langsam den Rasenplatz hinunter; es sind einige Hundert Schritte von der Terrasse bis zum Strand.
Unten auf Zwischendeck ist jetzt Ordnung in die Menge gekommen, Ruhe, ja ich spüre hierher herauf so etwas wie Beklommenheit. Die Leute sind zur Seite gewichen, und aus einer Tür unter mir, unter dem Promenadendeck, auf dem ich stehe, treten Männer, Frauen, Alte und Kinder, einzeln heraus, eine Karte in der Hand, die sie dem Schiffsoffizier hinhalten. Sie halten sie nicht so hin, als wollten sie sagen: Aber gerne! Lesen Sie doch! sondern es ist etwas in ihrer Gebärde, was mich rührt, etwas Zaghaftes, um Verzeihung Bittendes, so hält unsereiner keine Karte hin, wie diese Menschen da unter mir.
Drüben auf Wight sehe ich einen kleinen munteren Fleck aus dem Efeuschloß die Terrasse hinuntertanzen. Ein kleines blondes Mädchen, ein hellhaariger Schäferhund springt vor ihm einher. Die Dame unten auf dem Rasen dreht sich um, die Dame und das Kind laufen einander entgegen, dann bückt sich der große weiße Fleck zum kleinen weißen Fleck herunter, und aus den beiden entsteht ein einziger weißer Fleck für einen Augenblick. Dann geht die Dame und das Kind Arm in Arm dem Strand zu, wo der Herr auf sie wartet. Der Collie ist schon weit unten, fast am Wasser. Auf der Terrasse 13 erscheinen zwei neue Gestalten vor den blitzenden Fenstern; das Frühstück ist vorüber. Die Sonne ist so hell über dem Rasen.
Unten tritt Herr X. Y. aus A. (ich kann die Namen auf den Karten hier oben gut lesen) aus dem Kontrollgang heraus. Er und seine Familie, eine alte dürre Frau und ein kleines blasses Mädchen, drücken sich fest aneinander, sie treten sich auf die Hacken und halten sich bei den Händen. Der Mann, er ist ein ältlicher dicker Mann in abgetragener Kleidung, hält seine Karte hin – Passiert.
Das Schloß drüben ist nicht mehr zu sehen. Eine Weile noch sehe ich den Turm über den Bäumen, einen hellen Streifen vom Rasen, dann sind wir vorüber.
Unten tritt einer nach dem anderen, seine Kontrollkarte in der Hand, aus dem Gang hervor und bleibt dann erleichterten Herzens auf dem Deck stehen, wo die Farben wieder alle in der Sonne leuchten. –
Auf Zwischendeck kann sich eine ansteckende Krankheit mit verhängnisvoller Geschwindigkeit verbreiten, die Leute des Zwischendecks müssen auf den Schiffen täglich ihr Examen ablegen. Die hygienischen Einrichtungen sind vorzüglich, es liegt wirklich kein Anlaß vor, sentimental zu werden und eine Träne zu zerdrücken. Aber ich habe vorgestern in Bremen etwas gesehen, was ich so bald nicht vergessen werde. Die Herren vom Norddeutschen Lloyd haben mich in die Bahnhofshalle ihrer Auswanderer-Abteilung mitgenommen, und dort habe ich das gesehen, was ich hier wiedergeben will. In einem großen Zimmer stehen Tag für Tag drei Ärzte in Spitalskitteln vor einer Art Barriere. Sie haben ein Tischchen mit Karbolgefäßen neben sich, und sie haben ein Instrument aus Stahl in der Hand, am besten, ich sage, es sieht aus wie eine Nagelfeile, ich finde keinen besseren Vergleich dafür. An die Barriere kommen in drei langen Reihen Menschen heran, Männer, Frauen mit Kindern auf dem Arm. Alle haben den Hemdärmel über dem rechten Arm aufgekrempelt, so kommen sie an den Arzt heran.
14 Der Arzt ritzt mit dem spitzen Ende des Stahlinstrumentes den Arm, der ihm hingehalten wird, den zuckenden oder tapferen, den blutarmen oder muskulösen Arm, dann dreht der Arzt das Instrument um, hebt es zu den Augen der Menschen dahier, stülpt erst das linke, dann das rechte Lid, wie über einen Löffel, über die »Nagelfeile«, taucht das Instrument in den Napf hinein, dann kommt der Nächste in der Reihe dran und so fort. All dies geht rasch vor sich – Eins – Zwei – Drei – Vier. – Vier ist die Desinfektion.
Das ist die Impfung und die Untersuchung auf Trachoma, der sich jeder Zwischendeckspassagier zu unterwerfen hat. Ich weiß nicht, wie viele Menschen in einer Stunde auf diese Weise für die große Fahrt tüchtig gemacht werden. Ich habe auch nicht gezählt, wie viele an mir vorübergekommen sind, in den zwei Minuten, so lang habe ich es ausgehalten, dies mit anzuschauen. Ich weiß nur, ich hatte einen Knebel in der Kehle sitzen, wie ich mich davonmachte, und ich habe was von der Hölle Dantes hervorgestottert, wie ich wieder im Freien war.
Es liegt aber auch hier kein Anlaß vor, von der Hölle und dergleichen zu reden und sich aufzuregen. Die großen Schiffahrtskompanien holen hier etwas nach, was von Menschheitswegen Sache des Staates, der Gesellschaft wäre, und ich sollte mich doch eigentlich freuen, daß hier Menschen auf einem Umweg vor Krankheit und Tod geschützt werden. Aber dies und das mit der Karte tut mir weh. Ich hoffe, ich werde nicht abstumpfen gegen Eindrücke dieser Art.
Übrigens, wirklich, wenn man sich das alltägliche Leben dieser nach Hunderttausenden gezählten und behandelten Menschen ansieht und dann diesen Alltag mit den Tagen vergleicht, die sie vor und während ihrer großen Reise verleben, so darf man sagen: sie haben alle Ursache, sich glücklich zu fühlen in diesen merkwürdigen und gepriesenen Tagen.
Ich kann jetzt, da ich vom Promenadendeck des »Kaiser Wilhelm der Große« auf das befreite Gewimmel da unter 15 mir hinabschaue, auf dieses Treiben, das sich da unten befremdlich, putzig und populär abspielt, wie ein Mikrokosmos, wie das Leben in einem Stückchen Käse unter dem Mikroskop, ich kann jetzt eine alte verstaubte Vorstellung korrigieren, die irgendwo in meinem Gehirn herumgelegen hat seit Jahren.
Geht man im schlesischen Oderberg nachts durch die Bahnhofshallen, da liegen die Auswanderer auf dem Boden der Wartesäle vierter Klasse unter fahlem Gaslicht und schlafen mit offenem Mund und im Dunst ihrer schlechtgenährten Leiber und feuchter, nie gewechselter Kleider einen kurzen und gestörten Schlaf, und in Berlin, auf dem Bahnhof Zoologischer Garten, um halb vier, wenn einer der Auswandererzüge langsam vorüberfährt – wer beschreibt den Ausdruck der Gesichter, die aus den Fenstern uns nachstarren, die wir, wohl angekleidete, neugierige Leute, auf dem Perron zurückbleiben und uns in unseren Schuhen wiegen!
Jetzt, vom Promenadendeck gesehen, hat das Ganze ein anderes Gesicht. Was für ein Traum geht diesen da unten in Erfüllung! Sie haben eine Woche vor sich, in der sie für ihres Leibes Notdurft nicht zu arbeiten brauchen, nicht 12 und nicht 10, überhaupt keine Stunde lang! Eine Woche kommt da in ihr Leben hinein, in der sie sich ausschlafen können in guter Luft und auf sauberen Betten, jeder für sich, in der sie das Glück von Duschen und Wasserklosetten am eigenen Leibe erfahren, in der sie wahrhaftigen Gottes Fleisch an jedem Tag zu essen kriegen, und das Tageslicht von Sonnenaufgang bis Untergang über ihren Köpfen fühlen dürfen, ohne zu schwitzen und ihre Hände unmäßig zu regen. Eine Woche, in der sie etwas erleben, das nichts mit der trostlosen Misere ihres Lebens rings um diese Woche herum zu tun hat! Wo gibts denn sonst noch solch eine Woche der Sorglosigkeit im Leben des Armen? (Im Gefängnis vielleicht.) Hier auf Zwischendeck erleben sie eine Woche, in der so etwas wie eine Hoffnung, eine Erwartung über ihren 16 dumpfen Seelen leuchtet, ein Weltteil wird vor ihren Augen aufgehen!
An der Innenseite der Reling des Promenadendeckes ist eine Tafel befestigt, auf der werden wir ersucht, den Zwischendeckpassagieren kein Geld, kein Obst, noch ähnliches hinunterzuwerfen. Hallo, ist es denn notwendig, euch das Schwarz auf Weiß zu sagen, ihr geehrten Mitreisenden Erster Kajüte? Ich wünschte, es käme einer von den Herrschaften da hinter mir mit Geld, Obst und Ähnlichem und würfe es unter die Leute da unten. Gute Boxerstöße gegen seine Erste-Kajüte-Nase, bei Gott, auf die Gefahr hin, über Bord gefeuert zu werden!!
Diese Armen da unten, die Leute »aus der Tiefe«, heut und noch fünf Tage lang dürfen sie sich Menschen nennen. Sie sind nicht von ihrer Scholle losgerissen, denn wer unter ihnen hat denn heut noch seine Scholle? Was heißt denn das heute: Scholle? Der kleine Bauer muß sich dem Großgrundbesitzer verdingen oder unter die Erdarbeiter gehen. Ebenso hat der kleine Gewerbetreibende längst sein vom Urahnen geerbtes Handwerkszeug verkauft und sich dafür eine »unzerreißbare« Fabrikarbeiterbluse angeschafft. Und meinetwegen der kleine rechnende Mann in seinem schimmeligen Vorstadtladen, er hat in sein Schaufenster all das hineingestopft, was er gern an die Leute in seiner Gasse verkauft hätte, – jetzt ordnet er, nach künstlerischen Prinzipien, das Schaufenster des Warenhauses, in dem er ein Kommis geworden ist auf seine alten Tage. Wer von diesem Volk da unten ist denn zu beklagen darum, daß er auf einem Schiff dahinlebt, losgerissen von seinem Eigenen, von seiner Heimat? und wenn diese Heimat auch etwas so Wundervolles ist wie ein oberungarischer Berg oder so was Lumpiges und Klägliches wie eine Schusterwerkstatt in einem Dreckgäßchen in Czernowitz?
Übrigens stimmt das mit dem Glücksgefühl unter diesen Leuten ja auch nur zur Hälfte. Wie all das andere, was man sich so zusammendenkt, wenn man vom Promenadendeck 17 aufs Zwischendeck hinunterschaut. In den Auswandererhallen sagte man mir: wenn die Leute in den Hallen wegen irgendeiner Verspätung der Abfahrt ein paar Tage länger warten müssen, werden sie nervös und unruhig und unzufrieden. Sie haben ihre sauberen Betten und guten Bäder und gute Luft, sie werden auf Kosten der Gesellschaft verpflegt, haben Fleisch und andere gute Dinge zu essen alle Tage, und doch sind sie nervös und unzufrieden, wie kommt das? In diesen armseligen Arbeitsgehirnen ist wahrscheinlich nicht viel Raum mehr für die Vorstellung der Freiheit. Um so schlimmer!