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Was Teufel ist mir widerfahren, hab ich was Vergiftetes gegessen? Hab ich das fliegende Fieber? Oder ist es bloß, weil ich den Mississippi von Westen nach Osten durchquert habe? Nichts von alledem. Ich bin einfach in Chicago angelangt, der schrecklichsten Stadt des Erdballs.
Ich will es nicht versuchen, ein Bild dieser Stadt zu geben, ebensowenig eine Topographie des Unbehagens, das sie auslöst. Nur ein paar Geräusche, Gerüche, Gesichte, ein bißchen Schweiß und Rauch und Rastlosigkeit aus ihrer Atmosphäre soll als tintenfarbiger Niederschlag aufs Papier kommen.
Einstweilen treibt mir diese nach der wilden Zwiebel checagua benannte Stadt – sie wuchs in Mengen, wo jetzt die weltberühmten Warenhäuser, die weltberühmten Schlachtbänke, die weltberühmte Getreidebörse und die weltberühmten Bordellstraßen stehn – die Tränen in die Augen. Um neun Uhr früh werde ich, wie ich auf die Straße trete, in einen Wirbelsturm von Menschen hineingetrieben, daß mir Hören und Sehen vergeht. Die zappelnden Bewegungen, die die Menschen in Kinematographenaufnahmen bekommen, das Dahinfegen der Filmautomobile sehe ich hier in Natur übertragen. Mein Baedeker ist sieben Jahre alt und für die Katze. Auch ist, wie ich sehe, die ganze Stadt umnumeriert. Ich lasse mich vorwärts und in die Drehtüre eines Papierladens hineinwirbeln, wo ich den Clerk, einen blassen, am frühen Morgen schon todmüden jungen Menschen nach einem Wegweiser Chicagos, aus dem man die Sehenswürdigkeiten der Stadt kennen lernen könnte, frage.
»Hier gibt's keine Sehenswürdigkeiten,« sagt der müde Clerk, »hier gibt's nur business.«
Wirklich, über der Stadt liegt ein dumpfer, sakkadierter Lärm, ein unter- oder oberirdisches Rollen, ein Pulsschlag, der sich wie ein nie aufhörendes Teppichklopfen 294 anhört. Durch das eine Nasenloch kommt Kohlenstaub herein, durchs andere der Duft von kochendem Leim. Diese Pasta legt sich um die Hirnhaut und siehe, das Chicagoer Gewissen ist entstanden.
Wie die Leute hier ihren Geschäften nachjagen, das sieht einem ewigen Reißausnehmen vor sich selber verzweifelt ähnlich. In Van-Buren-Street laufen zwei Nonnen an mir vorbei. Geld sammelnd laufen sie türaus, türein. Ihre Gesichter tief in den erdfarbenen Hauben, ihre Gesichter, auf denen der Friede doch wohnen sollte, sind gespannt und verzerrt von der Geldjagd durch die Straßen.
Indes, ich werde mich hüten, in den Fehler zu verfallen, daß ich den Amerikanismus mit diesem Chicagoer Tempo verwechsle, das aus Atemnot und Gewissenskrämpfen zusammengebraut zu sein scheint.
Soviel ich weiß, ist diese Stadt, diese rapide Stadt, »the windy town« diese windige Stadt viel mehr eine Karikatur Amerikas. In ihr, die, kaum siebzig Jahre alt, heute die zweitgrößte Stadt des Kontinents ist, leben mehr Deutsche als in Hamburg, mehr Schweden als in Stockholm, mehr Juden als in Palästina; eben macht sie eine Entwicklung durch, die sie zum Schrecken und Staunen der Union werden läßt. Ganz Amerika blickt terrorisiert auf diese Stadt hin, die laut genug ihre Drohung ins Land hinausschreit: wartet nur, in ein paar Jahren bin ich die erste hier herüben, in ein paar mehr die erste der Welt. Nach drei Dimensionen schießt sie sichtbar in die Halme, ihre Grenzen habe ich trotz halbe Tage langen Fahrten in schnurgeraden Trambahnlinien nicht berührt. Wie die neuesten ihrer Wolkenkratzer steigt der Reichtum ihrer Einzelnen schwindelig hoch und rasch in die Höhe; wie ihre von kahlen, mit Kehricht vollgekarrten Feldern unterbrochenen endlosen Vorstädte aus Holz und Kot, verbreitet sich das Elend und die Armut ihrer Vielen erschrecklich weit und breit. Das bedeutet sinnlosen Glanz und irrsinniges Machtbewußtsein in Wohn- und 295 Direktionspalästen und das bedeutet von der Verzweiflung geschwärzte Seelen in Fabriken und Massenquartieren. Das bedeutet ein Auf und Ab, eine Überreizung, ewiges Um- und Umnumerieren von Häusern und Menschen, es bedeutet einen Rundtanz von Habsucht, Verschwendungssucht, Selbstberäucherung, Zerknirschung, Verbrechen, Mitleid, Betrug, Psalmengesang, Totschlag, Ästhetendünkel und Menschenschande. – Aber auf dem Grabe der vier Blutzeugen in Waldheim-Cemetery liegen frische Blumen! –
Hoffentlich geht's hier nicht alleweile zu wie in diesen ersten Novemberwochen 1911, die ich in Chicago verbringe. Geht's hier jahraus jahrein im selben Tempo weiter, so steh ich nicht an, zu erklären: Chicago ist die Hölle.
In der besten Gegend der Stadt weckt mich am Morgen nach meiner Ankunft, es ist noch früh, kaum fünf, eine Detonation. Ich springe zum Fenster, schau in den Hotelhof hinaus, ob keiner auf das Glasdach hinuntergesprungen ist? Zwei Tage später weckt mich dieselbe Detonation; ich bleibe aber im Bette liegen, ich weiß ja, es ist kein Selbstmord, keine Wiederholung des glorreichen Haymarket-Attentates, sondern es hat da in der Nachbarschaft wieder einer seinen Morgengruß, eine kleine Bombe, vor dem Tor eines Geschäftskonkurrenten niedergelegt.
Am ersten Frosttag zählen die Zeitungen 7 mörderische Überfälle, 3 Notzuchtsversuche im Weichbild der Stadt. Die Zeitungen sind voll von Giftmorden, unaufgeklärten plötzlichen Todesfällen einflußreicher Leute, Schießereien in den belebtesten Straßen um die Mittagsstunde. (Chicago hat den Ruf, daß man in ihr, während in anderen Städten Amerikas ein Mörder erst von 200 Dollar aufwärts zu haben ist, einen Mörder schon für 8 Dollar haben kann.)
Im Gerichtshof findet das Geplänkel des Staatsanwalts mit den Magnaten des Fleischtrusts statt; sie haben 296 versucht, das Sherman-Gesetz zu übertreten, einen kleinen Corner in Fleisch herbeizuführen, dem konsumierenden Publikum ein wenig die Kehle zuzuschnüren. Der Gerichtshof ist voll von jungen Juristen, von allen Seiten sind sie herbeigeströmt, um zu lernen, wie der berühmte Anwalt der großen Fleischschlächter mit der Anklage umspringt. Zwischen zwei Buchstaben des Gesetzes tut sich ein winziges Loch auf, durch das die ganze Anklagebank ins Freie schlüpft. Es soll schon jetzt alles getan werden, um die Anklage hinfällig zu machen. (Kommt die Sache erst nach allen Instanzen vor das höchste Schiedsgericht in Washington, so siegen ja die Magnaten doch.)
Um Armour Square herum haben einige Raids auf die beteiligten Institute des Bordell-Trusts stattgefunden. Ein paar Straßen weiter im Osten hat man versucht, Jim O'Learys, des Spielerkönigs, bombenfeste und mit Stahlpanzertüren gebaute Spielhölle aufzuheben. Alle drei Truste, der Fleisch-, der Bordell- und der Spielertrust haben, scheint es, diesen wohlgemeinten Reformversuchen standgehalten. Die Zeitungen nehmen kein Blatt vor den Mund, ausführlich berichten sie über die Stadt- und Kongreßpolitiker, die im Dienst des Fleischtrusts, über die Polizei, die im Dienst des Bordelltrusts steht, und über die Wachtstuben, die ruhig weiter Jims Odds auf ihren schwarzen Tafeln stehn haben. (Wird's im Januar zwei Tage mit einer Temperatur unter null Grad Fahrenheit geben oder nicht? 5 zu 1.) Wie in fast allen großen Städten rennt soeben ein neuer Bürgermeister mit eingelegter Lanze gegen die Korruption in allen Gebieten des kommunalen Lebens vor. Mir schwirren noch die legendären Hinky-Dink, Bathhouse John und ähnliche Stadtverordneten- und Polizisten-Spitznamen in den Ohren. Zum erstenmal auf meiner ganzen Reise stecke ich allabendlich den Revolver in die hintere Tasche – wie leicht könnte man in einer der stockfinsteren, zu Diebstählen und Totschlag vorbereiteten Gäßchen dieser 297 Stadt an einer Ecke um einen Saloon plötzlich einem Polizisten oder Stadtverordneten in eigener Person gegenüberstehn?
Oben auf der Galerie der Getreidebörse im Board of Trade-Building sitzt neben mir ein alter Herr mit weißem Knebelbart. Er hat seine braune gelbbehaarte Hand ausgestreckt und erklärt mir die Sehenswürdigkeiten dort unten. Nennt die Namen der heulenden Derwische, die um die »Grube« herumstehn, die berüchtigte Grube, »the pit«, in die das goldene Korn der Welt hineinstürzt und aus der imaginäre Papierwerte zurückflattern auf den betrogenen Erdball.
Es gibt noch drei andere Gruben in diesem Saal, die Maisgrube, die Hafergrube und die Speckgrube. Das wildeste Geheul und verzweifeltste Gedränge ist aber um die Weizengrube.
Auf einer hohen Kommandobrücke zwischen den Gruben der Weizen- und der Maismakler stehen die Inspektoren vor langen Papierbogen, Logbüchern der Börse. Zu ihnen schießen über dünne Stahldrähte blinkende Metallkapseln herüber von den hundert Telegraphenschaltern am Ende des Saales. Ein fortwährendes Knacken tönt von den Tafeln, die die Namen der Erntedistrikte Amerikas aufgeschrieben tragen, ins Stimmengetöse herüber. Auf der anderen Seite des Saales rieseln aus Hunderten von Papiersäckchen die Weizenproben in die Holzschalen nieder.
Der alte Herr neben mir besitzt viertausend Acker Land in Nebraska und ist auf der Durchreise nach dem Osten, wo seine Kinder studieren. Er ist mit seinem Jahr zufrieden, die Hyänen der »Grube« haben weder ihn noch seine Kinder zerfleischt. Ein spitzmausähnlicher kleiner Jude steht auf der untersten Stufe der Grube und blickt blinzelnd in die brüllenden Rachen um ihn hinein. Dies ist derselbe Mann, der vor zwei Wochen eine »Operation« in Weizen versucht hat und elend gescheitert ist. 298 Man hat ihn rechtzeitig »gestützt«, d. h. drei Millionen Bushel liegen jetzt für seine Rechnung in den Elevatoren von Chicago, Madison und St. Louis, die er kleinweise und mit ungeheurem Verlust an die Müller zu verkaufen versucht.
Gefilde von Gretna, stille abendliche Spazierwege Altonas oben in Manitoba! Die blitzenden Metallkapseln schießen hin und wieder, verknüpfen die Geschicke der Menschen, Menschen, die einander nicht kennen, fremde Geschicke . . .
Ein Wutschrei steigt aus dem heulenden Zwinger, aus den drei hinunterführenden Stufen des vollgespuckten Schwimmbassins empor. Hunderte von Händen recken sich wie zum Schwur. Aus allen Ecken des Saales laufen Menschen, Arme und Beine wie im Veitstanz schlenkernd, an die Grube heran. Von der Kommandobrücke beugt der Inspektor ein Ohr hinunter. Dann schreibt er eine Ziffer auf den Bogen. Ein Blitz schießt von der Kommandobrücke zu den Telegraphenschaltern zurück. Hunderttausend Ticker ticken in der ganzen Welt eine und dieselbe Zahl, auf hunderttausend Köpfen sträuben sich die Haare, in hunderttausend Betten werden sich heut nacht schlaflose, erschöpfte Menschen wälzen bis zum Tagesgrauen.
Mein Nachbar nimmt lächelnd Abschied. Seine haarige Hand geht kaum in meine hinein, wie wir uns mit einem guten Händeschütteln voneinander trennen.
Unten um die Grube dauert das Gebrüll, das Gestikulieren, der Hexensabbat fort. Aus den Schwurhänden sind geballte Fäuste geworden. Jede scheint die nächste zu bedrohen. Gute, warme Faust des Ackerbauers, herrliche, breite, ruhige Faust schwielig wie die Rinde der Erde! –
Im Schatten des Korridors, der zur Treppe führt, sitzt eine schwarze, hochgewachsene Frau auf einer Bank. Unter ihrem breitkrempigen Hut ist der Schleier vom Gesicht zurückgeschlagen. Ihr Gesicht ist blaß und hat 299 schöne, große und einfache Züge. Sie kann nicht älter sein als Fünfunddreißig. Sie sieht vor sich hin, keinen der Vorübergehenden an. Sie trägt einen schweren schwarzen Pelz. Ihre Hände in schwarzen Handschuhen ruhen auf ihrem Schoß. Sie halten einen kleinen Bleistift und ein zerknülltes Stück Papier. Wenn das Geheul bis an ihre dunkle Ecke aus dem Saal herüberdringt, schreibt die Frau mechanisch, ohne niederzublicken, ein Zeichen, eine Ziffer, auf das Papier. Was schreibt sie auf? Worauf horcht sie?
Wie mich zwei Wochen später mein Weg um die Mittagsstunde wieder an der Börse vorüberführt und ich für einige Augenblicke auf die Galerie hinauflaufe, sehe ich die Frau auf dem gleichen Platz sitzen. Bleich starrt sie ins Leere vor sich. Ihre Hände, die leblos scheinen, halten den Bleistift, das Stückchen Papier . . .
Unten aber, vor dem Haus, sieht's aus wie auf dem Markusplatz in Venedig. Tausende von weißen Tauben flattern um den rauchgeschwärzten Kasten. Die verstreuten Körner aus den Mustersäckchen bleiben nicht lang auf dem Pflaster liegen. Mancher heulende Derwisch, der seinem Mitmenschen das letzte Weizenkörnchen am liebsten vom Munde wegreißen möchte, steckt eine Handvoll in die Tasche, eh er die »Grube« verläßt. Die weißbeschwingten Kinder der Atmosphäre statten ihm ihren Dank dafür auf ihre Weise auf Hut und Paletot ab.
In dieser flüchtigen Skizze soll ein weniges über den heiligen Sonntag gesagt werden, an dem die tollwütige, fiebernde Stadt von der Arbeit auszuruhen vorgibt. Von einer Sonntagsruhe nach europäischen Begriffen ist hier keine Rede, obzwar man weniger Leute auf den Straßen sieht als in europäischen Großstädten. Es heißt vielmehr, sich vom Samstag zum Montag hinüber zu schwingen, ohne das Tempo und Gleichgewicht auf der Kurve zu verlieren, sich nicht überrunden zu lassen von denen, die ihre Anfangsgeschwindigkeit nicht von neuem sich 300 holen müssen, sondern bereits im vollen Tempo einfahren.
Ein Tag von 24 Stunden ist, zumal in Amerika, eine Menge Zeit. Man wird nicht 70 und darüber, sondern 40 und darunter, und es sind Kriegsjahre, das weiß Gott. Da das Gesetz das Geschäftemachen mit den Menschen am Sonntag verbietet, macht der Amerikaner mit seinem Gewissen Geschäfte am Sonntag, revidiert seinen Kontrakt mit dem lieben Gott, dieser Kontrakt muß mindestens sieben Tage lang bindend bleiben für beide Teile. –
Der liebe Gott hat am Sonntag in Chicago alle fünf Schritte weit ein andres Gesicht und einen andern Namen. An der eleganten Michigan-Avenue, die, als der »Corso« Chicagos, als eine Wolkenkratzerreihe das Seeufer entlang aufgepflanzt steht, kann man an einem Sonntagmorgen fünfundsiebzig Weltanschauungen dahinlaufen sehn. Jede läuft in ein separates Tor hinein, hinter dem ein Saal mit Hunderten von Stühlen steht. Um zehn ist jeder dieser Säle zum Platzen voll. In jedem wird ein Gottes- oder Gewissens- oder Hirngespinstes-Dienst abgehalten, der mit Gesang und Bibelzitaten anfängt und mit dem Klingelbeutel aufhört. Was dazwischen liegt, ist das außerordentlichste Sammelsurium von Schriftauslegungen, Darstellungen sozialer, ethischer Nöte, religiöser Wahnideen, indischer Mystik, mehr oder weniger verhüllter Geschäftstricke und Gewissenquacksalbereien, die die Welt an einem Sonntagmorgen im November mitgemacht, erduldet und angesehen hat. Über die Kirche in Amerika schreibe ich später ein Kapitel, hier will ich über die letzten Zuckungen einer der stärksten religiösen Bewegungen, die Amerika je erlebt, kurzen Bericht geben.
Der Prophet Elijah, Elijah der Wiedererbauer des Neuen Zions, ist tot. Im Leben führte er den Namen John Alexander Dowie und war eins der größten Geschäftsgenies des neuen Amerikas. Zwei Stunden nördlich von Chicago liegt Zion City, die Stadt, die berufen war, das Neue Zion zu werden. Das Neue Zion mit dem 301 heiligen Tabernakel des Glaubens im Mittelpunkt der Stadt und einem kolossalen Verwaltungsgebäude dahinter, zur Ausbeutung der menschlichen Dummheit errichtet und Zentrale der in Dollar umgerechneten Leichtgläubigkeit des Menschengeschlechtes.
Das Tabernakel und das Haus dahinter, keines ist je gebaut worden, von Zion City ist nur der Name übrig geblieben und eine gutgehende Spitzenfabrik, Dowies einzige erfolgreiche Gründung.
In Chicago findet in einer gemieteten Kirche ein letzter verzweifelter Versuch zur Sammlung des Häufleins der Zionsgetreuen statt. Der »Aufseher der Christkatholischen Kirche von Zion über die Welt« hat sich soeben nach seiner Rede niedergesetzt, da steht einer von den Getreuen auf und verlangt Rechenschaft über das nicht gehaltene Versprechen des Propheten, in kurzem im Fleische aufzuerstehn und unter den Seinen zu wandeln. Fünf Jahre sind vergangen und er wandelt immer noch nicht. Der Frager hat eine Nacht sitzend auf dem Grabe des Propheten zugebracht und sein Ohr auf den Stein gelegt. Kein Laut. Nichts.
Der »Aufseher« erhebt sich und verkündet, das Versprechen sei so zu verstehen: mit Christus zugleich wollte der Prophet in seiner Stadt Zion erscheinen. Seit aber, mit der Verweltlichung Zions, Asphalt über die Erde Shiloahs gelegt worden ist, ist die letzte Hoffnung geschwunden. Nie würden sich Christs durchbohrte Füße an den Asphalt der neuen Zeit gewöhnen. . . .
Am nächsten Sonntag, 26. November, liegt das Neue Zion bereits im Sterben. Die Witwe des Propheten, Mrs. Jane Dowie, eine kleine frisierte, wie eine Haushälterin oder Kartenlegerin aussehende Frau, predigt in einem kümmerlichen gemieteten Zimmerchen im Loop-Viertel. Vor anderthalb Dutzenden reduziert aussehender alter Weiber und Männerchen, die fröstelnd und zittrig die Psalmen mitsingen, womit die Sache angeht.
Dann redet die Witwe. Sie hat den Talar ihres Gatten 302 an, denselben, in dem der Prophet vor sieben Jahren in Madison Square Gardens, Newyork, vor 30 000 Menschen geredet hat. Ihre Rede ist nicht Ja Ja und Nein Nein, sondern ein Geschwätz aus Bibelbrocken, Reminiszenzen an ihren Mann, den sie abwechselnd: »der Prophet« und »my husband« nennt, und einem unverblümten Geschimpfe auf die erfolgreichere Witwe, deren Bude nebenan auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten einen stärkeren Zulauf hat. – Diese Witwe ist Mrs. Baker Eddie, die Schöpferin des Gesundbeter-Glaubens, der Christian Science.
»Meine Seele ist in Nöten, aber Christus nimmt sie von mir. Nicht um die Welt würde ich mit jenen tauschen, die aus Lug und Trug geschaffen sind und sich bereichern durch Irreführung. Ich weiß, ich darf meinem Gott vertrauen, aber dieser Saal kostet zehn Dollar, und wenn Sie einen billigeren wissen, so sagen Sie mir die Adresse. Wir werden jetzt um Kraft und Stärke beten, dann kommt die kleine Kollekte, erinnern Sie sich, daß der Saal zehn Dollar kostet, und ich arme schwache Frau kann doch wirklich nicht draufzahlen.«
Während des Schlußpsalms schlägt die Witwe des Propheten mit der rechten Hand den Takt, derweil zählt die Linke das Geld im Körbchen, das der Küster des »Neuen Zions« auf den Altartisch neben sie hingestellt hat. –
In dunklen Scharen, aufgeregt und hysterisch, strömen die Americanos aus ihren 75 Kirchen die Michigan-Avenue entlang. In ihre Heime werden sie die Beängstigungen über die Trostlosigkeit ihres ins Nichts hineingaloppierenden Speed mitnehmen. Mühe verursacht es ihnen, nicht über die Arbeitslosen zu stolpern, die alle zehn Schritte weit auf dieser elegantesten Avenue der Stadt herumlungern und betteln. Elend und hohläugig stehen sie da und betteln, in Mengen, denen man nur im gesegneten Italien, dem Land der blaugoldenen Sonne und der göttlichen Faulheit, zu begegnen gewohnt ist. 303