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Ich habe zwischen Winnipeg und dem Felsengebirge ein Dutzend Städte Kanadas gesehen, ein Dutzend und darüber, von allen Sorten und Preislagen sozusagen, von solchen, die eben aus dem Ei herausgekrochen waren, bis zu denen, die grad in ihre Flegeljahre eingetreten sind, denn ältere gibt es nicht dahier.
Winnipeg selbst war vor 40 Jahren noch Fort Garry, wo die Trapper und Felljäger der Hudsons Bay Company ihre Biber, Füchse und Bären abluden, wo diese Füchse sich Gutenacht sagten – und zählte sonst nicht mit auf Gottes weiter Erde. Heute wohnen dort 200 000 Menschen.
189 Die Entwicklung dieser Stadt geht mit solch rapiden Sprüngen vorwärts, daß sich ihrer Bewohner ein gelinder Größenwahn bemächtigt hat. Wenn einer sich bis zu der Prophezeiung versteigt: in 25 Jahren werde das Parlament Großbritanniens in Winnipeg seinen Sitz haben, und Buckingham Palace werde am Ufer des Red River stehen, so darf man mit dem Finger einen Kreis um die Stirn machen und weitergehn. Aber was soll man sagen, wenn einem mit einem Stück Bleistift und Papier schwarz auf weiß erklärt wird, auf welche Weise in zehn Jahren Winnipeg Chicago überflügelt und den Welthandel aus den Staaten zu sich herübergezogen haben wird?
Im Westen dahier muß man überhaupt seine Uhr reparieren lassen und seine Zeitrechnung anders einstellen als in der Welt draußen. Eine Rubrik in der Winnipeger Tageszeitung betitelt sich: »Looking backward«, und in dieser Rubrik stehen Ereignisse aus der vorgeschichtlichen Zeit 1880 verzeichnet. Wie Montreal seinem Maisonneuve, hat Winnipeg seinem Eroberer ein Denkmal gesetzt. Ja, Besseres getan, diesen Eroberer selber in eigener Person als Denkmal verwendet und verwertet. Er steht gegenüber dem Bahnhof, in einem Glashaus, trägt die Inschrift: Lady Dufferin und ist eine Lokomotive, die Lokomotive Nr. 1 der Canadian Pacific Bahn, 1877 auf einem Schiff über den Lake Superior herüber und auf frischgelegten Schienen hierhergebracht. Einwanderer stehen andächtig vor diesem ehrwürdigen Instrument und flüstern: »34 Jahre alt!«
Winnipeg hat sich auch schon ein paar Wolkenkratzer beigelegt und ist stolz auf sie. Man könnte nicht sagen, daß hier schon erheblicher Mangel an Raum herrsche, die Prärie dehnt sich um Winnipeg herum, aber der Städtebengel prahlt auf seiner Hauptstraße mit den hohen Häusern, die dem Fremden einen Beweis seiner unerhörten Vitalität liefern sollen. Der Fremde denkt an ein gefährliches Spielzeug, ein Taschenmesser, das sich der unartige Junge für sein erstes Taschengeld angeschafft 190 hat, und möchte Winnipeg, wenn's das gäbe, am liebsten in ein Freeville für Städte schicken, bis es großjährig wird.
Jugendlich und jugendprotzig ist hier alles. Menschen, Zeitungen und Firmenschilder schwelgen in Superlativen, daß einem schwindlig wird. Eine ungesunde Habgier schlägt sich, rasch, rasch, ehe die Weizenzüge, aus der Prärie kommend, nach dem Osten weiterrollen, hier noch den Wanst voll vom Ertrage der Arbeit in den Ländern dort im Westen. Die Spekulanten kommen aus aller Herren Ländern und spekulieren zusammen mit jenen, die sich in den westlichen Weizengebieten Kanadas in den letzten Jahren bereichert haben und nun ihr Geld in der Stadt in die Höhe schießen lassen. Es gibt eine ortsansässige Macht von Pionieren, Pionieren von gestern und vorgestern, die heute die Plutokratie Winnipegs vorstellen, mit all den Merkmalen dieser Klasse auf dem alten Kontinent.
Wenn ich mich für den Gedanken begeistert habe, daß ein Armer aus der alten Heimat hier in kurzer Zeit sein gutes Brot finden kann, so darf ich mich auch nicht empören über den Anblick einzelner, die in kürzester Zeit so viel Butter auf ihr Brot streichen konnten, daß es ihnen jetzt fett von den Mundwinkeln hinunterläuft.
Die österreichisch-ungarische Amts- und Respektperson, die mir die Kulturlosigkeit der Winnipeger Gesellschaft vorklagt, befindet sich im Unrecht. Ich mache mir nichts daraus, daß der Briefträger und Rübenpflanzer von vorgestern heute mit 60 Pferdekräften an den Wolkenkratzern Winnipegs vorbeisaust und seine Ehehälfte mit dicken Brillanten, die sie nicht gestohlen hat, vor drei Jahren noch von den Besuchern ihrer Schankwirtschaft in die Weichteile gezwickt worden ist. Die Söhne und Töchter dieser Dreiviertelalphabeten und ganzen Patrizier werden in zwanzig Jahren aufgeregt durch die Museen Europas laufen und die Zivilisation mit Schöpfkellen in sich hineingießen, und es wird nicht das schlechteste Menschenmaterial sein, bei Gott. Es ist noch ein Unterschied 191 zwischen einer Entwicklung vom Boden der Erde aufwärts und vom obersten Stock eines Bürohauses aufwärts.
Rings um den steinernen Kern Winnipegs ist ein kosmopolitischer Gürtel von hölzernen Vororten gelegt. In den hölzernen Kirchen dort kann man an Sonntagen allen Riten der Welt beiwohnen, in allen Sprachen der Welt Predigten hören. Aus den Holzhütten werden an manchen Stellen Ziegelhäuser, Backsteinhäuser aus diesen und Marmorfassaden. Weit draußen im Felde stehen riesige Bauten ganz einsam, Schulen, Seminare, Krankenhäuser, die die Peripherie künstlich ausdehnen und hörbar zur Stadt reden, also: komm rasch zu mir herausgelaufen!
Jenseits des Red Rivers aber, der die Stadt im Osten in zwei ungleiche Hälften auseinanderschneidet, liegt das rein französische Viertel St. Boniface. Ein Bischof hat sich dort, mit allem was dazugehört, steinern breit und solid eingerichtet, und die katholische Geistlichkeit, der französisch-belgische Katholizismus, zehrt schon, wie eine fette Zecke dahier, an dem gesunden Fleisch des kanadischen Schäfleins.
Der Entwicklungsgang einer Stadt im kanadischen Westen ist folgender.
Zuerst kamen, selbstredend, die Schienen durch die Prärie daher. An einer Stelle neben den Schienen wird eine Holzhütte gebaut und auf diese wird ein Brett genagelt, das einen Namen trägt. Einen Namen, der in fünf Minuten aus der engeren oder weiteren Länderkunde oder Weltgeschichte gefunden wird. Sagen wir: Wellington oder Karthago. Das nächste Gebäude, das Karthago erhält, ist ein rotangestrichener Turm, der Weizenelevator von Ogilvie, von der British-American Co. oder irgend einer anderen Gesellschaft. Ihm gegenüber wird der General Store hingebaut, der zugleich Postamt, Standesamt, Klub, geistliche und weltliche Behörde und Verbindungsglied zwischen der Wüste und der Welt vorstellt. Dieses Gebäude ist von vorn gesehn doppelt so 192 groß, wie von hinten angeschaut. Seine Fassade steigt als eine einstockhohe Bretterwand in die Höhe, wenn man aber ums Haus herumgeht, so liegt das Dach flach auf dem Erdgeschoß, und die erste Etage ist eine Erfindung des unsterblichen Potemkin. Im Generalstore, den ein schweißtriefender, arbeitsüberladener Pionier von einem armseligen, zumeist schottischen Menschenkind verwaltet, findet der Farmer alles, was er braucht und nicht selber produziert. Das nächste Gebäude, das Karthago erhält, ist ein Schuppen mit der Aufschrift: Mc Cormick oder Massey-Harris Farm-Implements. Das sind die beiden großen Erntemaschinenfabriken, die erste hat in den Staaten, die letzte in Kanada ihre Werke.
Bringt es Karthago zu einem Hotel, das das nächste Gebäude in der Reihe ist, so ist Karthago zum Rang einer Stadt emporgestiegen. Jetzt bestehen einfach keine Schranken mehr, die seine Entwicklung hemmen könnten. Gegenüber dem Hotel öffnet ein Friseur seine Bude, die zugleich Billardzimmer ist, und nun bilden das Hotel und die Friseurhütte Karthagos Hauptstraße. Der Grundstücksmakler erscheint auf der Bildfläche, in seinem Häuschen steht ein Tisch, zwei Stühle, ein Feldbett und eine eiserne Kasse. Oho! Karthago zählt bereits mit! Es hat jetzt sogar schon sein steinernes Haus – die Bank of Canada hat es neben den Friseur hingebaut. Daneben erscheint der nächste Pionier, der einen Drug-Store, d. h. eine Apotheke, d. h. einen Quacksalberladen mit Schwindelbüchsen und Teufelsdreck eröffnet. Herr Hong-Sing, der chinesische Wäscher, wird Nachbar des Grundstückmaklers. Vielleicht kommt ein Gemüseladen an, sicherlich aber ein Priester mit bald darauffolgender Kirche und Glockengetöse und in absehbarer Frist der Herausgeber, Redakteur und Drucker der »Carthago Gazette«. Jetzt stehen meterhohe und -breite Tafeln an der Bahnstrecke, ellenlange Ankündigungen in den Blättern der Dominion, alle verkünden Ruhm und Ehre Karthagos, 193 des Stolzes des Westens und des großartigsten Exempels einer Stadtentwicklung im heutigen Kanada.
Steigt man in Karthago aus, weil man auf einen Wagen wartet, der einen landeinwärts führen soll, und geht, um sich die Zeit mit einem schottischen Whisky zu vertreiben, in die Bar im Hotel, so findet man, zu welcher Tageszeit immer, die gesamte männliche Bevölkerung Karthagos an dem Schanktisch versammelt. (Nur der Chinese und der General-Store-Mensch fehlen.) Sofort wird man von fünf Enthusiasten an den Überzieherknöpfen festgehalten.
»Woher des Wegs?«
»Berlin, Germany.«
Hallo – große Zusammenrottung – es ist ein Mann aus Berlin dahergekommen, um den Stolz des Westens zu besichtigen. Europa hat also von Karthago endlich gnädigst Kenntnis genommen.
»Geschäfte, eh? Grundstücke?«
Nein; man macht die Gebärde des Schreibens.
Jetzt verklären sich die Züge der Karthagoer.
Einer tritt vor und spricht:
»Vor sechs Jahren war hier noch nichts –« sagt er. »Prärie! Jetzt schauen Sie einmal an, was hier entstanden ist.«
Sie stecken dir den Kopf zum Fenster hinaus – du siehst gerade fünf Holzbuden und ein Haus von Stein und enthältst dich am liebsten einer Erwiderung.
Die anderen meinen, es hat dir den Atem verschlagen: »You bet your sweet life, in drei Jahren haben wir hier ein neues Winnipeg!«
Dann hat man, zwischen einem »highball« und einem »cloverleaf« auf die ewige Frage: Krieg Englands mit Deutschland oder nicht? zu antworten. Darauf erfolgt das übliche: »How do you like our Country?« und wenn man diese Frage nach bestem Gewissen beantwortet hat, hebt ein Bacchanal von Patriotismus an um den erstaunten Fremdling.
194 Zahlen fliegen durch die Luft, Taglöhnerdollar, mit denen einer anfing, und Busheltausende, mit denen es weitergeht. Zehntausendangebote auf Farm und Vieh. Keiner sagt: bin ich nicht ein Teufelskerl? Jeder sagt: ist mein Land nicht das erste Land der Welt?
Wächst die kleine Stadt weiter – dies geschieht, wenn Wasser in der Nähe ist oder eine neue Bahnlinie vorübergebaut wird, dann fangen auch andere Leute an, von ihr mit Liebe und Bewunderung zu sprechen. Ihr Ruf verbreitet sich im Lande. Rasch kommt der Kinematograph, ein Konkurrent des Hoteliers, einer des Friseurs, einer der Zeitung. Zwei neue Drugstores öffnen ihre Pforten. Drei neue Bars tun sich auf. Ein Ringelspiel mit einer nur drei Töne spielenden Drehorgel versorgt die Stadt mit höheren Genüssen. Und da ist ja auch endlich der Juwelierladen, in dem man bemaltes Porzellan, Jagdscheine und Heiratslizenzen kriegen kann. Die junge Großstadt baut ihren ersten Wolkenkratzer, und zwar ist es der Grundstückmakler, der ihn baut. Derselbe, der mit einem Feldbett und einem eisernen Schrank angefangen hat, als hier noch nichts zu sehen war als drei Hütten; mitten in der Prärie.
195 Einige Städte zwischen Winnipeg und dem Felsengebirge haben es in den letzten zehn Jahren von kleineren verlorenen Ortschaften zum Rang wirklicher Städte gebracht. So, um nur die zu nennen, die ich sah, Saskatoon, Calgary, Medicine Hat, Edmonton.
Edmonton im Norden an dem breiten Saskatchewan-Strom gelegen, durch zwei große Bahnlinien, die Grand-Trunk und die C. P. R. an die gerade Linie von Ozean zu Ozean angeschlossen, von reichen Kohlengebieten und Urwäldern eingefaßt, in einer wundervollen, verheißungsreichen Umgebung – Calgary im Süden, die klimatisch gesundeste Stadt des Weizen bauenden und Vieh züchtenden Alberta am Fuß des Felsengebirges: das sind die beiden Städte, die wohl nach Winnipeg die größte Entwicklung aller westlichen Städte vor sich haben und durch Statistik der Bautätigkeit und Bevölkerungszunahme auch beweisen.
Indes – traue dich nicht, diese Wahrheiten einem Mann aus Saskatoon oder Medicine Hat ins Gesicht zu sagen. Er wird dich anrüffeln: »Saskatoon's allright!« und wenn er sich überhaupt noch die Mühe nimmt, sich mit dir abzugeben, so darfst du dich auf einen Dithyrambus gefaßt 196 machen, der mit zwölffacher Affenliebe das Problem Saskatoon entwickelt und in die Höhe treibt.
Eine Treibhausfrucht, aus der praktischen Ausnützung dieses Lokalpatriotismus erwachsen und durch irrsinniges, überhitztes Inserieren und Lärmmachen in den Zeitungen zu fabelhaften Proportionen aufgedunsen ist die Grundstück- und Bodenspekulation in Kanada. Kommt man nach dem Westen, so merkt man bald: jeder zweite Mensch ist ein Grundstücksmakler und Spekulant.
In Edmonton habe ich zwei richtige Photos nebeneinander im Schaufenster eines Real-Estate-Agenten gesehen: Edmonton Anno 1908 und Edmonton Anno 1915. Die letztere war die Photographie einer wolkenkratzergesegneten Stadt der westlichen Staaten, Kansas City oder St. Paul. In Calgary fuhr mich ein Grundstückspekulant auf einen Hügel außerhalb der Stadt, zeigte mit Feldherrngebärde auf das weite, mit zwei, drei Villen schüchtern und schütter bebaute Land, das ihm untertänig war und in den letzten drei Jahren fünfzehnmal mehr wert geworden war als zur Zeit, da er es gekauft hatte.
197 Spekulanten aus den Staaten, meist deutlich jüdischer Herkunft, sausen durch die lehmigen Straßen dieser Stadt feist und siegesbewußt in Automobilen wie Kegelbahnen so lang. Der Neger, der meine Schuhe wichst, hat ein Terrain vor der Stadt. In den Zeitungen stehen Annoncen: Mr. Workingman!! Miß Typwritergirl!! und in den Hotels macht der Gast mit dem Kellner beim Frühstück Grundstücksgeschäfte.
In gewissen Orten erreicht die Zahl der Real-Estate-Agenten eine absurde Höhe. In Vancouver, sagte man mir, leben (bei einer Einwohnerzahl von 100 000) fünfzehntausend Menschen, Agenten mit Angestellten und ihren Familien, vom Real-Estate-Geschäft. Im Vancouver-Hotel sehe ich mir das nach Gewerben geordnete Telephonbuch an und schlage Real-Estate auf. Beim Buchstaben C gebe ich das Zählen auf und habe bis dahin 144 gezählt.
Jedes fünfte Schaufenster ist mit Kartoffeln, Blumenkohl, Ähren und Obstzweigen geschmückt, und drin kann man Farmen kaufen. Aber von zehn Schaufenstern sind sieben solche, in denen die blauen mit weißen Linien gezeichneten Bogen der Häuser- und 198 Stadtgrundstückmakler hängen. Die Häuser auf diesen Grundstücken werden von Leuten gekauft, die in ihnen sitzen und aufpassen werden, wie die Preise ihrer Grundstücke in die Höhe schießen.
Dabei schaut der Europäer zu, daß er so bald wie möglich aus diesen im Wachstum sich rekelnden Großstädten davonkomme. Das Wasser, das einem in die Wanne läuft, ist eine gelbe Jauche; Städte wie Winnipeg sind um gewisse Jahreszeiten Fieberherde und Reinkulturen von Typhusbazillen; in ausgewachsenen Städten ist die Hauptstraße gepflastert, in allen andern aber wirbeln die Hufe eines Bronchos und die Räder eines Automobils Staub und getrockneten Mist bis in den dritten Stock hinauf; das einzige gute Hotel ist tagelang, eh man ankommt, überfüllt, und für Wochen hinaus belegt und das nächstbeste, in dem man unterkommt, ist von einer Beschaffenheit, daß man sich vor seinem Nachthemd schämt, wenn man zu Bette geht.
Für Straßenbahnen, elektrisches Licht, Marmorbelag in Wolkenkratzern, für Fabrikanlagen, Webe-, Eisen-, Zucker-, Sägewerke, prunkvolle Regierungspaläste hat der 199 Westen Geld übrig, aber das Wort Hygiene ist einstweilen hinter der Potemkinschen Bretterwand liegen geblieben.
Die Väter der Stadt sitzen in den Hotels an den Fenstern im Vestibül und haben ihre Füße vor sich, hoch, fast bis in den ersten Stock hinaufgelegt, auf die Brüstung der Fenster. Riesige Stiefelsohlen mit Seidensocken darunter und haarigen Beinen dahinter starren den draußen Vorbeiwandelnden an. Schaut man über die Sohlen hinüber danach aus, was dort hinten vorgeht, so sieht man in der Verkürzung einen selbstzufriedenen, erfolgreichen Dreiviertel-Alphabeten, wie er mit Genugtuung die Brillantenringe an seinen breiten Arbeitsfäusten betrachtet. Neben ihm steht auf dem Boden der mächtige Spucknapf, Cuspidor geheißen wie ein Held aus der Cid-Legende. Der Gewaltige kaut, aber was er kaut, ist nicht Gummi, wie im Osten, sondern Tabak. Von Zeit zu Zeit beißt er aus einer gepreßten Tafel mit Wolfszähnen eine Ecke ab, die so lang im Mund herumgewälzt wird, 200 bis ein Strahl wie aus einer Kaffeekanne in den spanischen Ritter auf dem Fußboden hinunterfährt.
Wenn du dich neben den Gewaltigen setzest, wirst du statt Psychologie Statistik profitieren, eine höchst reale Statistik, die in den Taschen des Gewaltigen klimpert. Die Symphonie des Westens ist in dieser Tonart komponiert.
Schaut man vom Platz der Väter durch die Scheiben auf die Straße hinaus, so sieht man zwischen den jungen, kräftigen Männern, die dorten gehen, hübsche junge Mädchen trippeln, einen notwendigen Importartikel, der mit Windeseile unter die Haube geweht wird. Alle Menschen haben den sympathischen, selbstbewußten Zug im Gesicht, der besagt: wir wissen, wir werden gebraucht dahier, und wir wissen auch, daß wir die Frühangekommenen sind. Wann wird es hier Nachzügler geben? Die Zeit ist nicht abzusehen.
Alle guten Wünsche für die Starken und Willigen, die Hintersichwerfer alter Verhältnisse, die Wagemutigen, die ihren Brocken Sicherheit gegen die Berge Ungewißheit eintauschen möchten – aber wenn ein Rotrock von der Canadian Western Mounted Police vorübergeht, da weht einem die scharfe, würzige Romantik aus lieben Büchern der Kinderjahre um die dankbare und erwachsene Nase.
Mit dem Militär in Kanada hat's die gleiche Bewandtnis wie mit dem Militär in England. Wer einen besseren Job findet, hütet sich, Tommys Khaki anzuziehen. Außer, er hat sich in die Karnevalstracht der schottischen Hochländer verliebt. Mit der berittenen Polizei des kanadischen Westens hat es aber seine eigenen Wege.
In Winnipeg lernte ich einen jungen Mann kennen, er arbeitet jetzt im staatlichen Einwanderungsamt und hat mir die Einrichtungen des Amtes und Asyles im Auftrage von Bruce Walker gezeigt. Ehe er dieses interessante und ersprießliche Amt bekleidete, war er jahrelang Sergeant bei den Berittenen gewesen.
201 Im Städtchen Humboldt, Nordsaskatchewan, einem exponierten Platz, von wo es galt, mit vier Untergebenen in den endlosen Einöden und Wäldern auf Verbrecher zu jagen und die Indianerstämme im Schach zu halten.
Sein Vater bekleidete eine höhere Charge im deutschen Heer. Er selbst stammt aus Berlin und hat in Greifswald Medizin studiert. Seiner Wissenschaft verdankte er diese heikle Aufgabe: einmal, mitten im Winter, drei Reittage weit im Norden einen ganzen Indianerstamm, Männlein und Weiblein, gegen die Pocken zu impfen, es grassierte die Krankheit unter den Rothäuten.
Man sieht, es ist keine Sinekure, die die Mounted Police in Kanadas Westen ausübt. Tage und Nächte lang einem Pferdedieb aus einer Ranch über Steppe und Wälder allein nachjagen müssen. Oder einem bis an die Zähne bewaffneten Desperado aufzulauern, der, nachdem er einer ganzen Farmersfamilie den Garaus gemacht hat, die Gegend nach Obdach, Nahrung und Whisky durchstreift.
Alles in allem zählt die Mounted Force nicht mehr als 650 Mann und ist mit dem Wort Polizei unrichtig gekennzeichnet. Unter ihren Cowboyhüten tragen die Männer der C. W. M. P. ein selbstbewußtes, verwegenes und intelligentes Gesicht zur Schau. Sie sind gut bezahlt, mit unbeschränkter Autorität über ungeheure Gebiete ausgestattet, und ihr Job ist einer, den sie sich aus eigenem 202 Antrieb gewählt haben, in den meisten Fällen. Sollte ich diese Miliz mit einem in Europa mehr bekannten Militärkörper vergleichen, so wär's die Fremdenlegion, die ich nennen müßte. Nur daß die Leute der Mounted Police aus ganz anderen Gesellschaftsschichten herkommen als jene Unglücklichen in Sidi bel Abbes dort unten im tiefsten Abgrund der Menschheit.
Ein Bekannter, der bei einem Crikett-Match der Leute in Regina dabei gewesen ist, erkannte in ihren Jacken und Mützen all die Farben der feudalen Hochschulen Englands, Trinity-College von Cambridge, Balliol und Christchurch von Oxford und die Ramblers von Eton dazu. In Wahrheit sind es nicht wenige von den »jüngeren Söhnen« der ältesten Adelsfamilien Englands, die in dieser wilden Miliz unter angenommenen Namen ihrer Abenteurerlust und Verzweiflung nachhängen. –
Ich glaube, ich muß in diesem Kapitel noch Rechenschaft über den gegenwärtigen Stand der Cowboy-Spezies ablegen. Es sind mir einige Exemplare dieser romantischen Menschenart untergekommen, ich will sie in kurzen Worten klassieren und erledigen. Nach meiner Wahrnehmung bildet die gewaltigste Mehrzahl die kommerzielle Gattung der Buffalo-Bill-Zirkusreiter. Des weiteren gibt's den Amateur-Cowboy. Einem dieser Sorte bin ich in den Rockies begegnet. Er vermietete Pferde und ritt in Fellhosen mit den Gesellschaften der Ausflügler mit. Zitierte einer von der Partie Browning oder Ruskin, und zwar falsch, so stieg der Gaul des Cowboys hoch, und der Cowboy mußte ihm die Sporen geben und den Irrtum verbessern. In Morley (bei den Indianern) bin ich einem wirklichen Cowboy von einer Ranch begegnet, der über die Aussichten der deutschen sozialdemokratischen Partei bei den nächsten Wahlen, Spaß beiseite, erschöpfende Auskunft zu geben vermochte und mich im übrigen versicherte, daß er seine Stimme auf Herrn Arthur Masters, den Kandidaten der Sozialdemokraten Calgarys, abgeben werde. Einen andern habe ich in Vancouver gesehen, wie 203 er in Lederhosen und Sporenstiefeln, im roten Hemd und gelben Halstuch, mit einem Lasso widerspenstige Besucher in ein Kinematographentheater hineinlotste. Dies hört sich wie ein Witz an, bedeutet aber im Grunde, daß die Profession im Rückgang ist. In Bow-Island, Süd-Alberta, war ich Gast der Familie Mc Gregor, die eine der größten Pferde- und Vieh-Ranches der Gegend besitzt. Auf dieser selben Ranch habe ich die erstaunliche Experimental-Farm gesehen, von der ich in einem vorigen Kapitel Bericht gab. Die Ranches, die auf unendlichen Strecken nur Weide für Vieh und Pferde abgaben, weichen allmählich einem System von »gemischten Farmen«, zumal seit die künstliche Bewässerung sich in den Gegenden, die ich bereiste, zu bewähren anfängt. Der Cowboy sitzt jetzt einen Teil des Jahres auf den Erntemaschinen seines Arbeitgebers und wird erst im Spätherbst für einige Tage, wenn der »Roundup«, das Einfangen und Abstempeln des Viehs auf den Gütern, stattfindet, ein strickeschmeißender Sohn der Wildnis. Er schießt nur mehr in schlechten Romanen in den Spiegel hinein und die Korke aus den Flaschen. Er fährt in Automobilen in die nächste 204 Stadt und ist auf linksstehende Zeitungen abonniert. Er fühlt sich als Arbeitender und als Knecht des Arbeitgebers. Aus praktischen Gründen trägt er wohl Hosen aus Ziegenfell und zwei Revolver im Gürtel, aber der Hausmeister-Sprößling in Schöneberg, der sich am Samstag für 10 Pfennige seinen allwöchentlichen Nick Carter kauft, hat romantischere Gelüste – als dieser junge gebräunte Arbeiter auf den öden Steppen zwischen Clyde- und Galloway-Herden.
Es ist nichts mehr los mit der alten Romantik aus unseren lieben Büchern der Kinderjahre. Vielleicht noch oben in dem sagenhaften Alaska, unter den Goldgräbern und Jägern in den unerforschten Wäldern. Hier unten, in den Gegenden der Eisenbahn und der Zeitungen, gibt's keine andere Romantik mehr als die des erwachenden Bewußtseins von dem, was nottut – und wenn noch so viele Ziegenfellhosen auf gondelähnlichen spanischen Sätteln durch die Felder sausen.