Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Stationen zwischen Pazifik und Mississippi

Die Stadt der Erdbeben

Schon auf dem Lloyd-Schiff hab ich dieses Wort vernommen: »a muckraker«, einer der Schmutz harkt. Im Gespräch mit meinem Amerikaner, dem Sportsmann und Neu-England-Aristokraten, hatte ich ein paar Namen genannt, die ich verehre: Robert Hunter, John Spargo, Charles Edward Russell. Mein Amerikaner blies nach jedem dieser Namen, wie ein Rauchkringel aus seiner Zigarre, das Wort in die Luft. Ich hatte es nie gehört und ließ es mir von ihm auf den Rand der Schiffszeitung aufschreiben.

Jetzt finde ich es in einigen Einführungsschreiben, die mir kanadische Freunde an Leute in den Staaten mitgegeben haben, als ein Epitheton ornans wieder, auf das ich eigentlich stolz sein müßte: »he is a good muckraker!« heißt es in diesen Briefen von mir.

Ich muß mir für die Leute, denen ich meine Briefe überreichen werde, einen Kommentar herrichten. Auf dem Weg von Victoria nach San Franzisko hinunter gelobe ich mir's, niemals Parallelen ziehen zu wollen, zwischen dem Kontinent, aus dem ich kam, und dem, auf dem ich bin; den eigenen privaten Standard von Gut und Böse auf die Einrichtungen dieses großen Landes anzuwenden; meinen Eindrücken, wenn's geht, liebevoll zu mißtrauen, und das Morgige, Klare und Reine zu suchen hinter den Dunstwänden der Alltagsmiasmen, vor denen so viele, sich die Nasen zuhaltend, aus den Staaten fliehen.

Das Mistharken kann der fremde, wiß- und wahrheitsbegierige Zuschauer getrost den Einheimischen, den Americanos überlassen, die sich dieser ehren- und dornenvollen Aufgabe gewidmet haben. –

Vier Monate lang hab ich nun Zeitungen und Zeitschriften hier herüben gelesen und bin erstaunt von der Summe sozialer Arbeit, die die Schmutzharker leisten. Schlag welche Nummer der großen, in Auflagen von 252 100–500 000; von einer Million bis zu 1 750 000 Exemplaren monatlich oder wöchentlich erscheinenden Zeitschriften auf, von »Everybodys«, »Munsey«, »Colliers«, der »Saturday Evening Post«, und du gehst sicher, in ihr einen Muckraker an der Arbeit zu finden. Du wirst einen in den stärksten, mutigsten und dezidiertesten Worten verfaßten Aufsatz lesen können, in dem einem der großen sozialen Schäden des modernen Amerikas zu Leibe gegangen wird. Revolte gepredigt, der Sinn für das Gute, für das Ideal Lincolns, das amerikanische Prinzip der Achtung vor dem Individuum gestärkt und unterstrichen wird.

Zwei große Augiasställe werden geputzt und geputzt, die Truste und die politische Korruption in Washington und in den Staaten. Der Trustmagnat und der Grafter, der Bestochene, auf diese zielt die Mistgabel des Muckrakers; und da der letztere die Kreatur des ersteren ist, so bekommt er selbstredend zuerst die Zinken in den Leib. Aber der Schmutz, den sein zerplatzender Organismus umherspritzt, besudelt den immer noch irdischen, aber aus haltbarerem Material geschaffenen Götzen dahinten dermaßen, daß heute schon jeder von diesen Rockefellers, Goulds, Carnegies und Morgans in einem Kleid von Blut und Schmutz von oben bis unten angetan vor dem empörten Rechtsgefühl des Americanos dasteht.

Jeder von den Millionen, die hier die Zeitschriften lesen, weiß heute Bescheid über die großen Raubtruste, die Milch-, Wolle-, Eis-, Stahl-, Öl-, Eisenbahn-, Fleischtruste. Jeder kennt die Einrichtungen der »Lobby«, des Vorzimmers, in dem der Politiker mit dem Bestecher verkehrt; auf den Boß, der die städtischen Konzessionen gegen tüchtige Trinkgelder an seine Günstlinge verteilt, zeigt heute jedes Kind mit dem Finger zwischen dem Pazifik und dem Atlantischen Meere.

Der Reihe nach wird die Schande des Landes, die Korruption der großen Städte und ihrer lokalen Machthaber, vor den Augen des großen Amerikas durch die Zeitschriften, die jeder liest, aufgedeckt.

253 Neben der Anklageliteratur der Zeitschriften hat sich eine Anklageliteratur in den Romanen, der dramatischen Produktion Amerikas entwickelt. Man darf getrost sagen, jeder bedeutendere Schriftsteller des heutigen Amerikas ist Sozialist. Kämpft, mit der Waffe der Begeisterung oder dem Handwerkzeug der Tendenz, für die Befreiung seines Landes aus der Sklaverei eines Systems, das mechanisch und automatisch die Masse verelendet und einzelne in schwindelnde Höhen des Wohlstands emportreibt.

Beneidenswerte gibt es unter ihnen, die direkten Einfluß auf die Reorganisation wertvoller Institutionen ausgeübt haben, oder wenigstens eine Reorganisation in die Wege geleitet haben. Ihren Namen nennt jeder rechtlich Gesinnte mit Sympathie, zwischen den beiden Meeren. Da ist der jung gestorbene Frank Norris, der diese selbe Bahn, auf der ich jetzt von Norden nach Süden fahre, die Southern Pacific, in seinem Meisterwerk »The Octopus« bloßgestellt hat. Da ist der Verfasser des »Jungle«, Upton Sinclair. Da ist der genialische Jack London, ein als Abenteuersucher verkleideter Prophet und Revolutionsstifter. –

Ganz deutlich nehme ich den Klimawechsel auf dem Weg von Kanada nach dem westlichen Staat der Union wahr. Ganz anders reagiert meine empfindliche Epidermis auf die überstürzte Daseinsfreudigkeit des jungen Kanada und auf das männliche Sichselbstbesinnen der Stadt hier unten in Kalifornien.

Gerade wie ich ankomme, gehen wichtige Dinge im politischen Leben des Staates vor. Die Frauen gewinnen das Wahlrecht. In Los Angeles bereiten sich die Dinge des Mac Namara Dynamit-Prozesses vor – noch wenige Tage und die angeklagten Brüder, Sekretäre der Stahl- und Brückenarbeiter-Gewerkschaft, werden sich offen zur Propaganda der direkten Aktion bekannt haben. Einstweilen kämpft die Reaktion, mit dem verrotteten alten »General« Harrison Otis an der Spitze, gegen den jungen aufsteigenden Gouverneur Hiram Johnson, von dem die Welt noch hören wird.

254 Es ist nicht schwer vorauszusagen, wer gewinnen wird: der faule Kapitalist, der gegen den sicher herankommenden Mob geifert, oder dieser sympathische Idealist, von dem das Wort stammt:

»When you create a class to govern in this country, just that instant you violate a fundamental principle, on which we founded this government, and you strike a blow to liberty itself. It's a survival of the old worship of power. The rabble and the mob! We're all the rabble and the mob in this Country, and the present design of the government of this State is, that you shall all participate in it.«

(Aus einer Rede des Gouverneurs Johnson vor Richtern und Anwälten.)

In Kanada, dem Lande, in dem die Unterschiede noch nicht so betont sind, in dem sich die Klassen, die Kasten, die Bezeichnungen noch in einem halbflüssigen Zustand befinden, durcheinander gehen und ineinander überfließen, klingt ein Satz wie dieser oben unterstrichene hochmütig und anmaßend. Hier unten darf er einen schon begeistern. Weiter im Osten wird man ihn belächeln und sagen: von dem ersten Mann eines westlichen Staates sei doch weiter nichts zu erwarten als eine hochtönende Phrase. Das Volk des Westens gilt dem im Osten als showy people, als lautes, vordringliches, seine Gesinnung in greller Weise ausposaunendes Volk. Der Westen revanchiert sich und schimpft die Leute des Ostens Jingos und erkaltete Hyperboräer mit zugeknöpften Taschen und Herzen. Tatsächlich kommt man auf der Fahrt von Westen nach Osten Europa rapid näher. In Chicago friert's einen schon beträchtlich, in Newyork vollends ist die Atmosphäre schon ganz geladen mit Europa. Mag der Westerner noch so grell und laut sein, naiv und gutmütig, begeisterungsfähig und gastfreundlich, leichtlebig und rasch gerührt ist er. Er baut rasch und sitzt nicht lange trauernd auf den Ruinen herum. Er hat länger im Jahr und eine heißere Sonne über dem Kopf wie der Bruder am 255 Atlantik, und wenn eine Phrase nur genügend lange von der Sonne bebrütet wird, so kann aus ihr eine lebendige Wahrheit herauskriechen.

 

Zu der Stadt am Goldnen Tor, zu der wunderherrlichen Märchenstadt, in der ich aus einem hohen tropischen Garten zum erstenmal den Stillen Ozean in seiner erschütternden Pracht, den Sonnenuntergang im unbegrenzten flutenden Westen gesehen habe, wird mein Gedächtnis zurückwandern manches Jahr.

San Franzisko hat sein Schicksal erlebt und überstanden. Hier gehe ich durch eine neugeborene Stadt, in der das Atmen der tätigen Kraft förmlich wie ein Windstrom durch die Gassen, die Hügel hinab und hinauf zu spüren ist. San Franzisko hat sich aber zu dem fatalen noch ein selbst gewolltes Erdbeben hinzudiktiert, und wie sich das Gemeinwesen San Franzisko aus seinem politischen Schutthaufen emporgehoben hat, das ist ebenso wunderbar, wie die neue marmorweiße Stadt es ist, inmitten ihrer Trümmerfelder.

Gegenüber meinen Fenstern stehen einzelne hohe weiße Häuser, allein, schmal anzusehen, sicher. Sie sind umgeben von Gräben, Ruinen, von Unkraut mannshoch überwuchertem Stein, Ziegel und Glasgeländen. Schaut man genauer hin, so kann man sehen, wie eine kleine Steintreppe vom Pflaster zu einem Haus hinaufführt, das nicht mehr da ist, die Treppe führt zu Grauen und Unglück hinauf, nicht zu einem Heim, rechts und links von der Treppe aber stehen drei, vier verrostete Lanzen, Überreste des Gitters, von der furchtbaren Last des einstürzenden Gemäuers nach außen gegen die Straße zu umgebogen . . .

Viele dieser Trümmerstätten sind jetzt von Zäunen umgeben und verdeckt, diese Zäune sind aber von oben bis unten mit Wahlaufrufen, Porträten, allerhand Plakaten vollgeklebt, deren Wortlaut das Gemeingefühl stimulieren und den Passanten in eine gehobene Stimmung versetzen soll.

256 Ehrlich gesagt war's mir die ganze Zeit ein bißchen schlecht und übel von all den Gesichtern, die mich von Zäunen und Laternenpfählen angestarrt haben.

Der Bürgermeister war schon gewählt. Unter den stockhohen Plakaten: »Wählt X. Y. zum Bürgermeister!« klebten ebenso umfangreiche mit der Aufschrift:

»We did it!«

– »wir haben's getan!« Jetzt kam der Distrikt Attorney und die schier endlose Reihe der Kontrolleure an die Reihe. –

Ihren letzten Bürgermeister, Eugen E. Schmitz und den großen Boß, d. h. Bürgermeistermacher, Unternehmer und Manager, der hinter ihm stand und in dessen Händen das Stadtoberhaupt bloß eine Puppe und Jasager zu nennen war, hat San Franzisko auf eine radikale und vorbildliche Weise abgeschüttelt. Dies private Erdbeben San Franziskos hat Amerika ebenso aufhorchen machen, wie sein offizielles die Welt. San Franziskos letzter Boß, ein elsässischer Jude mit Namen Abraham Ruef, ein Mann von ungewöhnlichen Fähigkeiten, hat am Goldenen Tor zehn Jahre lang eine wahre Schreckensherrschaft geführt. Wer in der Stadt etwas bauen, unternehmen, wer ein anständiges oder ein verruchtes Gewerbe ausüben wollte, dessen Weg führte durch Boß Ruefs Tasche. Als im April 1906 das Erdbeben und das drei Tage anhaltende Feuer die Stadt zerstörten, in vollem Sinne des Wortes alles dem Erdboden gleichgemacht und neu aufzubauen war, da nahm die Gewalt Ruefs phantastische Proportionen an. Telephon, Wasserleitung, Straßenbahnen waren neu zu errichten und Bestechungsgelder, Millionen fingen an, in die Taschen der Beteiligten, die die Arbeiten zu vergeben hatten, hineinzulaufen.

Die staunenswerte Energie, mit der die Leute, die diese Stadt regierten, ihren Wiederaufbau in die Wege leiteten, lenkte auf einmal das Interesse des ganzen riesigen Weltteils auf Schmitz, Ruef und die um sie hin. Allmählich fing das Mitgefühl für Frisko an, sich in Enthusiasmus für

256

257 Schmitz zu verwandeln, und es gab Stimmen, die Schmitz als Kandidaten für die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten ausriefen!

Da stand William Randolph Hearst auf, der Befehlshaber der kolossalsten Zeitungsmacht des heutigen Amerika, Herausgeber des New York American, San Francisco Examiner und eines Dutzends anderer, insgesamt von täglich fünf Millionen Menschen gelesener Blätter, und gegenwärtig die enormste und ungezügeltste Ambition Amerikas. Mit ihm verbündete sich einer der reichsten Männer des Kontinents, Klaus Spreckels, der Konkurrent Patrick Calhouns, des Präsidenten der United Railways, der für die Straßenbahnkonzession eine Bestechung von 200000 Dollar für Ruef und die anderen aufgewandt hatte – Hearst und Spreckels leiteten eine Riesenkampagne gegen Ruef und Schmitz ein, die mit der Aufdeckung der ganzen Boß-Wirtschaft und dem Sturz der Gewaltigen endete.

Nachdem der öffentliche Ankläger, Heney, einer der tüchtigsten Advokaten Amerikas, im Gerichtssaal niedergeschossen worden war, übernahm ein junger Rechtsanwalt, Hiram Johnson, die Anklage. Schmitz haben sie laufen lassen. Ruef ist zu vierzehnjähriger Zwangsarbeit verurteilt worden. Hiram Johnson ist heute Gouverneur von Kalifornien, derselbe, der das populäre Wort vom Mob geprägt hat und ernsthafter Kandidat für die Präsidentschaft im Jahre 1916. Als solcher wird er vielleicht noch ein Hühnchen mit dem ewigen Outsider Hearst zu pflücken haben. Spreckels aber hat die Trambahnen des neuen San Franzisko gebaut. –

 

Das Erdbeben muß furchtbar gewesen sein. In Palo Alto drüben, in der Stanford Leland-Universität ist bloß das innere Gebäudeviereck, zu Lebzeiten der Stifter gebaut, stehen geblieben. Die Gebäude ringsum, Museum, Laboratorien, Bibliothek liegen heute noch in Trümmern. Als ich mich nach der Ursache dieser zwiespältigen 258 Wirkung eines und desselben Erdbebens erkundige, erwidert man mir: Graft! Das große amerikanische politische Wort: Bestechung, Betrug. Die um das intakte innere Viereck in Trümmern herumliegenden Häuser wurden aus dem elendsten Material erbaut von Unternehmern, die zu ihren Baukonzessionen in der üblichen elenden Weise gelangt waren.

Ich hatte in meiner europäischen Naivität vor, mich beim Stadtbaumeister Mr. Coffey von San Franzisko nach den ästhetischen Prinzipien zu erkundigen, die ihn beim Wiederaufbau der Stadt leiten. (Vor dem Erdbeben hatte Ruef und Schmitz und den Ihren ein groß angelegter Verschönerungsplan vorgelegen.) Meine Freunde lachen mich aus: ästhetische Prinzipien? Besseres Material! Stadtanlage? Reinforced concrete, d. h. Eisenbeton!

Im Grund ist's ja wirklich einerlei. Ästhetik hin oder her! Mögen die Westerners das grelle Volk bleiben, das sie sind, wenn sie ihre Prinzipien nur aus härterem Material wiederaufbauen, wenn das erneuerte Amerika die Erschütterungen nur ebenso gut aushält wie das von den Stiftern erbaute »innere Viereck« des großen Landes!

 

Ich bin nach dem Gefängnis St. Quentin in der Sausalito-Bucht bei San Franzisko mit der geheimen Hoffnung gefahren, ich könnte dort Abe Ruef sprechen. Er ist ein Mann von ungewöhnlicher Bildung, hat im Gefängnis ein Drama verfaßt, das nächstens in ganz Amerika aufgeführt wird, und eine Denkschrift über eine Reform des Gefängniswesens, die von Staats wegen gedruckt und an alle Gefängnisdirektoren Amerikas geschickt worden ist.

Ich habe Pech. Genau an dem Tage, an dem ich in St. Quentin bin, macht Gouverneur Johnson hier seinen ersten Besuch. Eine Viertelstunde nach ihm passiere ich auf meinem Rundgang die Jutespinnerei, in der Ruef, gelb und verfallen, im gestreiften Sträflingskleid, den Webstuhl bedient. Den Mann anzureden, der vor einer Viertelstunde seinen siegreichen Vernichter von Angesicht 259 geschaut hat, habe ich nicht den Mut. Vermutlich dürfte ich es auch gar nicht, aus Gründen, die im Reglement stehen. –

St. Quentin ist ein Gefängnis, in dem man sich's wünschte, eingesperrt zu sein. (Die treugebliebenen Freunde der Mac Namaras freuen sich darüber, daß diese in St. Quentin eingesperrt sind.) Es liegt in der Bay von San Franzisko wie Sorrent in der Bay von Neapel. Es hat seine eigene vortreffliche Musikkapelle, seine Baseball- und Tennismannschaften, seine Klubs und sozialen Vereine. Alle aus Sträflingen gebildet.

Im großen Hof, hinter einem tropischen Blumenbeet, ist noch die Bühne zu sehen, auf der vorgestern eine Truppe von ausgezeichneten englischen Schauspielern, die jetzt drüben in Frisko gastiert, das durchaus nicht moralische Einbrecher- und Detektiv-Stück: »Alias Jimmy Valentine« aufgeführt hat. Der Direktor von St. Quentin, Hoyle, ist ein Mann, in dessen Seele die Unruhe lebt, die Unruhe des Wissenden um die Quellen von Recht und Unrecht, Gut und Böse. Er versucht seine Pflicht gegen die Menschheit zu erfüllen, wo andere es sich leicht machen, indem sie ihre Pflicht gegen den Staat erfüllen.

In einem Saal sehe ich zu, wie ein (eingesperrter) Lehrer etwa fünfzig Sträflingen Unterricht in der Naturgeschichte erteilt. Mancher erwachsene Mann lernt hier, hier, in der Muße, die das Gefängnis bietet, erst schreiben und lesen . . . hier erst . . .

Die Zellen, die Baderäume, die Mittagskost bekomme ich zu sehen und zu kosten. Natürlich auch das Bertillon-Zimmer. Den stärksten Eindruck aber erhalte ich vom Raum, in dem die Hinrichtungen vollführt werden.

Kalifornien hat den elektrischen Stuhl nicht eingeführt. sondern henkt seine Verurteilten. Drei große Stricke baumeln herab in einem turmartigen Gehäuse, zwei von ihnen haben eine mit Eisenfarbe angestrichene Holzkugel an ihrem Ende, die dritte eine eiserne Kugel. Oben, über dem Turm ist ein kleiner, verschlossener 260 Holzverschlag. Ein Tisch befindet sich in ihm und drei Stühle hinter dem Tisch. Über den Tisch laufen drei dünne Schnüre. An jeden ist unter dem Boden des Verschlages einer der drei Stricke befestigt. Drei Wächter sitzen im entscheidenden Augenblick mit scharfen Messern oben an dem Tisch. Auf ein Zeichen schneidet jeder eine Schnur auf dem Tisch entzwei. (Ich sehe die Kerben auf der Tischplatte.) Keiner weiß, ob seine Schnur das Eisengewicht zum Hinunterfallen gebracht hat, oder ob es nur das unschuldige Holzgewicht war, das am Ende seiner Schnur hing.

Es ist eine humane Einrichtung, human gegen die Wächter, denn auf diese Weise weiß es keiner, ob er oder sein Nachbar das Blut jenes Einen dort unten, dem das schon egal ist, auf seinem Gewissen hat.

Mein uniformierter Begleiter sagt: »Ich habe mich trotzdem niemals zu diesem Dienst gemeldet. Ich bin trotzdem niemals mit den anderen beiden im Turm oben gesessen.«

Wie ich wieder ins Freie komme, sag ich mir: endlich hab ich das Geheimnis unserer heutigen Gesellschaft mit eigenen Augen gesehen. Die Dreie oben belauert, die den Einen unten umbringen. Die Dreie, von denen es doch keiner gewesen ist. Die Dreie, von denen keinen die Schuld noch die Verantwortung trifft. Die Gesamtheit, die oben sitzt, und den Einzelnen, der unten daweil sicher geht und bar bezahlt. Den Holzverschlag und die Kerben auf dem Tisch will ich mir merken!

 


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