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Dies ist der typische Weg des Einwanderers vom Hungertuch zum Brotkorb. Natürlich bezieht sich das Gesagte auf einen bestimmten Stand, aber den, dessen Schicksal, so glaube ich, heute die Menschheit am brennendsten beschäftigen und beunruhigen sollte. Erst diese Frage aus der Welt geschafft und nachher alles andere. Auch hier, in diesem unerhörten Land, mahlt darum die Mühle, von der Dehmel in seinem wundervollen Gedicht spricht: »Es wird kein Mensch mehr Hunger schreien . . .« Das Land, das auf die 92 Millionen wartet, bevölkert sich nicht rasch. Man 153 kann nichts Besseres tun, als seine Ungeduld der Welt mitzuteilen.
Den Überfluß der Welt an Menschen, den grausigen Überfluß an armen und elenden Geschöpfen, den die sogenannte Zivilisation der heutigen Ordnung züchtet, über dieses wartende Land auszuschütten, die Herrscher der Welt könnten nichts Klügeres tun, als dies – einstweilen. Statt dessen stoßen sie den Überfluß tiefer und tiefer in eine Sackgasse hinein, pumpen diese voll mit Alkohol, damit der Überfluß nur ja gründlich ersaufe und – die Zivilisation soll leben, hoch!
In Winnipeg war ich bei einer Versammlung der Sozialdemokraten. In diesem Lande, in dem es dem guten Willen des einzelnen und nicht der Notwendigkeit anheimgegeben ist, ob er sein Leben gestalten will oder nicht, in Kanada ist heute noch kein Platz für den Sozialdemokraten. Wenn der Fabrikarbeiter hier für seine Klasse kämpft, so kann man ihm sagen: was geht dich deine Klasse an? Sei ein einzelner und kämpfe für dich. Bekämpft eine Klasse die andere, so werden sie im besten Fall die Plätze tauschen; aber wie läßt sich's am besten gegen das Erbübel, die Klasse, kämpfen? Man kann dem Fabrikarbeiter in 154 Winnipeg mit Fug weiter das folgende sagen: Kennst du nicht den Weg zu Mr. Bruce Walker? Ich will ihn dir zeigen. Geh aufs Land und werde ein Farmer. Wenn in der Stadt Not an Fabrikarbeitern sein wird, wird sich ihr Los von selber bessern. Geh aufs Land zum Nutzen deines Standes.
Aber, wenn ich so zu dem Fabrikarbeiter spreche, so muß ich mich auf die Möglichkeit gefaßt machen, daß er mir ins Gesicht lacht und antwortet: All das, was du Dahergereister da sagst, ist von A bis Z falsch. Kannst du mir vielleicht Genaueres sagen darüber: mit welchen Mitteln die Einwanderung speziell nach den Städten, die Industriezentren sind, betrieben wird? Künstlich betrieben wird? Mit welchen Mitteln es die Industrie, die von dem Überschuß des Angebotes über die Nachfrage nach Arbeitskräften lebt, allerorten zuwege bringt, daß das Proletariat sich schon in diesen Städten, die mitten im Reichtum liegen, breit macht und anschwillt zum Entsetzen? Bleibe du gefälligst erst zwei Jahre hier fest sitzen; nachher magst du dann reden, bis dahin aber halte gefälligst den Mund!
Mann auf dem Podium, fahre fort. Ich hör schon zu.
Wie ich schon sagte, die Länder der Welt bekunden geringes Interesse daran, ihre Armen in das reiche Land zu schicken (das Proletariat der großen Städte kann bei dieser Bemerkung nicht mitzählen). Ein Rundgang durch die höllischen Vororte von London, Dublin, Liverpool bringt einem an allen Straßenecken den Namen Kanadas auf die Lippen. Sonderbar ist es, daß es hier, obzwar natürlich nächst der Einwanderung aus den Staaten jene von den britischen Inseln die stärkste ist, keine englische Einwanderung im eigentlichsten Sinne sondern eine irische und schottische gibt. Die O's und die Mac's sind es, die, direkt oder schon auf dem Umweg über die Staaten von den Weizenländern des Westens in Scharen Besitz ergreifen. Wales, Cornwall, der Osten Englands verhält sich still. Die Ziffern der reichsdeutschen Einwanderung, die man mir im Konsulat in Montreal genannt hat, waren 155 ganz lächerlich geringe. Ich kann mir das erklären – die gesegneten Kolonien des Deutschen Reiches bieten wahrscheinlich dem deutschen »Überfluß« verlockendere Perspektiven als die englische Dominion . . . Nächst den britischen Inseln und den Vereinigten Staaten stellen die slawischen Länder Europas das stärkste Kontingent für die Einwanderung nach Kanada.
In den Konsulaten der österreichisch-ungarischen Monarchie habe ich mich mit Interesse nach Daten über die Einwanderung aus Ungarn erkundigt und habe da die rätselhafte Auskunft erhalten – es gäbe keine. Ich habe nun selber in ungarischen Broschüren gelesen und von berufenen Leuten in Europa und in den Staaten gehört, mit welchen Mitteln die Agenturen gewisser Dampfschifflinien, z. B. der Cunard-Line, deren Schiffe von Fiume nach Häfen der Union laufen, die Auswanderung der ungarischen Kroaten, Slowaken, Rumänen und Magyaren nach den Vereinigten Staaten betreiben. (Sie würden gewiß etwas vorsichtiger zu Werke gehen, wenn sie bei ihren Manövern nicht durch die ungarische Regierung gedeckt würden.) Also warum gibt's keine ungarische Einwanderung in Kanada?
Als ich diese bescheidene und höfliche Frage in den Konsulaten verlauten ließ, erhielt ich zwar keine Antwort, jedoch es wurden mir die bewußten überlegenen Amtsmienen gezeigt, welche einem immer entgegenstarren, wenn man eine den Staat gefährdende Indiskretion begangen hat oder begehen möchte. Erst in Winnipeg löste mir ein freundlicher magyarischer Seelsorger dieses Rätsel auf die einfachste, plausibelste Weise.
Die Ungarn, d. h. ungarischen Staatsangehörigen, die nach den Gebieten der Union wandern, suchen dort so rasch wie möglich zu Geld zu gelangen (oft durch eine frevelhafte und auf künstlichem Wege hervorgebrachte Unterbietung der Löhne). Sie packen dann, wenn sie notabene noch am Leben sind, ihre blutig erworbenen Dollar in ihr Taschentuch und machen zurück 156 in die Heimat, wo's ihnen alles in allem besser behagt. In Kanada, im englischen Land aber lauert die Gefahr, daß es den Ungarn doch noch besser gehen könnte, als in ihrem eigenen gelobten Land daheim; und tatsächlich, die Ungarn, die nach Kanada kommen, ziehen es vor, in Kanada zu bleiben und ihre Taschentücher der englischen Sitte gemäß und nicht als Bankkonto zu gebrauchen. Die Regierung untersagt also stillschweigend und mit Nachdruck die Auswanderung nach Kanada. Das ist ein amüsantes Exempel.
Im Zensusjahr 1909/10 kamen 208 000 Menschen nach Kanada. Davon waren 60 000 britische Untertanen, 103 000 aus den Staaten, der Rest, 45 000 Menschen, gehörte 62 Nationalitäten an. 1910/11 sind 325 000 Menschen ins Land gekommen. Wie man mir in Ottawa sagte, ist die Einwanderung im Frühjahr dieses Jahres 1911 die außerordentlichste gewesen, die Kanada je gesehen hat.
Was die Heilsarmee betrifft, so kann man von ihr denken, wie man will. Ich werde keinem widersprechen, der ihre äußeren Methoden als abstoßend bezeichnet, und wenn einer mir vorhält, daß ihre Ausbeutung der Arbeitslosigkeit an vielen Orten eine fatale Verschlechterung der Arbeitslöhne in gewissen Gewerben zur Folge hatte, so werde ich ihn nicht gut Lügen strafen können. Aber was sie für die Auswanderung bedürftiger Leute aus den britischen Inseln nach Kanada geleistet hat und leistet – das zwingt Respekt und Bewunderung ab für diese Institution und das Genie, dessen Gehirn sie entsprang, den alten schlauen Apostel Booth. Sie hat auch längst die Klippe einer Wohltätigkeitseinrichtung umschifft und segelt, sehr zu ihrem Heile, unter der Flagge einer sozialen Macht, die aus unserer heutigen Ordnung gar nicht mehr weggedacht werden kann.
Der Weg, den ich beschrieben habe, den der unbemittelte Ankömmling von seiner Ankunft bis zur Übernahme seines eigenen Landes zu gehen hat, ist ein 157 ziemlich ebener, und die Heilsarmee ebnet ihn noch dem Arbeitswilligen, der sich ihrem Schutz und ihrer Vermittlung anvertraut. Aber nicht nur für diesen bedeutet sie eine gute Vorsehung, sondern auch für den Farmer, der auf die beschriebene Art immer wieder seinen tüchtigen Knecht verliert und sich oft in der Zeit, in der er am schwierigsten zu entbehren ist, nach Ersatz umsehen muß. Die untere Schichte muß immer wieder nachgefüllt werden, und dies besorgt zum großen Teil und mit ihrer bewunderungswürdigen Organisation die Heilsarmee.
Ihr System des Arbeitsnachweises und der Versorgung des Farmers mit Arbeitswilligen aus den britischen Inseln hat sich in großartiger Weise bewährt. In Toronto sind die »Headquarters« der Heilsarmee, und dort hat mir Brigadier Morris die Logierhäuser und Mädchenheime der Armee gezeigt, die Bücher gewiesen, in denen Angebot und Nachfrage in überzeugenden Ziffern verzeichnet standen, Briefe der Versorgten und alles mögliche statistische Material vorgelegt.
In den letzten 7 Jahren hat die Armee fünfzigtausend Menschen herübergebracht. In vielen Fällen hat sie ihnen das Überfahrtsgeld vorgestreckt. Speziell nach Dienstmädchen herrscht in allen Teilen Kanadas verzweifelte Nachfrage. Es ist ein Männerland, und was fängt ein Farmer ohne Frau an auf seiner Farm, auf der doch jemand nach dem Kleinvieh und der Wirtschaft sehen muß. Die Armee sichert den meisten, die sie herüberbringt, eine Quelle festen Erwerbs, für ein Jahr ungefähr, so daß der Arbeitswillige die Heimat schon als fertiger Kanadier verlassen darf. Zur Frühjahrszeit treffen Schiffsladungen voll Menschenmaterials in Kanada ein, von Offizieren der Armee persönlich geführte und geleitete Gesellschaften, die dann auf die angenehmste und sicherste Weise an ihren Bestimmungsort befördert werden. (Im Zeitraum vom 1. Juni bis 31. Oktober 1911 hatte die Armee laut der »Emigration Gazette« auf 97 Schiffen der Canadian Pacific, Allan, White Star und anderen Linien 158 Emigrantengruppen unter ihrer Obhut, davon auf 36 Schiffen persönlich geführte Gesellschaften.)
Weniger kümmert sich die Heilsarmee um die direkte Kolonisation ihrer Leute in Kanada. Sie sind eben von den Ärmsten, von den 5-Dollar- oder keinen-Dollar-Leuten, die als Farmhände beginnen müssen. Immerhin hat die Heilsarmee eine II. Klasse von Einwanderern, die mich recht sehr interessiert hat und über die ich vom Brigadier bereitwillige Auskunft erhalten habe.
Die große Mehrzahl der Heilsarmee-Schützlinge fährt III. Klasse, kommt in Quebec an und wird dort sofort nach den Gegenden verladen, wo sie gebraucht wird und ihr Leben begründen kann. Klasse II aber kommt in Montreal an und sieht dann auf eigene Faust zu, wie sie weiterkommt. •
Diese II. Klasse besteht zum großen Teil aus kleinen Clerks, kleinen Kaufleuten und Duodez-Kapitalisten, Geistlichen und Militärpensionären. Sie enthält aber auch zu einem nicht geringen Prozentsatz Leute, die von ihren Angehörigen oder Freunden mit etlichem Geld versehen und mit dem geheimen Wunsch und Abschiedssegen, der Teufel möge sie holen, in die Ferne spediert worden sind. Es sind die »jüngeren Söhne des Lebens«. Brigadier Morris versteht nicht recht, was ich damit meine. Ich aber weiß es recht gut, was es mit diesen »jüngeren Söhnen« auf sich hat, und verspreche dem Brigadier, ich werde in meinem Buch Propaganda für diese II. Klasse machen. Ihm ist die III. Klasse lieber; mir auch. Die Leute, die um zu arbeiten nach Kanada gekommen sind und von denen die Armee nach 2 bis 3 Monaten nichts mehr hört, weil sie gut und sicher versorgt sind, keine Hilfe mehr benötigen und ihre Schuld an die Überfahrtskasse bald abgetragen haben werden.
Die II. Klasse aber, überhaupt die gesamte »zweite Klasse« der Einwanderer nach Kanada, sind Menschen, die aus verschiedenen geistigen Berufen herüber 159 zur Erde kommen. Unter der Schar der Bürosklaven finden sich Künstler und Gelehrte, Oxford- und Cambridge-Leute, Schauspieler und die »Überflüssigen« der intellektuellen Welt.
Legenden sind im Umlauf von ganzen Kolonien aus einem der exklusivsten Colleges von Cambridge, die jetzt im westlichen Alberta, in der Gegend von Lloydminster, ihren Weizen bauen. Legenden von Ranchern, Polizisten und Cowboys, von denen spreche ich später.
Für diese und ähnliche Arten von Kolonisten hat die Canadian Pacific Railway in ihrem System der Ready made farms, der vorbereiteten Farmen, gesorgt.
Es ist dies eine überaus praktische Idee, will mir scheinen, Kanada dankt sie Sir Thomas O'Shaugnessy, dem Präsidenten der C. P. R.
In der Gegend um Irricana, dem gewaltigen künstlich bewässerten Territorium zwischen Edmonton und Calgary, an einer Seitenlinie der C. P. R., sind diese vorbereiteten »fertigen« Farmen gelegen. Wie viele Tausende kultivierter, empfindlich geborener oder gewordener Menschen lassen eher ihr Leben verderben, als daß sie sich den Strapazen auszusetzen wagten, die der Beginn eines neuen Lebens, in einem fremden, weiten, unbekannten Land mit sich bringt? Menschen, denen es an Geld nicht fehlt zum Anfangen, nur an Mut. Auf der Ready made farm finden sie ein hübsches Haus, das warm und gut gebaut auf sie und die Ihren wartet, eine Scheune mit Maschinen, einen Stall mit Vieh, und den besten Boden, den keiner noch bebaut hat vor ihnen. Eine Märchenfarm, ein Tischleindeckdich für den zivilisationsmüden Städter, der zur Erde wiederkehren will.
Wird von der Heilsarmee gesprochen, so muß man auch einige Institutionen geringeren Umfangs, aber ähnlicher Tendenz erwähnen. So z. B. die berühmte Stiftung des Dr. Barnardo in London, die Heime und Schulen für verwahrloste Kinder, die im East End 160 Londons unendlich viel Gutes getan haben. In all den großen Städten Kanadas habe ich Barnardo-Heime gefunden; große Scharen von Kindern werden herübergebracht, kinderlose Farmer nehmen sich der Ärmsten an und manch ein Barnardo-Junge sitzt heute als Herr auf dem Gute, das seine Pflegeeltern bewirtschaftet haben, als er ihrer Obhut und gutem Willen anvertraut wurde vor Jahrzehnten. Die Zentralleitung der Stiftung bleibt immer in Verbindung mit diesen Kindern, weiß, wo sie sich befinden und wie es ihnen geht.
Das nach der Philanthropin Annie Macpherson benannte Heim in Stratford, Ontario, hat sich eine ähnliche Aufgabe gestellt und erfüllt sie in geringerem Umfange als die Barnardo-Homes. Sie versorgt die Farmer Ontarios in einem nicht zu weiten Umkreis um Stratford mit ihren Pfleglingen und hat so stets direkte Fühlung mit diesen Kindern.
All diese Institutionen gehören, wie die bekannten Studentensiedlungen in den Vierteln des Londoner und Newyorker Elends, wesentlich ins Kapitel der Wohltätigkeitseinrichtungen, einer Erfindung der bürgerlichen Klasse, die glaubt, auf solche Weise quitt zu sein für die Sünden, die sie an den Unteren begeht. Mit der rechten Hand die Menschheit knebeln und mit der linken ihr den Angstschweiß von der Stirn wischen – »Schneeballen in den Höllenschlund werfen,« damit es denen dort unten nicht zu heiß werde!
Irgendwie fühle ich aber, daß die Wohlfahrtseinrichtungen, deren Tätigkeit nach Kanada, dem Erdeland, dem Ackerland hinüberspielt, einen Teil ihres odiösen Beigeschmackes verlieren. Auf alle Fälle hat es, wie ich erwähnte, die Heilsarmee vorzüglich verstanden, ihre Mission in der unverfänglichsten Art, als reines Agenturgeschäft auszuüben. Sie befördert alle ihre Leute herüber, ohne nach Name und Art zu fragen, und ich habe von Leuten gehört, die die Brigadiers und Majore ausdrücklich versicherten, daß sie die Anschauungen der Heilsarmee 161 keineswegs teilten, und somit der Vergünstigungen, die die Armee gewährt, vielleicht gar nicht teilhaftig werden dürften. Die Soldaten haben darauf, mit dem Heilsarmeelächeln auf ihren Gesichtern, diese allzu Gewissenhaften versichert: das sei gar nicht nötig, sie würden auch so hinübergenommen.
Ich kann jedem, der mich anhören will, den guten Rat geben, es zu machen, wie ich: werde ich zum Mitsingen des Liedes:
»The old, old story is true . . .«
oder gar zum Niederknien vor der Bußbank aufgefordert, so lehne ich dieses Ansinnen höflich und entschieden ab. Kommt aber das Salvation-Lassie mit dem Tamburin auf mich zu, so habe ich gar kein Bedenken, ihr meinen Silberling auf das Tamburin zu werfen, denn ihr Werk verdient es!