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Fährt man, von Buffalo herkommend, nordwärts nach Toronto, so ist's, als führe man aus Amerika nach Europa, fährt man aber von Toronto ostwärts nach Montreal, so ist's, als führe man aus England nach Frankreich. Torontos Villenstadt sieht auf ein Haar Londons reizendem Vorort Hampstead gleich, in Montreal aber um Notre Dame herum (der Schutzmann, den ich nach dem 122 Weg frage, spricht das Wort Natterdämm aus) glaubt man sich in das Pariser Bondieuserie-Viertel um St. Sulpice, Rue Madame, Rue Bonaparte, versetzt.
Schon auf dem St. Lawrence, wenn man zu Schiff von Toronto die zahmen Stromschnellen nach Montreal hinunterfährt, merkt man auf: Frankreich! An den Ufern stehen Kirchen in großer Zahl, Kathedralen aus Holz im Stil der steinernen der Normandie und der Bretagne. Die Klöster am Wasser aber sind aus haltbarerem Material, gute steinerne Häuser neuen Ursprungs; von Combes' und Clémenceaus Gnaden hierher an den Strom Kanadas verpflanzte graue, blaue und schwarze Männlein und Nönnlein wandeln die Gartenpfade entlang, spazieren ans Ufer hinunter, in wohlgepflegter Beschaulichkeit.
Die Kirchen und Klöster in Montreal hab ich nicht gezählt, weil die Trambahn nicht so bequem an ihnen vorüberfährt wie in Toronto, ich kann nur sagen, daß ich genug Kirchen und Klöster in Montreal gesehen habe. All dies aus dem richtigen Frankreich fortgetriebene Volk sitzt an den schönsten Punkten der schönen Stadt tüchtig und zäh inmitten alter Gärten und komfortablen Neubauten fest und läßt sich's gut gehen im falschen Frankreich dahier.
Der Engländer läßt sie leben, wie er alle Menschen in seinen Grenzen leben läßt (im Orient macht er's ja anders). Der junge Riese Kanada hat einen guten Magen und wird das indigeste Zeug schon verdauen. Immerhin geht ihm von den Pfründen auch gewiß nicht wenig Fett in den Leib über und somit ist alles gut.
In Montreal erzählt einem jeder Pflasterstein, daß der Osten Kanadas ein französisches Land war, ehe er eine englische Dominion wurde, und daß der Habitant früher dagewesen ist als der Settler. Maisonneuve, Cartier, Champlain, Frontenac sind einige Namen der Geschichte, Quebec heißt: welch eine Mündung! und Montreal hört sich auf französisch ausgesprochen auch besser an als: Mantreohl, wie es die Engländer aussprechen.
123 Montreal ist eine französische Stadt, von seinen 450 000 Einwohnern sind rund 350 000 französisch sprechende Kanadier. Das exotische Element, das sich in Toronto so breit bemerkbar macht, ich meine Russen, Juden, Syrer usw., tritt hier ganz zurück, obzwar es in der Bevölkerung im Verhältnis ebenso zahlreich vertreten ist. Der Typus des französischen Kanadiers ist nicht sehr verschieden vom Typus des Kleinbürgers des alten Frankreichs, den der ausgezeichnete Menschenschilderer Charles Huard gesehen, konturiert und auf eine definitive Formel gebracht hat. Der verderbliche Einfluß des Katholizismus auf die äußeren Merkmale der Rasse macht sich hier unangenehm bemerkbar, ein Duckmäuservolk von kleinen Sparmeistern und Beichtstuhl-Habitués läuft an den vornehmen und rassigen Bekennern der High Church und des Methodismus vorüber.
Ihr Französisch hört sich komisch an. Kanadafranzösisch ist überhaupt eine merkwürdige Sprache. Französische Kanadier auch der gebildeten Klassen, die ich sprach, behandelten ihre Sprache so, wie französische Komiker französisch radebrechende Touristen des alten Englands karikieren. Andre sprachen den harten Dialekt von Rouen oder St. Malo, aber mit Worten und Akzenten untermengt, die die jahrhundertelange Abgetrenntheit vom Mutterland ins Idiom hineinpraktiziert hat.
In Ottawa habe ich mir im Parlamentspark die Aufschrift notiert:
»Pick no flowers!
Ne cassez pas ces fleurs!«
Ich dachte immer, es heiße cueillir? Und gar der Titel der Senatoren auf der Tafel vor dem Verhandlungssaal:
»The Honorable Messieurs!«
Geschäftsschilder, Trambahnschilder, Steininschriften auf Regierungsgebäuden und Monumenten in Montreal tragen französische Worte zur Schau; Amts-, Unterrichts-, Gerichtssprache ist französisch; an vielen Stellen sieht man die französische Trikolore friedlich sich mit dem »Union 124 Jack« im gleichen Winkel von einem gemeinsamen Halteschaft zur Seite biegen; in den Reden, die in Ottawa gehalten werden, kommt es zuweilen vor, daß einer oder der andere der Honorable messieurs, bildlich gesprochen, den Union Jack mit der linken Hand herunterholt und in die Hosentasche steckt, um gleich darauf mit der rechten Hand in seine Brusttasche zu greifen und die französische Fahne über dem Kopf zu schwingen.
Das wäre interessant, sagte ich mir, einmal einen französischen Kanadier über sein National- und Rassenbewußtsein auszuholen. Und es wäre nicht gar so schwer gewesen, Herrn Bourassa oder Herrn Lemieux oder im Notfalle einen Redakteur der »Patrie« mit diesem Anliegen aufzusuchen.
Als ich grad aus dem Telephonbuch mir die Adresse des Herrn Bourassa und der »Patrie« herausgeschrieben hatte und vor dem Fenster, meinen Hut bürstend, auf die Place Viger hinunterblickte, da sah ich unten auf der Place Viger einen Mann mit der guten klerikalen »Presse« in der Hand auf einer Bank sitzen und beschloß, zu diesem Mann zu gehen und die Bourassa und Lemieux und alle offiziellen Nationalisten Kanadas ungeschoren zu lassen. Denn was könnte ich bei denen schon einheimsen als ein paar offizielle und für solche Gelegenheiten extra hergerichtete Redensarten?
Ich ging also auf die schöne alte Place Viger hinunter, die mit ihren Springbrunnen und alten Häusern, von denen schmale Freitreppen zwischen geschwungenen Gittern aufs Pflaster niedersteigen, mit ihrem Donjonhotel und mächtigen Platanen wie ein alter Platz in einem Provinznest der Touraine aussieht; ich ging hinunter und setzte mich auf die Bank zum »Presse«-Leser und war bald in ein Gespräch mit ihm geraten.
Er war ein Mann aus dem Volke, ein braver alter Menuisier, in Montreal geboren, aus einer Familie, die vor Menschengedenken aus Frankreich herübergekommen war; und seither hat keiner der Familie das Geld, aber 125 auch nicht den Wunsch gehabt, die alte Heimat drüben wiederzusehen.
»Ganz merkwürdig ist es,« sagte ich, »wie man hier sofort jedem Menschen ansieht, ob er französischer Kanadier sei oder was anderes. In der Union drüben amerikanisiert sich der Deutsche, Russe, Jude in wenigen Jahren, und die Kinder dieser fremden Rassen kommen auf amerikanischem Boden schon mit amerikanischen Schädelformen zur Welt, hab ich gehört – hier aber hat sich der Typus des Franzosen von Anfang her ganz rein konserviert.«
»Wir sind keine Einwanderer. Nous sommes chez nous.«
»Nun, so ganz »chez vous« doch nicht, dies ist hier eine englische Dominion, nicht wahr?«
»Man erinnert uns aber nicht daran. Wir fühlen uns wohl unter der englischen Flagge, wir haben absolute Freiheit. Im Grunde gibt's gar keine kanadische Nationalitätsfrage. Diese Wahl im nächsten Monat wird die erste sein, bei der die Nationalitätsfrage mitspielen wird – Machenschaften der gens de la politique!« Er lächelt und ich auch. Merkwürdig, über die Reziprozität haben wir auch dieselbe Anschauung, dieser Leser der klerikalen »Presse« und ich!
»Aber, unter der Nationalitätenfrage gibt es doch die Rassengegensätze, die nicht von der Räson und auch von den Interessen nicht wegdisputiert werden können?«
126 »All dies ist hier gemildert, spielt sich in den mildesten Formen ab – außer jetzt natürlich, in der Wahlagitation. Nous ne sommes pas aigris! Der materielle Aufschwung ist großartig, Handel und Industrie blühen und gedeihen, das Land ist das reichste der Erde und uns allen geht es gut. Wenn's den Leuten gut geht, fragen sie nicht viel nach der Rasse.«
»Aber die alten Familien; es muß sich hier doch so etwas wie eine Aristokratie gebildet haben?«
»Die alten französischen Familien hierzulande denken gar nicht daran, sich als Aristokratie zu etablieren. Die Lords, die vor Jahrzehnten aus der »old country« (olde quantrie) hierher gekommen sind, probieren so etwas, konnten sich aber nicht lange halten. Schauen Sie her: jetzt schickt man uns den Herzog von Connaught hier herüber, damit da so etwas wie ein Hof eingerichtet werde. Das ist ein Mißgriff der Regierung. Der Herzog wird sich, passen Sie auf, in der kürzesten Zeit bis in die Knochen hinein blamiert haben. Dieses Land ist durch und durch demokratisch. Hier haben wir zwei Klassen – die der Arbeitenden und die der Nichtarbeitenden. Wir haben es besser als die in der Union, weil hier, wer arbeitet, rascher viel Geld machen kann als drüben in den Staaten. Das liegt daran, daß wir jünger sind.«
»Halten die Franzosen nicht irgendwie gegen die Engländer zusammen? Indem sie zum Beispiel ihre Menuiserie lieber von einem französischen als einem englischen Tischler anfertigen lassen?«
»Das wäre die größte Torheit. Der Handel befindet sich zu neun Zehnteln in Händen der englischen Grossisten. Die Leute kaufen bei dem, der billigere und bessere Ware liefert, nicht bei dem, der ihre Sprache spricht. Sie hören darauf, was der Artikel, und nicht, was der Verkäufer ihnen sagt.«
»Ein französischer Kaufmann stellt aber doch lieber einen französischen Clerk in seinem Geschäft an als einen englischen?«
127 Das versteht er nicht. Ich wiederhole die Frage in einer anderen Form: »Was ist einem französischen Kaufmann lieber: ein englischer Clerk, der französisch kann, oder ein französischer Clerk, der perfekt englisch spricht und schreibt.«
»Der Tüchtigere . . . aber vielleicht doch der Franzose von den beiden.«
Darüber lachen wir beide ein bißchen. Dann aber verschieße ich mein letztes Pulver und zeige mit dem Finger auf »La Presse«.
»Ihr Klerus aber! Sie werden doch nicht leugnen können, daß der französisch-katholische Priester unter einer national-englischen Regierung national-französisch fühlt?«
»Jawohl, das tut er, aber einfach darum, weil der katholische Priester von Natur aus ein Intrigant ist. Der Engländer läßt den Katholiken und den Mohammedaner und den Sonnenanbeter seinen Kult ruhig ausüben. Alles ist in Ordnung. Wir schielen auch nicht nach den Staaten hinüber, das lügen nur die Konservativen; wir hören genug 128 von der politischen Korruption in der Union drüben, wozu sollen wir uns dort hinübersehnen? Wir haben es besser hier.«
(?? Jetzt habe ich sieben Wochen lang ihre Morgen- und Abendblätter gelesen und weiß wirklich nicht, ob der Mann recht gehabt hat.)
Dann stellt er die stereotype Frage: ob ich zum erstenmal in Kanada bin und wie mir das Land gefällt? Als ich ihm erzähle, ich komme aus Toronto, fragt er mich nach dem Lacrosse-Match zwischen den Tecumsehs und dem National Team letzten Sonnabend zu Hanlons Point. Ich habe diesem Ereignis zufällig beigewohnt und muß nun, so gut ich's kann, erzählen, wie es zugegangen ist dabei; und jetzt, da vom Sport die Rede ist, merke ich an der aufgeregten Teilnahme dieses ältlichen Mannes auf einmal, daß dieser Franzose da schon ein Engländer ist!