Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wahltag in Sheepcreek

An dem verhängnisvollen Tage, an dem es sich entscheiden soll, ob Kanada für oder gegen die Reziprozität mit der Union ist, bin ich oben in den Bergen, in einem Goldminenlager an der Grenze von Britisch-Kolumbien und den Staaten Washington und Idaho, meilenweit weg von der Eisenbahn.

Daß es so wild und wüst aussehen wird, hier oben in Sheepcreek, das hätte ich mir denn doch nicht gedacht. In den Zeitungen bin ich wiederholt ganzen Seiten mit Ankündigungen der »Townsite Sheepcreek« begegnet. Wie ich jetzt sehe, ein glatter Betrug. Die Townsite Sheepcreek besteht aus einer Bretterbude mitten im Urwald, ich weiß nicht wie viele tausend Fuß hoch über dem Meeresspiegel, aber ich weiß, vier wohldurchrüttelte Automobilstunden Weges von der Station fort, die selber schon in beträchtlicher Distanz hinter dem Rücken Gottes sich befindet.

Herr Buckley, der Manager der »Queen«-Goldmine, löst mir das Rätsel der »Townsite«. Der Eigentümer der 233 Bretterbude ist der Generalmerchant des Ortes und möchte gern eine Schanklizenz erhalten. Andrerseits aber ist ein ähnlicher Schwindel mit Grundstücken in Orten, die gar nicht existieren, hierzulande gang und gäbe. Als man hier in den Bergen Gold fand, als der erste Claim von einem Herrn, der jetzt als reicher Mann in Nelson sitzt, in dem harten Boden abgesteckt worden war, da kamen sofort die »Boom«-Witterer, die hier so etwas wie ein Cripple-Creek oder Klondyke in Szene setzen wollten, kauften das wertlose Land für einen Topf Bohnen zusammen und möchten es jetzt, da sich ihre Spekulation als nicht so sehr glänzend erweist, auf diese unsolide Art wieder losschlagen.

Herr Buckley ist ein persönlicher Gegner des Saloon-Projekts hier oben in den wilden Bergen, er weiß wohl warum. Ehe er auf seinen isolierten und unbehaglichen Posten hierher als Aufseher der Goldgräber kam, war er unten in Wisconsin Scheriff gewesen und kennt das Volk der Abenteurer auf Bergpfaden und Landstraßen genau. Schnaps hier oben, unter diesem Goldgräbervolk, das fern von allen Vergnügungen, von Weibern, von der Eisenbahn, zwischen den Gefahren des Innern der Erde und den Aufregungen des Kartenspiels, seine Tage und Nächte zubringt, Schnaps in Sheepcreek bedeutet Schießerei, Disziplinlosigkeit, Ärgernis. Rundherum auf den Bergeskuppen in stundenweitem Umkreis sitzen ein paar hundert verdurstete Goldgräber auf der Nugget-Mine, der Motherlode, ein Saloon hier mitten im Urwald gäbe eine nette Bescherung.

Aber es läßt sich nicht voraussagen, wer am Ende gewinnen wird. Gehen die leichtgläubigen Toren auf den Leim, oder bemächtigen sich die leichtfertigen Spekulanten Sheepcreeks – wer wird denn persönlich herkommen und sich von der Wahrheit der Annonce überzeugen? solche Geschäfte werden blindlings beim Real Estate-Mann abgeschlossen! – dann können hier wirklich noch ein paar Bretterbuden mehr aufspringen und Alkohol und Mord und Totschlag dazu.

234 Gegenwärtig hält die Verwaltung ihre Leute streng, und wenn der Chauffeur oder ein Holzkutscher von der Station eine Flasche Schnaps heraufschmuggeln, so fliegen sie kopfüber aus ihrem Job hinaus. Die Verwaltung macht sich dadurch bei ihrer Arbeiterschaft nicht sehr beliebt, aber die Mine zahlt bessere Dividenden.

 

Ich habe die Schaftstiefel, die Bluse und die Overalls des Präsidenten angezogen und folge Herrn Buckley durch die Gänge der Mine. Der Präsident scheint zum Glück ein Herr von angenehmer Körperfülle zu sein, sonst müßte ich mir meine eigenen Kleider schmutzig machen. Siebenhundertfünfzig Fuß unter dem Gebirgsbach, dessen Namen die Gegend trägt, dröhnt die Erde von dem Bohrer, den zwei graue, bleiche Männer, über und über naß von umherspritzendem Gestein, bedienen.

»How dye do?«

Ein Querschacht wird angebohrt. Ganz deutlich kann man, wenn man die Kerze über den Kopf hält, die glitzernde neidgelbe Ader im Gestein laufen sehen. Es ist ein ergiebiger Schacht, der da aufgetan worden ist.

Nicht alle sind es.

Zuweilen wird ein Steingang drin im Berg abgeklopft, und der Berg äfft den Menschen, und wenn der Mensch sich im Schweiße seines Angesichts abgemüht hat, da merkt er: der Berg hatte ihn zum besten.

An solch einem tauben, angebohrten Crosscut kommen wir vorbei auf unserm Weg durch die Mine. Ein schwarzer Sack liegt vor seinem Eingang auf dem Boden. Herr Buckley leuchtet mit seiner Kerze hin und spricht:

»Hier ist er gestorben.«

Ich weiß von der Geschichte. Gestern früh hab ich sie im »Daily Star« gelesen. Sie stand in unmittelbarer Nachbarschaft der wichtigen Nachricht: der populäre deutsche Autor Herr So und So gedenke sich nach dem Goldlager bei Sheepcreek zu begeben, um Lokalkolorit für westliche Erzählungen zu holen. Der tote Richard 235 Heskett und der populäre Herr So und So waren für einen Tag im Blättchen Nachbarn geworden, morgen sind beide vergessen.

Da stehe ich mit Buckley vor dem Sack. Ich habe meine Mütze vom Kopf genommen, aber es ist mir nicht gegeben, durch ein Zeichen, ein Kreuz über Stirn und Brust, die Ehrfurcht vor dem Tode auszudrücken. Da stehe ich vor dem Sack, auf dem der Erstickte gelegen hat, und denke an meinen Schreibtisch in Berlin. Ich fühle, grausam wie es nur ein Mensch fühlen kann, was das für ein Gewerbe ist, das unsereiner treibt. Blut klebt an meiner Neugierde, die mich durch den fremden Erdteil jagt und zurück zu meinem Schreibtisch jagen wird. Dasselbe Blut, das andere für die harte Not ihres Lebens in Bergwerksgängen und auf Bahnschienen ruhmlos verspritzen, klebt an meiner Neugierde, auf Schritt und Tritt, wohin ich kommen mag.

Der Kreuzschnitt hat nicht gar weit ins Innere geführt. Als die Sprengung vorüber war, und der Rauch, der Richard Heskett umgebracht hat, sich verzogen hatte, da war der Irrtum klar, der Tod schaute aus dem Loch heraus, sonst schaute dort nichts heraus. –

Eine Stunde lang marschieren wir beide unten in den Gängen des Goldes herum, steigen dann zur Sonne hinauf und gehen in die Mühle, wo Mr. Buckley mir die schütternden wasserüberströmten Tafeln zeigt, auf denen das Steingeröll von den schwereren Goldkörnern gespült und das Gold rein gewaschen wird. Im Retortenhaus nehmen wir drei schwere silberne Äpfel mit, es sind Quecksilber-Äpfel, die in ihrem Innern für achthundert Dollar Gold eingeschmolzen tragen. Dann gehen wir ins Blockhaus des Managers zurück, in dem ich heute und morgen als sein Gast wohnen werde.

 

Im Blockhaus ist Besuch. Zwei ernste Leute, wie Handwerker im Sonntagsstaat anzusehen, warten auf den Manager. Es sind die beiden Brüder des toten Mannes Heskett.

236 Gestern haben sie die Leiche ihres Bruders in der Kreisstadt besucht, heute sind sie hergekommen, um seine Habseligkeiten an sich zu nehmen. Am Nachmittag wollen sie wieder weiter.

Mr. Buckley zeigt in eine Ecke. Dort liegt der Handkoffer, die Arbeitskleidung und der Bettsack des Toten, eine blanke Spitzhacke lehnt daneben an der Wand.

Der eine Bruder durchsucht mit weinenden Augen den Koffer, findet das Arbeitsbuch mit Versicherungsmarken, eine kleine rote Krawatte, den Rasierspiegel, die Bibel, eine Photographie. Der andere Bruder starrt wie hypnotisiert auf die Goldwage, die unter ihrem Glassturz auf dem Zahltisch steht.

»Wie ist das geschehen?«

»Er ist zu früh ins Loch zurück, um zu sehen, wie das Dynamit gearbeitet hat.«

»Er hat hier in Sheepcreek sein ›Chance‹ gesucht.«

»Schade, er war ein netter, sauberer Junge, er war beliebt bei all den anderen.«

»Wie hat man ihn gefunden?«

Herr Buckley taucht den Kamm in die Waschschüssel und zieht sich vor dem Spiegel einen Scheitel. »Er war noch ein bißchen warm, wie man ihn gefunden hat.«

»Wie heißt der Coroner, der die Untersuchung führen wird?« fragt der Bruder, der mit dem Handkoffer fertig geworden ist.

»Dr. Packer, ein kleiner, dicker Rasierter.«

»Ich kenn' ihn,« sagt der Bruder.

Dann gehen wir ins Logierhaus zu den Bergleuten hinüber essen.

 

Bei Tisch ist die Stimmung gedrückt. Ich sitze zwischen Buckley und den Brüdern und werde für einen Freund der trauernden Familie gehalten. Erst wie die Brüder mit dem Wagen fort sind, klärt sich der Irrtum auf. Die Stimmung wird etwas lebhafter, die Gespräche gehen durcheinander. Einer ist da, der lacht und scherzt 237 unentwegt und ist guter Dinge. Es ist ein junger Mensch mit einem Mädchengesicht, Mädchenbewegungen, der Gehilfe des Kochs. Als er hört, ich sei aus Berlin, fängt er an, von den Linden und der Friedrichstraße zu schwärmen. Er hat sich zweimal rund um den ganzen Erdball gearbeitet in seinem jungen Leben.

»Wo hat's Ihnen am besten gefallen? In der alten Heimat?« (Er ist Schotte, aus Glasgow.)

»Ach nein, in Frisko!«

Frisko – ein Seufzen, Ausrufen, zärtliches Hinflüstern des magischen Namens geht über alle diese Gesellen hinweg, hier rundherum an dem langen Tisch. Frisko – das Paradies der Leute, die ihr sauer Erworbenes rasch und fidel von sich schmeißen, in die Gäßchen mit den roten Lichtern hinein, auf die Spieltische hinten in den Chinesenläden, auf den Tanzboden, wo die Freuden des Texas Tommy herumspringen.

Draußen pfeift's in der Mühle zur Schicht, und ein paar von den Männern stehn auf, wischen sich den Mund und gehen an die Arbeit. Einer, ein schwarzbärtiger Bär, pufft den Kochsjungen beim Hinausgehen in den Rücken, der Junge biegt seinen Kopf auf die Schulter nieder und blickt den Bären mit seinen hellgrauen, lachenden Augen an.

Oben im Saal des Logierhauses, wo die Betten stehen, ist ein Tisch in die Mitte gerückt. Der Vertrauensmann aus der Kreisstadt ist angekommen, und die kanadischen Staatsangehörigen geben ihre Stimme für den liberalen Dr. King ab, der heut abend schon durchgefallen sein wird.

Ein Mann hebt zwei Schwurfinger in die Höhe. Ein Zettel fliegt in eine Blechbüchse. Drin in der Blechbüchse rumoren die Geschicke der Nation: Reziprozität oder nicht?

Nebenan, an dem Tisch beim Fenster, gehen indes wichtigere Dinge vor.

Einer hält die Bank, zwölf stehn im Kreis um den Tisch herum, stecken die Hände in die Taschen ihrer 238 harten Hosen und holen zerknüllte und schmutzige Dollarscheine hervor.

Twobits ist der niedrigste Einsatz – ein Vierteldollar. Die Scheine fliegen auf den Tisch. Was ist's für ein Spiel? Black Jack, erwidert man mir. Ich sehe näher hin, es ist das bewußte Einundzwanzig. Ein großer dicker Schwede setzt nie weniger als zwei Dollar. Seine rote haarige Pranke zittert ein wenig, wie er über den Tisch nach den Dollarn langt, die er gewonnen hat. Nach einer Weile zieht er blank ab, wirft sich auf eines der Betten und holt unter den alten Kleidungsstücken ein Zeitungspapier hervor; auf dem zusammengefalteten Blatt lese ich »Skandinavisk . . .«

Die notgedrungenen Abstinenzler entschädigen sich beim Kartenspiel für alle anderen unterdrückten Leidenschaften. Achtstündige Arbeit wird ihnen mit vierthalb Dollar bezahlt. Davon wird ihnen einer für Kost und Logis abgezogen. Manche bleiben monatelang, andere halten es an einem Orte nicht länger als vier oder sechs Tage aus. Sie ziehen von Mine zu Mine. Daß ein Grubenarbeiter seinen Beruf wechselt, gehört zu den Seltenheiten.

»Once a miner, always a miner!« erklärt mir der junge Campbell, der Sohn des Vorarbeiters. Er träumt von einer Bergwerkschule in Dortmund, er will an die Bergakademie nach Sachsen. Er steht unten beim Aufzug im Schacht, sein Vater verdient fünfzig Dollar die Woche, aber der Sohn hat höhere Pläne, Ingenieurstudium, Deutschland!

»Ich will Sie jetzt mit dem andern Mann bekannt machen,« sagt er, und wir gehen in eine hintere Stube des Logierhauses.

Ein junger rothaariger Mensch sitzt dort auf einem Bett und drei Männer stehen um ihn herum. Es ist der Gefährte des toten Heskett, und bei einem Haar läge er dort, wo jener liegt.

»Dick war vier Tage lang nicht in der Grube gewesen,« sagt einer, »und war nicht an die Luft gewöhnt. Wärst 239 du auf Urlaub gewesen vorher, so hätte auch dich der Teufel geholt.«

»Tommy rot,« schreit der Rothaarige. »Die Luftpumpe taugt nichts, daran wäre ich krepiert!« Er ist totenblaß, der arme Kerl, und die Augen stehen ihm wie Glaskugeln aus dem Kopf hervor. Eine Kognakflasche steht unter seinem Bett – die Verwaltung hat diesmal Gnade vor Recht ergehen lassen. »Der Coroner . . .« sagt er und ballt drohend die Faust.

Draußen beruhigt der Manager die Leute, die danach fragen. »Er hat seinen Job geliebt, das ist der Grund. Er hat's nicht erwarten können, zu sehn, wie der Sprengstoff im Crosscut gewirkt hat. Der Gang war noch voll von Gasen. Andere legen sich draußen schlafen derweil. Er hat seinen Job geliebt, das ist der Grund.«

Armer toter Heskett. Armes totes Rindvieh! Er hat es nicht erwarten können, er mußte rasch sehen, ob die Aktionäre dieses Jahr eine bessere Dividende erhalten werden, als die vorjährige war, Friede mit ihm.

 

Nächsten Tag, gegen Abend, fahre ich durch den Urwald zur Station zurück. Seit vier Tagen hat's geregnet, und die Straße ist bodenlos.

Siebzehn Dagos marschieren, ihr klatschnasses Bettzeug auf den Rücken geschnallt, bis über die Knöchel in Kot watend, mit knietiefen Schritten, fluchend durch den Wald zur Station zurück.

Ein paar Glücklichere, die gestern mit ihnen von der Station heraufgekommen waren, sitzen warm in den verstreuten Holzfäller-Blockhäusern am Weg und vertreiben sich die Zeit mit Kartenspiel, bis der Regen aufhört. Sie lachen die kotigen, fluchenden Dagos aus, die von einer Seite des Weges auf die andere nach einer trockneren Scholle hüpfen, zwischen den roten Zederstrünken und den blauschwarzen vom Dynamit zerrissenen und verkohlten Stämmen des Waldes. Oben in der Queen, im Nugget, war keine Stelle frei. Motherlode ist im Umbau. 240 Da ziehen sie durch den Wald zurück den Weg, den sie gestern kamen, die siebzehn.

Zehn Meilen zu Fuß, bergauf bergab, durch bodenlosen Kot, das schwere mit Wasser vollgesogene Bettzeug auf dem Buckel – und wieder zehn Meilen zurück, weil's keine Arbeit gab dort oben – das ist kein Spaß. Unser Automobil hüpft halbe Meter hoch durch die Pfützen. Es ist bitterkalt. Wir ziehen unsre Köpfe zwischen die Schultern und ziehen unsere Mützen tief herab über die blaugefrorenen Ohren.

 


 << zurück weiter >>