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Hundertsiebzig Sonderzüge aus allen Himmelsgegenden der Vereinigten Staaten und der englischen Dominion Kanada haben ihren Inhalt über die beiden 83 Ufer der Fälle ausgeschüttet, heute früh spazieren Toff und Honey, 'Arry und Sue, selig sich umschlungen haltend, die donnernden Gewässer entlang, an den beiden Ufern des Niagarastroms.
Es sind auch Gruppen, große Gruppen von Menschen Amerikas da, sie haben weite Strecken zurückgelegt, um diesen Sommer das Wunder des Erdteils mit eigenen Augen zu sehen. – Da sind sie nun, für diesen einen kostbaren Sonntag an der Grenze von den Staaten und Kanada, wo die Wasser donnern. An der Art, wie sie das für mich Europäer so plausible Wort aussprechen, erkennen sie gegenseitig, wo sie her sind. Ich will die vielfältige Aussprache des Wortes, die da in mein Ohr hineingesummt ist, übereinanderphotographieren: es kommt so etwas wie Neiägroh heraus. So heißen die Gewässer auf amerikanisch.
Die Leute aus Waterloo im Staat Iowa sind fröhliche Leute, sie haben große weiße Schleifen auf der Brust, mit winzigen goldenen Glöckchen, an denen erkennen sie sich schon von weitem. Ich höre und sehe die Männer und Frauen aus dem nördlichen Staat Montana, diese haben große Porzellanbroschen auf ihren Kleidern mit der rot aufgedruckten Landkarte ihres Staats und der Aufschrift: »500 000 Circulation« drum herum, – ich weiß nicht, bezieht sich das auf Waggone, Menschen oder Vieh? Und die Leute von Auburn ziehen vorüber, sie haben kleine Wimpel an den linken Arm gebunden. Und Leute aus Sacramento in Kalifornien. Diese machen mit Indianerklappern einen lustigen Lärm.
Ich fühle mich wohl unter all diesen Menschen. Ich erlebe meine großen Augenblicke zugleich mit ihnen, an den Ufern und unter diesen unerhörten Fällen – ich stecke diesmal lieber alle meine Epitheta ein und sage: diesen Fällen des Niagara.
Die »Nebeljungfrau« ist ein kleines Schiff; man zieht Gummimäntel und Kapuzen an, ehe man an Bord geht, dann fährt das Schifflein an dem Gebrause der 84 amerikanischen Fälle vorüber mitten in das offene Hufeisen der kanadischen Fälle hinein. Diese stürzenden Wolkenkratzer der kanadischen Seite sind, vom Ufer gesehen, das Grasgrünste, was ich in meinem Leben geschaut habe; im Augenblick aber, in dem die kleine tapfere Nebelmaid in das Schaummeer hineinsteuert, in das dampfende, brausende, orgelnde Nebelmeer, da sieht es aus, als steige das Wasser in ungeheuren kugelrunden Wolkenschwaden, weiß wie Alabaster, von unten den Abhang hinauf.
Es kommt der Augenblick, in dem sich 'Arry und Sue durch das Loch in ihrer Kapuze überwältigt und atemlos ansehen, Augen, Nase und Mund voll von dem Wasser, das über das Schifflein und uns Kautschukmenschen hinwegbläst, wie eine weiße donnernde Nacht. Ganz langsam kreuzt die kleine »Nebelmaid« zwischen den beiden Fällen hin und her. Man könnte sich vorstellen, auf Frithjof Nansens »Fram« zu sein und durch das weiße Polarmeer zu treiben, wäre nicht hier und dort ein riesiger brauner Stein in dem Wasser zu sehen, ein schläfriger, sagenhafter, stumpfer und hartnäckiger Riese, an dem sich die Gewässer seit Millionen Jahren donnerig geschlagen haben. Noch eine kurze Jahrmillion und einer und der andere fällt auseinander, verschwindet von der Bildfläche; dann hat das Wasser recht behalten, und ein anderes Bild kommt dem Zuschauer auf seine Retina. Und das sollte alles sein?
Auf die Höhle der Winde geht man in einem kleinen runden Regenbogen zu, dessen Mittelpunkt man selbst ist – das ist das Amüsante. Amüsant ist auch der Weg aus der Ankleidehalle durch das sonntägig geputzte und belustigte Publikum hindurch, man legt ihn in einer grauen Sträflingstracht und einer Teerjacke darüber zurück. Toff und Honey, 'Arry und Sue lächeln mir selig zu. (Honey und Sue haben rote Strümpfe und Mützchen mit auf die Reise bekommen.) So steigen wir alle den Turm hinunter, der bis zu dem Pfad nach dem Abgrund 85 unter dem Brautschleierfall hinunterreicht. Dort unten, während wir uns gut und treu bei den Händen festhalten (nicht so sehr der Gefahr wegen, sondern der Führer ladet seine Verantwortung auf die einzelnen seiner Herde ab), dort unten hat man dann wieder seinen Augenblick. Das schreckliche Wasser, das hinter uns hinunterdonnert von oben, führt keinen Orgelton mehr mit sich, auch das Donnern der größten Maschinen der Welt ist dagegen nur wie das Atemholen eines schlafenden Kindes. Ich probiere so laut zu brüllen, wie ich nur kann, um zu sehen, ob ich inwendig in mir etwas davon höre, aber nur die Hände meiner Nachbarin zucken ein wenig, und die sind auch von dem Laut der Ewigkeit oder der kreisenden Sterne geschüttelt. Unser Leben sitzt uns wie ein Knebel hinten im Genick. Auf dem Rückweg dreht sich mein Nachbar von rechts nach mir um und fragt: »Das ist eine gute Prüfung für die Nerven, was?« Und ich denke mir: würde ich heute noch mit Herrn X. aus dem Tiergartenviertel zu Mittag essen und sein Geschwätz eine halbe Stunde lang über mich ergehen lassen, ohne die primitivsten Formen der Höflichkeit zu verletzen, wahrscheinlich hätten meine Nerven dann das Abiturium glücklich bestanden.
Die Sonne sinkt über all diese großen Augenblicke nieder und verschwindet hinter den Bergen. Die Glühbirnen an den Ufern und in den Häusern glühen auf, so intensiv wie ich noch nie Glühbirnen habe glühen sehen. Sie haben rote Backen sozusagen, wie Landkinder, die von den Früchten auf ihres Vaters Felde leben; sie werden gut und reichlich gespeist dahier. Es ist wunderschön, wie es Nacht wird. Bänke stehen überall zwischen Büschen und unter Bäumen am Ufer versteckt, dort wo das Glühlicht sie nicht sieht, nur ein kleiner in die Höhe schäumender Wassertropfen sie zuweilen benetzt.
Auf den Aussichtsterrassen stehn die Leute von Iowa, Missouri, Montana; auf den dunklen Bänken an den Gewässern aber sitzen Toff und Honey, 'Arry und Sue und verstehen ihr eigenes Wort nicht. 86