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1n Amerika wird überhaupt manches getan.
Ich habe erwähnt, daß mir in meinem Hotel, dem Hotel »Athenäum«, ein junger Student die ersten Aufklärungen über die schöne Institution und das Problem Chautauqua erteilt hat. Dieser Student, ein Graduierter der Columbia-Universität in Newyork, wohnte nicht etwa zufällig im Hotel »Athenäum«, sondern er war dort bedienstet.
Er war es, der mir mein Zimmer angewiesen hat, er war Clerk im Hotel.
Ich hatte mit meinem Koffer Schwierigkeiten bei der Dampferstation. Kaum war ich in meinem Zimmer, klingelte ich dreimal; ein junger Mann kam herein und sprach: »I am the Porter.« Er sah aus, wie Wilamowitz-Moellendorf in jüngeren Jahren ausgesehen haben mag. Ich sagte mir: was, du mit deinem Gesicht bist der Portier? und erklärte ihm hierauf meine Angelegenheit. (Ich hatte von den Dingen im Hotel keine Ahnung.) 102 Eine Viertelstunde später brachte er mir auf seiner Schulter meinen Koffer. Er war ein stämmiger junger Mann, dieser Portier.
Ich hörte später, er sei Kandidat der Medizin. Ich hörte auch, daß das Stubenmädchen, das mein Bett machte, ein Collegegirl sei, ebenso das Fräulein, das an der Table d'hote mit dreißig anderen Collegegirls die vierhundert Gäste des Hotels bediente; und der Liftjunge war ein Gymnasiast, und alle die Clerks waren »college-people«, und jeder und jede arbeitete, und zwar ziemlich hart, und verdiente sich einen Teil seines oder ihres Unterrichtsgeldes für das nächste Semester. Und wenn sie am Abend fertig waren mit ihrer Arbeit, dann saß die feine Millionärsgattin aus Cincinnati mit dem Mädchen, das bei ihrem Tisch aufwartete, und mein guter Herr aus Kentucky saß mit dem Liftjungen beisammen in der Halle des schönen Hauses, und sie unterhielten sich über mancherlei, über die Verhältnisse ihrer eigenen kleinen Heimat in der großen gemeinsamen, der alte Herr holte sich Rats beim Liftjungen über etwas Lateinisches, was er heute im Vortrag des Professors nicht recht verstanden hatte, und der Liftjunge mußte sich mit der Erklärung beeilen, denn es wurde geklingelt, und Nummer so und so viel wünschte Eiswasser aufs Zimmer gebracht zu bekommen.
Ich habe mit ihnen gesprochen und vom Columbia-Mann vieles gelernt und gehört über die Universitäten Amerikas, über die Menschen und die Anschauungen der Menschen auf diesem merkwürdigen, jungen und bärenstarken Kontinent. Beneidet habe ich sie alle, vom Clerk zum Liftjungen hinunter, alle miteinander.
Der Anschauungsunterricht im Hotel Athenäum hat mir etwas beigebracht, was ich mir aus hundert zerstreuten Tatsachen hätte zusammensuchen und stellen müssen. Ich werde nun alles besser verstehen, was ich in den Staaten sehen und hören werde, das weiß ich sicher.
Die Klasse, scheint es, existiert hier herüben nicht. Auf 103 alle Fälle: in einer ganz anderen Form als drüben in Europa. Stellen Sie sich einmal einen deutschen Studenten als Kellner in einem Sommerhotel und eine höhere Töchter aus guter Familie in einer niedereren Funktion als der einer kunstgewerblichen Pfuscherin vor. Ein Korpsstudent, ein Gesicht mit Schmissen, ein Mann mit einem Komment im Gehirn. Der Franzose sagt: vous voyez ça d'ici.
Ich meine, wie muß einem amerikanischen Austauschprofessor zumute sein, wenn er von einem »Salamander« wieder hinaus auf die Straße kommt und die elektrischen Straßenbahnen des zwanzigsten Jahrhunderts sausen an ihm vorbei. Die jungen Herren haben andere Sorgen!
Nein, die Klasse existiert in Amerika gewiß nicht in der Form, wie in Europa drüben. Der Unterschied zwischen dem einen arbeitenden und dem andern arbeitenden Mann ist sicher ein wesentlich geringerer als in Europa, wo zu allen Verbarrikadierungen der Menschen gegeneinander noch die Klassifizierung der Arbeit kommt, die die Klassen regelt, zerstückelt, in kleine Unterabteilungen numeriert und wertet.
Gewiß steht der Mann mit einer Million Dollar jährlichem Einkommen hier herüben in einer ganz anderen Kaste, als der mit »nur« tausend. Und ich kann's mir gut denken, daß die vielen Klubs und Logen dahier eine Auswahl treffen, die verdammt nach Kaste und Klasse ausschaut. Aber daß ein Mann aus der Kaste der Gebildeten auf einen Sommer oder ein Jahr in einen niederen »Job« hinuntersteigt, ohne hierdurch seiner Kaste verlustig zu werden, das ist Amerika und nicht Europa, daraus spricht ein demokratischer Geist, und ich weiß nicht, ob der sehr weit oder sehr nah ist vom Ideal des Sozialismus.
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß sich hier herüben der Kampf der Klassen mehr als ein wirtschaftlicher Kampf abspielen muß, d. h. reinlicher, nicht mit der Gehässigkeit und Tücke, zu der uns in Europa das Kastenwesen und die snobistische Ambition der niederen Klassen, 104 in die höheren hinaufzuklettern oder sich in die höheren hineinzuschwindeln, und all der ähnliche Plunder zwingt. Ich weiß auch: in diesem raschen Wechsel der Berufsarten des einzelnen; in diesem mit der Waffe der Kraft und Veranlagung von Mann zu Mann und nicht aus einer Festung in die andere Festung hinüber geführten Kampf; in diesem sozusagen mit dem kurzen Römerschwert geführten Kampf um das materielle Dasein – kann eine anständigere Form der Gesamtheit sich entwickeln, als eine Nation es im alten Europa ist. Wo einer durch Patente, Adelsbriefe, Titelchen und Narrheiten schlimmerer Sorte sich hindurchdrängen muß, an denen die Kraft zersplittert und die Energie niederträchtig wird. Ich lerne aus diesem simplen Anschauungsunterricht in der Hotelhalle dahier, daß in Amerika der Kampf der Arbeit gegen das Kapital, der große kommende Weltkrieg, gegen den es keine Arbitration und kein Haag gibt, mit einer Blutigkeit wird ausgefochten werden müssen, die ihresgleichen nicht hat in der Geschichte der Kämpfe der Menschheit. –
Es ist meine letzte Stunde in Chautauqua. Während alles in den Hörsälen, im Amphitheater, in all den schönen Häusern im Walde beisammensitzt, um zu lernen, seine Kräfte zu vervielfachen, gehe ich mit meiner Reisetasche den Weg zum Eisengitter zurück, den ich gekommen bin am ersten Tag. Ich muß mein Billett zurückgeben, das mich in diesen dreieinhalb Tagen etwa drei Dollar gekostet hat, und damit höre ich dann auf, ein Chautauquaer zu sein.
Es ist ein schöner Sommertag, für lange Zeit mein letzter in den Staaten, denn ich fahre heute über den Ontario nach Toronto hinauf.
Die Sonne scheint auf den Chautauquasee herunter, auf Häuser, Wald und helle Menschen dazwischen. Wie ich an »Palästina« vorüberkomme, hocken drei kleine Kinder am Ufer des Sees von Galiläa und treiben kleine Papierschiffchen hinüber von Tiberias nach Kapernaum.