Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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1. März 1912, auf dem »George Washington«

Mit sechsundneunzig Meilen Stärke zieht ein Orkan, von Amerika kommend, über unser Schiff hinweg. Tobend schlägt er gegen die Schlote, die Masten biegen sich, die Wände ächzen, oben singen Taue und Takelage wie Harfen. Er kommt von den unermeßlichen Ebenen des neuen Weltteils her. Das Meer vermag seiner Eile 428 keinen Einhalt zu gebieten. Die Menschen, die an den Küsten Europas wohnen, werden sich bekreuzigen, wenn er ihre Hütten erreicht: das ist der Sturm von den Steppen, Gott sei uns gnädig, zieh weg über unseren Häuptern, verschone uns. Amen! – –

Tief in der Nacht hat der »George Washington« die Bay von Newyork verlassen. Das Letzte, was meine Augen mitnahmen aus der Neuen Welt, war ein glühender Ball hoch oben im Nachthimmel, das Fackellicht der Freiheitsstatue auf der Insel vor Manhattan. Diese glühende Frucht oben im Nachthimmel war das letzte von den Geschenken, die mir Amerika gegeben hat in diesen Monaten.

Morgen abend werden wir den Bischofsfelsen sehen, übermorgen laufen wir in Bremerhaven ein. Der Sturm ist dann schon weit und die Heime Europas haben seine Gewalt zu spüren bekommen. Orkan aus der Neuen Welt, sähe ich doch deine Spuren in der Alten, in der ich zu Hause bin.

 

Etwas Unerhörtes ist in Amerika laut geworden, mit etwas Ungeheurem muß der Erdball sich vertraut machen. Zwischen den Grenzen zweier Meere wächst eine Menschenmasse auf, die Eine Sprache spricht, Einem Gebot gehorcht, Einer Not widerstrebt. Die Väter dieser Menge waren die Besten aus der Alten Welt, sie kamen aus den großen Kulturländern England, Deutschland, Frankreich; aber die Kinder, die sie gegenwärtig erziehen, sind die verstoßenen halbwilden Barbarenvölker aus den östlichen und südlichen Ländern Europas. Was der zersplitterte, von Wahn und Verbrechen jahrtausendelang zerwühlte Weltteil Europa seinen Völkern angetan hat, das wird jetzt in Amerika gutgemacht, durch das homogene Vorwärtsschreiten einer geeinten Menschenmasse. Unter ihrem Schritte wankt schon die Erde. Keine Entwicklung geht einen geraden Weg, und viele Irrtümer werden noch begangen werden, dort 429 drüben, und überwunden werden. Aber wer das Drängen der Neuen Welt in seine eigenen Pulse hinüberschlagen gefühlt hat, der weiß tief innen: Amerika ist das Schicksal und die Erfüllung des Menschengeschlechts. Amerikas Energie, die das absurde Wachstum einiger weniger Mächtigen verursacht hat, besinnt sich heutigentages schon und sucht sich die Bahn zu dem Rechte Aller. Die Weltordnung, unter der wir heute leben, wird dieser Sturmflut des siegreichen Menschheitsgewissens nicht standhalten können. Sie wird zerstört werden und untergehen, wie Atlantis und Lemuria zerstört wurden und untergegangen sind.

 

Jede Reise, die ein Mensch unternimmt, um seinem Leben zu dienen, führt ihn irgendwohin hinaus aus seiner Welt. Viele zieht es nach den Ruinen der Vergangenheit – hie und da einen nach der Zukunft und in die Hoffnung. Wenn sein Herz noch das Schlagen nicht verlernt hat, wird dieser nicht enttäuscht. Etwas bringt er von seiner Reise zurück, das die Vergangenheit und die Freude an der Gegenwart nimmer geben können. Auf dem Ozean genießt er das höchste Glück: Schiffen zu begegnen, die in die Richtung ziehen, wo sein Land verankert liegt; die Klingelboje im Hafen zu hören, deren Ton sich anhört wie ein Kirchenglöcklein hoch im Gebirge an einem Sonntagmorgen.

 


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