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Hierzulande ist keiner so wildfremd – auf einmal packt ihn einer auf der Straße oder in der Bahn um den Hals und fängt mit ihm an, über die gemeinsame Angelegenheit: Kanada, zu reden. Aber in den Rockies kennt diese freundliche Zutraulichkeit einfach keine Grenzen mehr. Dies Land hat zu seinem schweren Reichtum noch den herrlichsten Spielplatz der Welt bekommen, und dem Kanadier, der so schon kaum mehr weiß, wo er mit dem Staunen aufhören soll, gehen hier die Augen über. Ich weiß nicht, ob der Herr recht hatte, der mir in Laggan vor dem Lake Louise um den Hals fiel und behauptete, im Himalaja gäbe es nichts Ähnliches, das aber weiß ich aus meinen bescheidenen Reiseerfahrungen, in Tirol und der Schweiz habe ich keine Szenerie des Alpenlandes gesehn, die ich anführen dürfte, ohne den Rockies unrecht zu tun.
Die Rockies genieren sich ihrer Herkunft nicht; in aufrechten, offenen, fächerförmigen Mulden und Bergspalten zeigen sie, wie ihr Stein von Gletschern geknetet 219 und durchpflügt worden ist von Urzeiten an. Im Innern des Gebirges ist es blau und hellgrün von Gletschern. Oft werden sie frech und strecken ihre spitzen Hälse bis an die Bahntrasse hinunter wie irgend ein Lindwurm Böcklins. Dunkelgrüne Abgründe zerreißen das helle Eis, zeichnen und malen Verästelungen darauf, von der Zartheit eines jungen Tännleins. Zwischen zwei Gletschern klettert eine ungeheure steinerne Eidechse grau und in der Bewegung erstarrt zum Himmel empor. Ein Bergrücken, ein Grat, nackt und schneeweiß wie das präparierte Skelett einer vorsintflutlichen Fledermaus, liegt steif und unbeweglich, fest ins violette Gestein verkrallt und verbissen da im Sommersonnenschein.
Unten, in der Region des Zwerggehölzes bekommen die Berge ein andres Gesicht. Stellenweise erinnern Formen an die Dolomiten, stellenweise an die Basteien der Sächsischen Schweiz. Tausend horizontale Farbenstriche über eine Bergwand, die sich frisch aufgetan hat, darunter liegt Schutt und Geröll in tausend Farben. Ein andrer Berg ist in der Mitte auseinandergebrochen und zeigt statt der Schichtenformation Rhomben, echte und rechte Honigwaben. Seltsame Gestalten von Stein stehen an den beiden Seiten des Zuges, wunderliche Männer in gelben Havelocken, mit fallenden Schultern, runde farbige Steinhüte auf den Köpfen, manche wie Brüder des Balzac von Rodin anzusehn, eher aber Schwäger der Frau Hitt, Junggesellen, verknöcherte, dem Treiben zusehende Sonderlinge. Sie sind aus einer tüchtigen Masse. Rings um sie hat das Wasser, in langer Arbeit, all das weiche Zeug weggeschwemmt, ganze Berge weggeschwemmt – sie aber waren aus härterem Material schon drin im Bauch der Berge, jetzt stehen sie in der Sonne da, hart und von allen Seiten beleuchtet, all das poröse Zeug um sie herum ist weg, vom Wasser weggespült, beim Teufel. –
Überall feiert die Phantasie, das Schauen seine Feste. Zur Seite der Fahrstraße auf dem Berg, im verbrannten Wald, scheuen die Rösser unsres Tally-Ho und werfen 220 den Schaum aus ihren Mäulern auf uns Passagiere zurück – ein riesiger Bär steht am Wege und schlägt mit seiner schwarzen Pranke nach dem Wagen – aber es ist nur ein verkohlter Baumstrunk mit einem verkohlten Ast über den Weg.
Im Wald schreien die Elche, die Wapitis, man hört ganze Skalen von klagenden Tönen, empörte Gesänge der Tiere, denen der Berg nicht mehr gehört. Kariboos, langfellige Widder erscheinen mit mißtrauischen, menschenähnlichen Gesichtern auf den Lichtungen. Zwischen dem Unterholz treibt sich der Grizzly herum und hat nur vor einem Tiere Angst, dem Berglöwen, auf den die »jüngeren Söhne« Englands mit Todesverachtung durch die Berge jagen.
Der König des Felsengebirges, der Buffalo, lebt in umzäunten Parken, ist nur mehr eine Sehenswürdigkeit und wird bald ausgestorben sein. Einige aristokratische, untätig kauende und wiederkäuende Familien werden vom Staat erhalten und dem Fremden gezeigt. Diese Parke heißen Reserven, und der Fremde denkt unwillkürlich an die Indianer, die auch in umzäunten Reserven, von Gnaden des Staates, ihr Leben dahinbringen, mit dem Unterschied, daß es den Büffeln besser geht.
Im Museum in Banff ist eine Photographie des englischen Missionars zu sehen, der in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als erster weißer Mann bis hierher ins Herz der Rockies vorgedrungen ist. Jetzt zeichnet eine Kette von Sommerorten die Strecke der C. P. R. durch das Gebirge nach. Burgähnliche Hotels an Punkten, die an den Mendelpaß und an Maloja erinnern, sorgen für den Passanten. Um sie herum haben sich kleine Villen geschart, von einer amüsanten, unvorhergesehenen Bauart, halb Schweizer Chalet, halb indisches Bungalo. Aus gewaltigen Stämmen sind sie breit, niedrig und solid zusammengefügt; eine Veranda läuft um das ganze viereckige Blockhaus herum, über die Brüstung der Veranda ist ein reichgeschnitzter mexikanischer Ledersattel zum Trocknen 221 gelegt. Auf dem Schaukelstuhl liegt das in Indien erjagte Tigerfell des Besitzers, vor den Stufen ins Haus das langhaarige Kleid eines einheimischen Kariboos. Wolfshäute, mit den Schädeln der Tiere noch im Fell, sind an die Wand des Blockhauses genagelt, an einer langen Stange flattert die Union Jack. Jetzt kommt uns der Herr des Hauses entgegen, ein alter englischer Offizier, der sich hier einsam niedergesetzt hat und mit seiner Flinte, die das Getier Indiens und Afrikas kennt, in den wilden Bergen des Felsengebirges nach Beute streift.
Amazonen jagen vorüber, mit offenem flatterndem Haar, auf störrischen Pferdchen; es sind dieselben jungen englischen Pensionatsfräuleins, die im Winter in Lausanne, Brüssel und Dresden Grieg und Sinding fingern. Jetzt tragen sie gelbe Leinwandhemden über ihren kindlichen Brüsten, ein Cowboytaschentuch um den Hals und einen Indianergürtel um ihre schmalen Hüften. Im Lederrock sitzen sie auf Männerart zu Pferde, das wilde Pferdchen unter ihnen zuckt unter der Haselgerte im Vorüberfliegen.
Nichts Schöneres kann man sich, mitten während der Reise, zum Ausruhen wünschen, als die weite halbdunkle Hotelhalle an einem Septembermorgen, während es draußen stürmt und die Kuppen sich bepudern. Durchs Fenster glaubt man ganz deutlich zu sehen, wie das Laub der Wälder sich verfärbt und die Wälder bunter und reicher werden mit jedem Augenblick. Im Kamin lodern harzige Scheite, Zedernholz, die Tierköpfe an den Wänden haben gläserne Augen und zwinkern und blinzeln phantastisch von der dunklen Täfelung auf den Gast herunter.
Ein eben angekommener Fremdling wünscht die Inschrift über dem Kamin zu entziffern, und während er ein Streichholz mühselig die Buchstaben entlang führt, spricht jemand aus einem Lehnstuhl ihm die Worte vor:
»The World is my Country,
All Mankind are my Friends,
To do Good is my Religion.«
(Thomas Payne)
222 – eine schöne und freundliche Inschrift über einem englischen Kamin wahrhaftig!
Und zutraulich, wie alle Menschen hier im Westen werden, auch die aus dem zugeknöpften Osten, sitzt schon der Fremde bei dem Fremden und spricht mit ihm von dem Lande, von den Menschen, von den Wundern der Rockies, aber auch von sich, seinen Angelegenheiten, seiner Familie, seiner alten und neuen Heimat. Man fühlt sich nicht beengt, nicht unbehaglich, möchte nicht aufstehen, ist nicht versucht, nach Europäerart zu sagen: bitte, wir kennen uns ja viel zu oberflächlich, mich interessieren Ihre Angelegenheiten nicht im mindesten, glauben Sie nicht, daß ich nun auch anfangen werde, mein Innerstes vor Ihnen Wildfremden auszukramen dahier, was ist das für ein indiskreter Kerl, Herrgott, wie sind doch diese Leute unkultiviert im Vergleich zu unserem gesitteten westeuropäischen Kurpublikum! Der kanadische Mann ist noch jünger als sein Vetter südlich vom Strich, er ist noch einen Grad stolzer auf sein Land, seine junge Zivilisation, er tut sich etwas zugute auf seine Kenntnisse und Schicksale, und wenn er sicher ist, seinen kleinen Effekt erzielt zu haben, und davongeht, so sieht man ihm mit einem gerührten Lächeln nach und gelobt sich, sein Freund zu bleiben, hier und nach der langen Reise.
Den Paß des »bockenden Pferdes« werde ich nicht beschreiben. Wer noch eine Station vorher im Zweifel war, daß der Ingenieur der wahre Held und Meister des verflossenen Zeitalters gewesen ist, dem vergeht dieser Zweifel auf dem Paß des »bockenden Pferdes« zwischen Laggan und Revelstoke, an der Kanadischen Pacific, im Herzen der Rockies, die den Namen: Rückgrat Amerikas tragen.
Hier ist die Landschaft so erschütternd und wild geworden, daß einem der Atem stockt und die Haare zu Berge stehen. Mit vier Lokomotiven keucht die Bahn eine schmale Felsenspur entlang, tausend Fuß über dem 223 Kolumbiastrom dahin, der sich, weiß vor Gischt, durch das zerklüftete Tal dem Pacific entgegen wirbelt; oben, über der Trasse, achttausend Fuß hoch über der Bahn, hängen von steilen Felsenwänden, die wie Achat schimmern, weißgraue Gletscher über das Gestein herunter, wie Trauben von geronnenem Glas. Der Zug schießt durch eine Felsenspalte und alles ist verkehrt; ein vertracktes Wirrsal von Bergen, die sich durcheinanderschieben, Strömen, die nach drei Seiten in betäubenden Sätzen davonbrausen, Felsenbrücken, die sich quer von einem Berg über einen Hügel geworfen haben, tausend Hindernisse zwingen die Schienen in die schwierigsten Kurven, Steigungen und Senkungen. Die Bahn drückt sich durch Tunnel, die im Berginnern Schleifen und Spirale nachahmen, über Stahlbrücken, die das Wunder des Kontinents geheißen sind, der Reisende im Aussichtswagen taumelt von der rechten Seite auf die linke hinüber und zurück, für den Zeitraum einer Stunde weiß er wahrhaftig nicht mehr, wo rechts und links, oben und unten ist.
Man muß sagen, dieser Gebirgspaß hat wirklich Glück gehabt; er hat seinen pittoresken Namen von einem Erlebnis erhalten, das wohl fürs Pferd aber nicht für seinen Reiter ein amüsantes Erlebnis gewesen ist. Der kühne Ingenieur, der für seine Bahn das Terrain sondieren kam, wurde von seinem Gaul derartig vor den Kopf gestoßen, daß die Indianer ihn schon zu begraben anfingen. Er wurde wieder wach, und die Bahn fährt jetzt dort durch, wo sein Grab hätte sein sollen. Die Indianer, die eine so direkte Kraft des bildlichen Ausdrucks haben – die meisten Indianernamen von Orten hier herüben ergeben, übersetzt, Begriffe von hoher Phantastik – benannten die Enge nach dem bockenden Pferd, und man muß ihnen und dem Pferd für den Namen dankbar sein, denn wirklich, die Gegend hier herum und insbesondere die ewigen Berge, heißen nicht schön, man könnte das nicht sagen.
224 Die C. P. R. hat, als sie ihre Bahn durch dieses neuerschlossene Land baute, die Erde hier einfach unter ihr Personal verteilt, die größten Funktionäre haben dabei natürlich die größten Berge bekommen. Ein Riese dahier heißt Mount President, ein etwas kleinerer daneben Mount Vice-President. Der gewaltigste dieser Berge, die von den Indianern, als es noch keine Eisenbahnen gab, als ihre wirklichen Götter verehrt wurden, ist nach dem High Commissioner von Kanada (unter der eben abgesetzten liberalen Regierung), Lord Strathcona and Mount Royal benannt, dem auch unzählige Städte, Parke, Hotels, Galoschen und Felsenspalten, Zigaretten und Apfelsorten ihren Namen Strathcona verdanken. Lord Strathcona ist ein Finanzgenie, und der Handel Kanadas hat ihm eine Menge zu verdanken. Ehe er zu seiner hohen Stellung gelangte und seinen Titel erhielt, war er ein gewöhnlicher Bürger mit Namen Mr. Donald Smith. Ein Genie war er jedenfalls schon als Bürgerlicher; der zehntausend Fuß hohe Berg hieß darum einfach Mount Donald. Als aus dem Mr. Smith Lord Strathcona wurde, durfte man dem Berg die Schande nicht antun, daß er als simpler bürgerlicher Berg im Lande stehe, der Berg wurde also in den Adelsstand erhoben und heißt jetzt Mount Sir Donald. Hoffentlich werden ihn die Konservativen, die jetzt am Ruder sind, nicht demolieren.
Die Grand Trunk Pacific, die jetzt ihre Strecke nördlich an den gelben Felsen vorbei durch das Felsengebirge baut, hat auch schon eine Menge Ströme, Wälder und Wiesen nach den Ihren benannt und es ist nicht ausgeschlossen, daß ich, wenn mich nach Jahren mal mein Weg nach dem Arktik führt, über den »Mount Kon« dort hinauffahren werde!