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Theoria pro domo

»Eines der vorzüglichsten Kennzeichen des Verfalles der Kunst ist die Vermischung der verschiedenen Arten derselben. Die Würde des echten Künstlers (besteht darin), daß er das Kunstfach, in dem er arbeitet, von anderen abzusondern, jede Kunst und Kunstart auf sich selbst zu stellen und sie aufs möglichste zu isolieren wisse.«

Goethe

Wagner hat immer geschrieben: mit dreißig, mit fünfzig, im siebzigsten Jahre. Er mußte sich mitteilen. Bedeutet es nicht mehr? Er mußte sich rechtfertigen. Nicht mehr? Er mußte Theorien pro domo bauen. Sämtliche Schriften von Wagner könnten den Untertitel tragen: »Oder das Wort – Ton – Drama«, »oder Bayreuth«. Aber sie tragen meist metaphysische Masken.

Man darf diesen Vorgang nicht so primitiv verstehen, als setzte sich Wagner hin und konstruierte ästhetische Theorien nach seinen Gaben. Er war niemals dolos, vielmehr in einem sehr tiefen Sinne naiv, wie jeder Schauspieler. Dies Herz, das nur sein eigenes Pochen hörte, fühlte es wirklich als den Pulsschlag der Welt.

Schon früher hat Wagner immer wie ein Wagnerianer geschrieben, von jenem unsäglichen Lebenswillen gedrängt, der sich in den Mittelgrund schieben muß und darum gefährlicher ist, als alle gewöhnlichen Eitelkeiten. Ein Beispiel, als Vorspiel: Seine ersten Kompositionen (Symphonie C-dur, Sonate C-dur) sind wertlos, er weiß es selbst. Wie findet sich Wagner damit ab? Er dekretiert: Große Dichter zeigen schon in ihren Jugendwerken »das ganze Hauptthema ihres produktiven Lebens«, große Musiker aber gehen zu Anfang in gewohnter Bahn. Dahinter leuchten, ungedruckt, etwa die Worte: Schon in seiner Jugend gab Wagner, grade durch das Konventionelle in seiner Leistung, die ersten untrüglichen Zeichen des Genius. Dann führt er Mozart und Beethoven, Schiller und Goethe an: beide Paare ebenso falsch wie richtig, bei beiden lassen sich Beispiele für und gegen diese willkürliche Antithese geben.

Den stärksten Atem verwendet er zur Proklamierung seiner Menschen-Schöpferkraft. Nicht das »Politische« (Historische), nicht das »Gesellschaftliche«: das »Rein-Menschliche« will er darstellen; worüber später mehr. Da er sich als Dramatiker fühlt und im bewußten Gegensatze zum Epiker, so dekretiert er: »Das Drama gibt uns den Menschen, der Roman den Staatsbürger.« Und hinter diesem primitiven Irrtum leuchtet es, ungedruckt: Wagner gab euch den Menschen!

Die Genesis von Wagners Theorien aus der instinktiven Kenntnis seiner Grenzen, durchschaut man am besten im Falle des Dramas. »Ich bin und leiste nur dann etwas, wenn ich im Affekt alle meine Fähigkeiten zusammenfasse.« Er wäre, sagt er ein andres Mal, »zunächst Dichter, und erst in der vollständigen Ausführung des Gedichtes ward ich wieder Musiker. Allein ich war ein Dichter, der des musikalischen Ausdrucksvermögens seiner Dichtung sich im voraus bewußt war.«

Nehmen wir Wagners neuen Begriff der »absoluten Musik« (Tautologie: schwarzer Rappen, weißer Schimmel) zur Norm: so war er selbst ein relativer Musiker, ein relativer Dichter. Dies nimmt er als gegeben. Wie aber, denkt er nun, und in seinem Kopfe schlagen die Enden der Kette zusammen, um einen Ring zu bilden, – wie aber, wenn grade hier der höchste Wert, der »Gesamtwert« läge? Wie, wenn in den sonderbaren Gebilden, zu denen der Krampf meiner Begabung drängt, grade der Höhepunkt aller Begabung zu finden wäre?

Man muß es dekretieren! Verschmelzen! Man muß den Ton, die Sprache und das Drama auch begrifflich verschmelzen und sei es nur mit der zungenschweren Bezeichnung »Wort-Ton-Drama«. Wir machen aus dem Hausgesetz ein Landesgesetz. Für Wahnfried setzen wir Deutschland, ja die Welt. Dekret: »Die von vornherein anzustimmende Tonsprache istdaher das Ausdrucksorgan, durch welches der Dichter sich verständlich machen muß, der sich von dem Verstande an das Gefühl wendet und hierfür sich auf den Boden zu stellen hat, auf dem er einzig mit dem Gefühle verkehren kann.« Wie? Iphigenie? Ganz ohne Töne? Oder, noch kürzer: Das Organ der Dichter, das Sprechorgan » ist zu einer gefühlsverständigen Darstellung unfähig.« Wie intellektuell, hart und gefühlsfremd wäre nicht Tasso, Hamlet oder was Ihr wollt!

Der Dichter darf nur die Absicht ausdrücken, »ausführen« wird sie dann der Musiker. Oder: »Dieses Kind (Siegfried, vor der Vertonung), das ich zwar erst erzeugt, nun aber auch gebären will ,…« Oder, theoretisch: »Da, wo das vom Dichter Vorbereitete wirklich werden soll, ,… da kann er mit der schildernden, deutenden Wortsprache nicht mehr wirken, außer ,… durch den Erguß in die Tonsprache.«

Absicht und Ausführung in einem Kunstwerk? Geht es um ein kleines Lustspiel, das zwei Köpfe zusammen schreiben; von denen etwa der eine die Absicht, der andere die Ausführung übernimmt? Aber was stände zu fürchten? Ein neues Dekret: Im Gesamtkunstwerk » sind die einzelnen Kunstarten in der höchsten Fülle« vorhanden. Und schließlich heißt es prophetisch: Da werden denn »alle Künste zu ihrer Erlösung durch das allgemeinste Verständnis aufgehen«.

Mit der journalistischen Gebärde, mit welcher Wagner immer sich (Subjekt) mit der Welt (Objekt) gleichzusetzen liebte, hat er auch das Erlösungsmotiv aus Wagners Leben auf jedes Dichters Leben projiziert und versucht nun, ebenfalls im Futurum, den Armen gleichsam durch einen königlichen Gnadenakt mit zu erlösen: »Erst wo sich beide, Prometheus-Shakespeare und Beethoven die Hand reichen; wo die marmornen Schöpfungen des Phidias in Fleisch und Blut sich bewegen werden; wo die abgebildete Natur aus dem engen Rahmen an der Zimmerwand des Egoisten in den weiten, vom warmen Leben durchwehten Raum der Bühne der Zukunft üppig sich ausdehnen wird, erst dann wird, in der Gemeinschaft aller seiner Kunstgenossen, auch der Dichter seine Erlösung finden.«

Endlich muß, was vorwärts noch nicht glaubhaft wäre, rückwärts begründet werden. Wagner hat als Kronzeugen für sein Wort-Ton-Drama Beethoven selbst heraufbeschworen. Er war zeitlebens literarisch. Der Neunten Sinfonie hat er ein Faust-Programm untergeschoben, und selbst dem ehernen, unsäglich stummen Grundthema der Fünften hat er gelegentlich die Worte unterlegt: »Es muß geschehn!« Er mußte reden. Er konnte nicht anders.

Ja, er hat sogar, pro domo, um die Suprematie der Musik über die andern Künste zu erhärten, den Schlußchor des Faust folgendermaßen gedeutet: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis: als »den Geist der bildenden Kunst, dem Goethe lange und vorzüglich nachstrebte«; das ewig Weibliche zieht uns hinan: als »den Geist der Musik, der aus des Dichters tiefstem Bewußtsein sich emporschwang, nun über ihm schwebt und ihm den Weg der Erlösung bereitet«.

Die Neunte umkreiste Wagner wie ein Planet die Sonne, aber er bemerkte es nicht: so rasend kreiste er zugleich um sich selber. Den Willen zur Menschenstimme, der einzig Beethoven zur Einführung des Chores am Ende treiben konnte, mißverstand dieser redende Musiker so sehr zu seinen eigenen Gunsten, daß er vielmehr Beethovens Willen zum Worte als Motiv einsetzte. »Für die Neunte (als Kunstwerk) ist der letzte Satz mit den Chören entschieden der schwächste Teil, er ist bloß kunstgeschichtlich wichtig, weil er uns auf sehr naive Weise die Verlegenheit eines wirklichen Tondichters aufdeckt, der nicht weiß, wie er endlich, nach Hölle und Fegefeuer, das Paradies darstellen soll!« Und kurz und gut, die Neunte ist »die Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allgemeinsamen Kunst!« Oder: Durch das große Tor der Neunten tritt ein, o Fremdling, in die Gärten von Bayreuth!

Wagner nannte – in höchstem Egoismus – die einzelnen Künste egoistisch, und er forderte – mit völliger Tyrannis – sie sollten sich »in Liebe dem Ganzen ergeben«. Diese echt Wagnerische Forderung stellte ihm sein Genius gleichsam wie ein Ultimatum, das er dann verallgemeinert an die Menschheit weitergab.

Aus den Theorien vom Kunstwerk der Zukunft, das genauer das Kunstwerk der Wagnerischen Gegenwart heißen müßte, tritt der Gegensatz von melodischer und dramatischer Musik hervor. Hier liegt der Schlüssel nicht bloß zum Kunstwerk der Zukunft: auch Wagners eigene Gaben und Grenzen erschließen sich plötzlich dem, der sie noch nicht kennt. Das aufwärts schwelende Feuer dieser Seele, das ruckweise Bersten dieses von Wolkenbrüchen geschreckten Vulkans, Hast und Krampf seines Wollens: dies alles, auf eine bedeutsame Weise zum Dramatischen hin-, vom Melodischen ablenkend und doch in keinem Reiche heimisch, führte ihn zu jenen antimelodischen Dekreten, deren Unfruchtbarkeit sogleich der erste: sein eigener großer Versuch erwies. Die alten »Nummern«, heißt es, sind undramatisch, weil sie vom Dramatischen auf das Musikalische ablenken. Arien jeder Art »halten die Handlung auf«.

Auf das sonderbarste hat sich Wagner hier an beiden Begriffen zugleich vergangen. Nur einen Sprechgesang fordern, heißt, von der musikalischen Seite her, das nämliche, als etwa von der dichterischen, nur das Epigramm für das Drama fordern. In Wahrheit stellt aber das Drama für wenige Sekunden »Handlung« dar, der minutenlange antithetische Reden und Gegenreden voranzugehen pflegen. Was aber die Stunden füllt, ist im Grunde nichts als der szenisch-lyrische Anstieg und Abstieg zu und von der Handlung. Jedes Drama ist eigentlich nichts als eben dieses »Aufhalten« vor und nach einer Tat oder mehreren Taten. Diese selbst dauern nur Sekunden: ein Kuß, ein Totschlag, ein Bekenntnis, eine Entführung. Nach Lage seiner Gaben wird der Dramatiker sich mehr in epigrammatischer, mehr in lyrischer Form entströmen lassen, immer aber wird diese Seite des Dramas der Musik zu-, jene ihr abgewandt erscheinen.

Der »Sprechgesang« will ein Mittleres finden, weil sein Gesetzgeber mit seinen Gaben, mit seiner Natur allein auf einem Zwischenfelde gedeiht. Bemerkt er nicht, daß sich das rein Epigrammatische den Tönen widersetzt, das Lyrisch-Dramatische aber eine Tonwelt will, die Mozart besaß, auch Weber, auch Bizet, nur Wagner nicht? Er freilich proklamierte: »Der Gesang ist die in höchster Leidenschaft erregte Rede, die Musik ist die Sprache der Leidenschaft.« Er meinte auch hier: seine Musik – und irrte doppelt.

Als Wagner die Oper durch das Wort-Ton-Drama ersetzen wollte, setzte er für die Forderungen der Oper die Forderungen des Dramas ein. Daß jenes Gebilde unter allen Umständen eine »Oper« bleiben muß, das heißt, daß hier gesungen wird und nicht gesprochen, das machte er sich nur zunutze, statt es sich auch zur Warnung zu machen. Er folgerte eine Steigerung des dramatischen Lebens, statt eine Verwirrung dramatischer Gesetze zu folgern. »Die Musik, welche nicht die in den Erscheinungen der Welt enthaltenen Ideen darstellt, dagegen selbst eine und zwar die umfassendste Idee der Welt ist (dieser Nebensatz ist von Schopenhauer ), schließt das Drama ganz von selbst in sich, da das Drama wiederum selbst die einzige der Musik adäquate Idee der Welt ausdrückt.«

Das ist ein equilibristisches Meisterstück. Der Zusammenhang scheint dunkel, hier folgt seine Erleuchtung: »Das Drama überragt ganz in der Weise die Schranken der Dichtkunst, wie die Musik die jeder anderen Kunst, dadurch, daß seine Wirkung einzig im Erhabenen liegt.« (Vgl. aus verschiedenen Gesichtspunkten: Molière; Michelangelo; Meistersinger.) Und nun kommt folgender, höchst vitaler Zusammenschluß: »Das die Idee darstellende Drama kann in Wahrheit eigentlich nur durch jene Motive der Musik vollkommen klar verstanden werden. Wir dürften somit nicht irren, wenn wir in der Musik die aprioristische Befähigung des Menschen zur Gestaltung des Dramas überhaupt erkennen wollen.« Dies Mißverständnis Nietzsches endet mit folgendem Prodomo: »Die vollendetste Kunstform mußte demnach von dem Grenzpunkte aus sich bilden, auf welchem jene Gesetze sich zu berühren vermöchten.«

Der Sockel ist fertig. Die Ecksteine: Äschylos, Beethoven, Schopenhauer, Shakespeare tragen den Bau, aber auf der Spitze schwingt Wagner die neuen Tafeln. Über ihm der Himmel ist entgöttert: er hat sie sich selber diktiert, er hat auch dieses verschmolzen: Prophet und Gottheit.

Die alte Oper wußte sehr wohl, warum sie alles, was dicht an der »Handlung« stand: Entschlüsse, Boten, Verrat, Entdeckungen, mit einem Wort die Intrige in das trockene Rezitativ schob. (Nur die Finale machten eine Art Ausnahme.) Das Rezitativ dauert kaum länger als die gesprochene Rede, Wagners Sprechgesang aber mindestens dreimal solange als das Rezitativ. Dieser also, Wagners Hauptform, ist es, der »aufhält«, und doch fehlt ihm andererseits das Gleichmaß des Liedes, der Arie, die Konzentration des Gefühls mit einfachstem Mittel. Während er dramatisch nicht nutzt, schadet er musikalisch. Wagner hat stets übersehen, daß dieser Sprechgesang nicht typisch-dramatisch, sondern typisch- episch war; so zwar, wie etwa ein Rhapsode Balladen vortragen soll.

Dies ist der Grund, warum beim späteren Wagner grade das nicht erreicht wird, was jede Oper alten Stiles dramatisch erreicht: Geschwindigkeit der Handlung, nach und vor den lyrischen Ergießungen. Und dies ist auch der Grund für die endlosen Erzählungen im Ringe.

Andrerseits, Meyerbeer, Wagners direkter Vorläufer, brachte zum ersten Male die interessante Handlung auf die Bühne, mit Spannungen, mit Aufregungen. Wagner glaubte, an Stelle dieser Äußerlichkeiten Innerlichkeiten zu setzen. In Wahrheit setzte er nur für eine szenische Berechnung eine szenische Vision: denn er war das größere Theatergenie. Er träumte wahrhaft theatralisch. Meyerbeer befahl Scribe, für ihn theatralisch zu addieren, Wagner träumte Prospekte. Ist es dennoch nicht verdächtig, daß Wagner mit solcher Leidenschaft gegen Meyerbeers Operdramen wütet? Sollte er sich ihm nicht nur überlegen, vielleicht auch verwandt fühlen, wie mancher, der aus innerstem Drang gegen eine Sache wütet? Welcher Weg ist näher: von Wagner zu Meyerbeer oder von Wagner zu Äschylos? Zu seinem Feinde oder zu seinem Vorbild?

Wagner verwarf – theoretisch – den Zusammenklang mehrerer Stimmen als »undramatisch«. Sind Mozarts Opernfinale dramatisch zu übertreffen? Bedeutet nicht vielmehr dieser Zusammenklang mehrerer Stimmen ein Hauptmittel der Oper zur Erhöhung dramatischer Wirkungen, das der Dichter nie benutzen kann? Tannhäuser war dramatischer als der Ring, deshalb durfte Wagner hier noch oft die Liedform und die Vielstimmigkeit benutzen. Ist dann im Ring mit seinen unendlichen Erzählungen die unendliche Melodie am Platze, so spricht das kaum für den Ring, gewiß nicht gegen Tannhäuser.

Wagner, dessen ganzes Werk zwischen zu trüber Sinnlichkeit und zu klarem Intellektualismus gefährlich schwankt, um nur in den seltensten Augenblicken das Gleichgewicht des Pathos oder der Anmut zu erlangen, hat sich in diesen Fragen um so intellektueller gehalten, als er sinnlich wirken wollte.

Die natürliche Neigung des Gesanges: den Sinn der Worte zu verzehren, um nur als Klang zu wirken, war den Meistern der alten Oper sehr bekannt, und auch darum geschah es, daß sie alles Verstandesmäßige im rein musikalischen Teil unterdrückten und in die Rezitative schoben, die ja halb gesprochen wurden. Grade weil singend handelnde Menschen ein Nonsens bedeuten, ließen sie im Grunde nie ein Stück, vielmehr die Paraphrase über ein Stück singen und spielen. Und hingegeben ihrer »absoluten« Musik, fragt man nicht nach den Paradoxen der Euryanthe oder der Zauberflöte, man weiß im Grunde oft nicht, was geschieht. Vor Wagner aber, der prätendierte, wirkliche Dramen zu dichten, fragt man sich zuweilen erschrocken: Warum singen diese Wahnsinnigen? Grade weil er vom Sinn, von der Handlung auszugehen wünscht, fällt er ins Intellektuelle. Man wird unten finden, wie und warum überall, wo seine Dichtung reich wird, die Musik verarmt. Zu seinen besten Einfällen gibt es keine adäquate Opernmusik. Die Musik zu Wagners tiefsten Gedanken hat Beethoven vorausgeschrieben.

Gegen die Gleichsetzung des gesprochenen und des gesungenen Dramas in ihren Gesetzen spricht auch die Dauer. Wagner glaubt an seine Dramen als Dichtungen. Man denke sich, Walküre, erster Akt, in seiner Kürze als Drama gesprochen, oder das Waldweben und den Drachenkampf. Da jede Seite dieser Dichtungen viermal so langsam gesungen als gesprochen wird, ist eine dichterische Verkürzung geboten und meist von Wagner selbst vorgenommen, die jeden Vergleich mit der Entwicklung eines gesprochenen Dramas hindert. Beispiel: In Gunthers Halle spricht man von Siegfried. Gutrune: »Möchte ich Siegfried je ersehn!« Gunther: »… Willkommen hieß ich ihn gern.« Da ertönt ein Horn. »Vom Rhein her tönt das Horn.« Das ist guter Opernstil, als Dichtung unmöglich. Seine psychologische Kraft steckte Wagner in die Musik: was konnte aus der Dichtung werden? Seine ersten Textbücher sind halb so dick, als die späteren, und doch dauern die Opern beinah gleich lange. Spricht das wirklich für die späteren?

Allenthalben setzt er das Dichterische mit dem Dramatischen gleich. Seine Definition der dramatischen Melodie – »Erlösung des unendlich bedingten dichterischen Gedankens zum tief empfundenen Bewußtsein höchster Gefühlsfreiheit« – ließe sich besser auf das Lied anwenden, während grade im Drama ganz andere Faktoren, vor allem die antithetischen, hinzutreten, die sich eher gegen Vertonung sträuben.

Schließlich sucht seine Theorie noch durch ein letztes Tor in die Burg des Dramas zu dringen. »Die nackte Harmonie wird aus einem vom Dichter zugunsten der Harmonie nur Gedachten und durch die gleiche Gesangstonmasse, in welcher die Melodie erscheint, im Drama nicht zu verwirklichenden, im Orchester zu einem ganz realen und besonders vermögenden, durch dessen Hilfe dem Dichter das vollendete Drama in Wahrheit erst zu ermöglichen ist.«

So weit ein solcher Wagner-Satz überhaupt verständlich wird, deutet er hier auf die Ohnmacht des Dichters ohne Töne hin. Ja, er nennt es an anderer Stelle gradezu »unnatürlich«, daß die Gestalten des Dichters »bei höchster Steigerung ihrer Handlungsmomente und Motive diese durch das Organ des gewöhnlichen Lebens kund tun«. Und indem ihm der singende Mensch in der Leidenschaft natürlicher erscheint als der sprechende, verwechselt er Tagessprache und Dichtersprache und vergißt überdies, daß seine eigenen Personen nicht nur in den Augenblicken der Ekstase, sondern immer singen müssen, etwa den Satz: »O weh, da vergaß ich selbst mein Buch,« oder die hübsche Wendung: »Elsa, mit wem verkehrst du da?«

Doch was kümmert Wagner das gesprochene Schauspiel! Er dekretiert, daß »in Zukunft auch die Schauspielform, als eine für den neuen Zustand ungenügende, unbehilfliche und mangelhafte verschwinden müßte«. Die Entwicklung des Dramas seit fünfzig Jahren zeigt ein nicht allzu folgsames Europa.

Von allem ist das Merkwürdigste, wie richtig Wagner seine Theorien selbst anwendet: wie einer, der zu rechnen scheint, sich aber vorher die Lösung heimlich verschafft hat. Sonst forderte immer der Künstler in seiner Ästhetik Höheres, als er selbst zu gestalten wußte. Schriebe der Künstler sonst über Kunst, – wenn nicht in jenem Drange, über seine gestaltende Kraft scheinbar hinauszukommen? Wagner paßt immer in seine Theorien, weil er sie nach seinem Maße zuschnitt. Und wenn er ihnen untreu wird, an einigen unvergänglich schönen Stellen, so ist es nur, um in den alten Stil zurückzufallen, den er so sehr bekriegte.

In den Meistersingern werden alle Wagner-Theorien merkwürdig erschüttert. Plötzlich steht statt eines Mythos eine Komödie, statt Göttern eine »Oper« da, komisch, »politisch«, unter deutschen Bürgern. Im Pathos der tragischen Dramen wurde die unendliche Melodie damit gerechtfertigt, daß es nicht »alltägliche«, nicht »historische« Dinge seien, die man da sang, sondern das Mythische. Folgte aber die Theorie des Überlebensgroßen den Nürnberger Bürgern bis in ihre niedrigen Stuben, sie stieße sich im Türrahmen an den Kopf.

Das Suggestive tritt hier zurück. Was dagegen musikalisch gelungen ist: Walters Lieder, das Schusterlied, das herrliche Quintett, die große Schlußrede, Chöre und Tänze in jedem Akt: das sind Sätze, weder komisch noch »wagnerisch«, sondern pathetisch oder liedartig und singbar. Jeder Akt schließt mit einem rechten Finale.

Die ganze Oper steht musikalisch auf dem Gegensatz von Soli und Ensembles. Dramatisch unmotiviert, treten die schönsten Sätze darin wie »Nummern« auf.

Weil Wagner hier ein Stück seines Wesens zugunsten seines Genius zum Schweigen brachte, brach ein Stück Klarheit hervor. Trotzdem überschwemmt die unendliche Melodie, wo sie nicht unvermutet unterbrochen worden, die Kontur des Komischen.

Diese Oper gilt für ein Zeichen seines Humors. In Wahrheit ist es Posse plus Ironie, die Wagner, mit genauer Berechnung der Wirkung »die einzige, für unsere Öffentlichkeit verständliche und deshalb irgendwie wirksame Form des Heiteren« nennt. Deshalb könne die Heiterkeit ihrem wirklichen Wesen nach nie in der Theorie zum Durchbruch kommen.

Wagner besaß übrigens einen bestimmten Humor: das Nibelungenlachen, den Nachtalbenhohn, mit dem Hagen die Mannen zum Kriege ruft und dann nur Stiere schlachten und Met trinken heißt. Oder wenn er der geängstigten Gutrune auf die Frage, warum Siegfrieds Horn nicht ertöne, erwidert: »Der bleiche Held, nicht bläst er mehr.« Humor aus dem Abgrund, beinahe Dämonie.


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