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»Dem feiner Gebildeten, durch Kunstluxus Verwöhnten munden heute nur raffinierte, oft mit ästhetischen Grillen garnierte Kunstgerichte.«
Wagner gegen Meyerbeer
Jedes Kunstwerk hat zwei Kritiker: den Kenner und das Volk. Zwischen beiden steht die geistige Bourgeoisie. Diese und nur diese hat Wagner gewonnen.
Sein Leben lang wütete er gegen die Kritiker, und es scheint, er hielt sie für bösartige Leute mit Uhrmacherlupen im Auge und feinen spitzen Lanzetten in Händen. Wagner verwechselte Kunstkenner und Beckmesser. Daß viele Feinde seines Werkes sich beckmesserisch äußerten, beweist noch nichts für das Werk. Wenn überdies ein Teil der Kritik rasch von der Sache auf seine Person überzugehen pflegte, so war das Rache seines Wesens: die Rache am Schauspieler in Wagner.
Nach dem Tristan schreibt er, er hätte »eine Meinung über das Publikum fassen gelernt, die mich zu den günstigsten Ansichten geführt hat. Der Künstler ,… führt tief absichtlich sein Werk nicht dem Kunstkenner, sondern dem Publikum vor. Nur insoweit das Publikum das kritische Element in sich aufgenommen hat, ,… kann den Künstler ängstigen.« Dies kritische Element mißverstand Wagner so sehr, daß er im Lohengrin symbolisiert haben will, wie der moderne Künstler vom Leben falsch angefaßt werde: statt rückhaltlos aufgenommen und verstanden zu werden, sei er gezwungen, sich dem kritischen Verstande mitzuteilen. Wagner war entschlossen, dies nicht zu tun.
Die Reformatoren in der Geschichte der Künste hatten, wie alle Reformatoren, stets ein paar Vorläufer, die sie erkannten und ihre Apostel wurden. Sehr allmählich, im Alter oder nach ihrem Tode, drangen sie mit ihren neuen Ideen, neuen Werken weiter, und sah man dann die Namen derer an, die von Anbeginn auf den Propheten geschworen, so hatten sie nun historisch einen guten Klang.
Den umgekehrten Weg ist Wagners Wirkung gegangen. Sehr früh fand er begeisterte Aufnahme. Aber weder die Kenner noch die großen Zeitgenossen traten für ihn ein.
Er hätte an das Volk appellieren können, – müssen, im Verfolg seiner Theorien von der Erweckung der Dreißigtausend. Wagner ist niemals vor das Volk getreten; nur vor das Publikum.
In der Blüte seiner Ideen, zweiundzwanzig Jahre vor Bayreuth, äußert er, noch ehe eine Note zum Ring geschrieben, als kaum der vierte Teil gedichtet ist, den Plan, in Zürich ein Holztheater zu bauen »auf einer schönen Wiese bei der Stadt, von Brettern und Balken«, Chor und Musiker zu sammeln und heranzubilden. Nun aber will dieser Nachfolger des Äschylos nicht etwa weit die Türen öffnen, um jenes Volk hereinzulassen, von dessen Erweckung aus zweitausendjährigem Schlafe er zu träumen vorgegeben; sondern nur durch alle Zeitungen Deutschlands alle »Freunde des musikalischen Dramas«, die hiesige Jugend, Gesangvereine, Universitäten einladen und dann in einer Woche Siegfried spielen, »natürlich Gratis-Entree.« »Nach der dritten Aufführung wird das Theater eingerissen und die Partitur verbrannt. Den Leuten, denen die Sache gefallen hat, sage ich dann: nun macht's auch so! Wollen sie auch von mir einmal etwas Neues hören, so sage ich aber: schießt ihr das Gel d zusammen!«
Das war zur Zeit der idealen Pläne. Nach einem zwanzigjährigen Rückweg von Konzession zu Konzession hieß dieses Ideal Bayreuth.
Als sich, zwölf Jahre nach jenem Plane, ein Stück davon verwirklichen ließ, öffnet Wagner nicht die Türen, er schließt sie. Von keiner Aufführung schwärmt er so wie von der Probe zum Tristan in München: Sechshundert Geladene, »meine erste Aufführung, ohne Publikum, nur für uns, glich der Erfüllung des Unmöglichen.« In der öffentlichen Einladung zu den Tristan-Vorstellungen heißt es dann: »Diese Aufführungen, für jetzt vielleicht nur drei an der Zahl, sollen als Kunstfeste betrachtet werden, zu welchen ich von nah und fern die Freunde meiner Kunst einladen darf. Sie treten ,… demnach aus der üblichen Beziehung zwischen dem Theater und dem Publikum heraus ,… Mit dem eigentlichen Theater, mit dem Spiel auf Gefallen und Mißfallen, Kaufen und Verkaufen (Bayreuth) hat es ein Ende.« Äschylos als Ästhet.
Nie ist ein Reformator schneller durchgedrungen als Wagner: alle ersten Aufführungen seiner Werke hatten große Erfolge. Die Geschichte seiner Wirkungen zeigt fast überall das nämliche Bild: die ersten Aufführungen erregen instinktiven Beifall, – später kommt die böse Kritik In den Berichten vom ersten »Tristan« heißt es etwa: »Begeisterte Beifallsausbrüche, wie Platzregen, dröhnendes Beifallsgetöse«.. Hundert Beispiele dafür sammeln die Wagnerianer und folgern triumphierend, daß der natürliche »Volksinstinkt« für Wagner sei. Saß das Volk in den Theatern? Wo hatte Wagner seine Erfolge? Zuerst in den Theatern, die er verachtete, deren Leiter und Publikum er erziehen wollte; also vor demselben Publikum, das zu gleicher Zeit Meyerbeer und Rossini applaudierte, Wagners Antipoden. Dann in Bayreuth, wohin, Snobs und Spötter ausgenommen, niemand kam oder kommt, der sich nicht dieser Kunst und Welt verwandt fühlt.
Die Kenner standen meist gegen ihn auf, das Volk wurde nie gefragt: die Bourgeoisie war bezaubert. Mit kluger Geste wies Wagner immer auf die Schwierigkeit seiner Werke hin. Es gibt keine leichteren. Nie hat Musik so unmittelbar gewirkt. Der Nichtmusikalische hütet sich, Quartette von Beethoven anzuhören oder die Hohe Messe in H-Moll. Wagner geht ihm ein. Damit ist nichts gegen, nur etwas über seine Musik gesagt, zu der ja auch der Musiker pilgert, um Außerordentliches zu lernen, was dem musikalischen Laien entgehen mag. Weil sie neuartig war, nahm man diese Musik zuerst für schwer. Weil sie mit suggestiver Kraft auf die moderne Psyche wirkte, war sie leicht. Nietzsche hat hierüber das tiefste Wort gesprochen: »In Wagners Kunst ist auf die verführerischeste Art gemischt, was heute alle Welt nötig hat, die drei großen Stimulantia der Erschöpften: das Brutale, das Künstliche und das Unschuldige.«
Bei so überraschender Neuheit, Vielfalt der Wirkungen konnten sich nur die reifsten Geister von Anbeginn der Suggestion entziehen. Wagner selbst wundert sich über seine wiederholten Erfahrungen: daß beim unmittelbaren Bekanntwerden mit seinen Werken »nichts anderes als ein durchaus ergreifender Eindruck sich kundtut,« der aber später »der kälteren, reflektierenden Kritik« Platz macht. Er vergißt, daß der Eindruck jeder großen Kunst, wenn sie neu ist, den umgekehrten Weg macht, und es erweckt sein Mißtrauen nicht, daß andre nachträglich mißtrauisch werden.
Wer ihm von Anbeginn zufiel, das war die Jugend und die Frauen, wohl verstanden: die »Gebildeten«. Die jungen Leute, die in neue Opern zu gehen pflegen, fühlten sich von diesen erotischen Schlägen getroffen, sie atmeten zwischen Schmerz und Wollust, sahen mit einem Male alle geheimen Süchte vor ihren Augen und Ohren in einer Deutlichkeit, die sie frappierte. Alles war unsäglich modern. Dazu kam der Reiz, für etwas Neues eintreten zu dürfen. Was für eine Jugend wäre das gewesen, die da nicht mitgekämpft hätte; wir alle täten es heute. Als Wagner in Zürich die Tannhäuser-Ouvertüre aufgeführt hat, nennt er die Wirkung »gradewegs furchtbar. Ich spreche nicht etwa von dem Beifallstumult, den sie unmittelbar hervorrief, sondern namentlich von den Wirkungssymptomen, die mir allmählich erst zur Kenntnis kamen. Namentlich die Frauen sind um- und umgewendet worden: die Ergriffenheit war bei ihnen so groß, daß Schluchzen und Weinen ihnen helfen mußte ,… Erst nachdem diese ungeheure Wehmut sich in Tränen Luft gemacht hatte, kam das Wohlgefühl der höchsten überschwenglichen Freude.«
Zahllose ähnliche Dokumente sammelten Wagner und die Seinen, und Niemand scheint zu bemerken, wie sehr solche Berichte die Kunst kompromittieren, deren Tiefe sie erweisen wollen. Zugleich wird klar, warum das einzige unerotische Wagner-Werk, warum Rheingold (zugleich der musikalisch reinste Teil der Tetralogie) am seltensten zur Aufführung gelangt.
Wen der orchestrale Magnetismus nicht anzog, den reizte das Spiel der Motive. Intellektuelle Menschen pflegen, wenn sie ehrlich sind, Musik wie einen unfaßlichen Nebel zu fliehen. Bei Wagner durften sie mit einem Male denken. Die Sinnfälligkeit seiner Motive, die auch in den ungeübtesten Ohren hängen bleiben, gestattete den Intellektuellen, selbst an der Musik einmal produktiv zu werden. Man hielt sich (ohne Wagners Schuld) an die rasch notwendig gewordenen Namen der Motive und freute sich, wenn man Ankunft oder Nennung einer Person im voraus erriet. Nichts ist bekannter geworden von Wagners Werk als eben diese Namen der Motive. Vom Feuerzauber oder vom Waldweben spricht alle Welt und glaubt, damit etwas über Wagner auszusagen.
Die der Musik ganz abhold waren, mußte doch ein Göttermythos reizen, von dem man, dank seiner Unpopularität in Deutschland, meist erst durch Wagner Näheres erfuhr, und zwar sogleich in so moderner Form, dem Jahrhundert so nahe gerückt, so sehr »vertieft,« daß man über das Raffinement germanischer Urstämme erstaunen mochte.
Wer aber gar nichts hören wollte, dem wurde soviel vor das Auge geführt: das groß' und kleine Himmelslicht, die Sterne dürfet ihr verschwenden, an Wasser, Feuer, Felsenwänden, an Tier und Vögeln fehlt es nicht. So schritt man in dem engen Bretterhaus den ganzen Kreis der Schöpfung aus und wandelte mit brünstigem Schwall von Nivelheim bis nach Walhall.
Einmal hat sich der »alte Zauberer« verraten. Er schrieb, im Jahre 55, an Liszt: »Somit schmeicheln wir eigentlich, wenn wir unser Vorhaben für chimärisch und exzentrisch ausgeben, nur der gültigen Nichtswürdigkeit unserer künstlerischen Öffentlichkeit. Wir sollten das den Leuten nicht weismachen.«
Hat Wagner diese Leute erzogen? »Unser modernes Konzertpublikum,« schreibt er einmal treffend, »welches der Kunstsinfonie gegenüber sich warm und befriedigt anstellt, lügt und heuchelt, und die Proben dieser Lüge und Heuchelei können wir jeden Augenblick erhalten, sobald nach einer solchen Sinfonie irgendein modernes melodiöses Operntonstück vorgetragen wird, wo wir dann den eigentlichen musikalischen Puls des Auditoriums in ungeheuchelter Freude sogleich schlagen hören.« Heute muß man Wagners Namen in diesen Satz einfügen und erhält ein Bild aus dem modernen Konzertsaal, in dem auf die Siebente Sinfonie das Liebeslied aus der Walküre folgt.
Wagner hat Meyerbeers Erfolge mit der niedrigen Qualität des Publikums erklärt. Wie, wenn man diese Logik heut auf Wagner anwendete? Wer anders als die geistige Bourgeoisie füllt heute die Wagner-Oper, die genau so zur »Kassenoper« wurde wie ehedem und wie noch heute Hugenotten oder Prophet? Aus welchen Symptomen kann Veredelung des Publikums in diesen fünfzig Jahren erwiesen werden? Und hat man nicht bemerkt, wie sich das Wagner-Publikum in den Opernhäusern verschlechtert? Wieder ist es die große Mittelschicht, und sie geht heut aus keinen anderen Instinkten zu Wagner, sie kommt mit keinen anderen Entschlüssen heraus als einst bei Meyerbeer.
Wagner, der Schauspieler, hat die Schauspieler erzogen, der Musiker die Musiker, nur nicht die Deutschen; dazu hätte er Dichter, hätte Dramatiker oder absoluter Musiker sein müssen. Er klagte ja selbst zehn Jahre lang über Bayreuth, und es wäre schwer zu entscheiden, wo der Fehler lag: ob darin, daß der Wirkungsdurstige die »Regeneration« für seine eigene Zeit vorweg nahm, oder darin, daß er Billette verkaufen ließ.