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Errungenschaften

Sechzig Jahre sind vergangen, seit Wagners wichtigste theoretische Schriften erschienen, fünfzig und vierzig Jahre, seit er blühte, dreißig, seit er starb. Welches sind die Wirkungen?

In drei Punkten ist er fruchtbar geworden. Zunächst geht auf dieses Theatergenie die gesamte Erneuerung des äußeren Theaters zurück. Wirklich sind jetzt, nach seiner Idee, »der Architekt, der Landschaftsmaler, der Tänzer« auf der modernsten Bühne, und grade, daß die Bayreuther Kulissen (soweit sie nicht erneuert wurden) schon um 1910 unsere Nerven beleidigen, ist ein Zeichen für diesen Wagner, der uns als erster mit solchen Dingen zu verwöhnen begann. Der Nachdruck, den er auf die gesamte Regie und Ausstattung gelegt, war, wenn nicht neu, so doch wieder neu in Deutschland. Dies im einzelnen zu verfolgen, ist hier nicht der Ort.

Auch der Tänzer, den Wagner vor zwei Menschenaltern für das Theater theoretisch gefordert, erlebt heut eine Wiedergeburt. Es ist wahr geworden, was er prophezeite: »Um ganz Künstler zu sein, hätten wir uns nun aus der Musik zur Gymnastik, das heißt zur wirklichen leiblich-sinnlichen Darstellungskunst, zu der Kunst, die das von uns Gewollte erst zu einem wirklich Gekonnten macht, zu wenden.« Und sogar dies: »Was fehlt dem modernen Ballettänzer zur Nacktheit als der Wille?«

Das zweite, größere ist die Erneuerung des Orchesters. Schon daß er es verdeckte, hat ein neues Verhältnis zwischen diesem und den Sängern geschaffen. Der Gedanke ist nicht von ihm: Goethe hat ihn achtzig, Florentiner Musiker haben ihn zweihundert Jahre vor Wagner ausgesprochen. Durchgeführt, mit jenem reformatorischen Eigensinn hat er ihn als erster.

Das einzige, worin Wagner in großem Stile Schule gemacht: die Orchestration zwingt jeden nachgeborenen Musiker. Niemand könnte sich dem entziehen. Wirklich ist das Orchester seit fünfzig Jahren geworden, was Wagner mit den schönen Worten verlangte: »Der Boden unendlichen allgemeinen Gefühls ,… Es löst den starren, unbeweglichen Boden der wirklichen Szene in eine flüssig-weiche, nachgiebige, eindruckempfängliche, ätherische Fläche, deren ungemessener Grund das Meer des Gefühles selbst ist. So gleicht das Orchester der Erde, die dem Anthäus, sobald er sie mit seinen Füßen berührte, unsterbliche Lebenskraft gab.«

Wagner hat im Orchester ganze Provinzen neu entdeckt.

Und doch: was fand er vor? Um es hier, wo nur noch ein paar Stichworte gegeben werden können, mit einem Wort zu sagen: Berlioz.

Wagner schrieb: »Jede Höhe und Tiefe der Fähigkeiten dieses Mechanismus hat Berlioz bis zur Entwicklung einer wahrhaft staunenswürdigen Kenntnis ausgeforscht, und wollen wir die Erfinder unserer heutigen industriellen Mechanik als Wohltäter der modernen Staatsmenschheit anerkennen, so müssen wir Berlioz als den wahren Heiland unserer absoluten Musikwelt feiern.« Erschöpft diese Bosheit, diese billig billigende Mißbilligung die Verdienste des Hector Berlioz? Dieser, der die neue Palette überhaupt erfunden, mag etwa zwanzig Farben haben, wenn Wagner vierundzwanzig hat. Aber hier wird ein Inhalt, meist geringereren Wertes als Wagners, durch eine Durchsichtigkeit der Klangfarbe gehoben, die Wagner mit seiner dickeren, kompakteren Instrumentation nur selten erreicht (vgl. etwa die Musik der Queen Mab in Berlioz' Romeo und Julia) Man versuche z. B. in dem vollendet instrumentierten Meistersinger-Vorspiel die Harfen herauszuhören, die in der Partitur stehen.. Oder man vergleiche in dieser Rücksicht eine der berühmtesten Stellen, das Finale der Götterdämmerung, mit der Klarheit von Berlioz' Requiem oder Tedeum, die doch auch in Tonmassen schwelgen.

Hier allein, im Orchester, liegt Wagners Bedeutung, in der Geschichte der Musik. Viele nennen dies nur ein Mittel und sehen seine Genialität in der Sprengung der Grenzen, die bisher die Musik beengten. Nur darf man nach einem halben Jahrhundert schon fragen: Cui bono? Was wurde durch die sogenannte »neue dramatische Musik« gewonnen, das nicht die völlig andere alte dramatische Musik des Figaro vorweg genommen hatte? Wagners Grundmaxime: die Musik müßte ancilla tragoediae werden, blieb unfruchtbar: beide, Musik und Drama, haben opponiert. Aber das Mittel, das er für diesen Gedanken entfesselte: jenes Orchester macht ihn unsterblich.

Das dritte, was er begründete, war eine neue Sängerschule. »Der Fehler liege darin, daß wir klassische Werke besitzen, für sie aber keinen klassischen Vortrag uns angeeignet haben.« Konservatorien waren seine Anfechtung. »Was konservieren wir denn eigentlich?« In Wagner mußte, wo nicht der Musiker, zumindest der Schauspieler von diesen Dingen sich gefesselt fühlen. Der erste war er nicht: Bach und Händel haben auf den deklamatorischen Akzent ihre Vokalstücke gebaut, und vollends Gluck ist in der Oper sogar theoretisch vorangegangen (vgl. Vorrede zur Alceste) Gluck wollte sogar, als er Klopstocks Hermannsschlacht zu komponieren beabsichtigte, neue Hörner erfinden. – Das ideale Gleichgewicht von Stimme und Orchester, um das sich Wagner schwer bemühte, Gluck hat es spielend vollendet, wie nie ein Musiker vor oder nach ihm..

Ganz zu Unrecht wurde Wagner als »Stimmtöter« verrufen, besonders weil die Sänger das Orchester »überschreien« müßten. Kein Musiker wird dies bestätigen. Vielmehr richtet sich bei Wagner mehr als bei irgendeinem das Orchester nach den Stimmitteln und läßt den Sänger immer dominieren. Scheint es einmal umgekehrt, so will der Musiker nicht, daß man die Stimme höre: etwa den Schrei, mit dem Elsa den Lohengrin begrüßt, der aber nicht zum Hören, sondern zum Sehen, das heißt für die Geste da ist. Alle Wagner-Partien nehmen die größte Rücksicht auch auf die Kapazität des Kehlkopfes. Als im Jahre 60 die Viardot-Garcia die ganz neue Isolde vom Blatt weg an Wagners Klavier sang, fragte sie: ob denn die Sänger in Deutschland nicht musikalisch wären, wenn sie behaupten, Wagner ist nicht zu singen.

Statt sie zu forcieren, wie viele Gegner behaupten, schult Wagner seine Stimmen. Anfangs hat er sich zuweilen vergriffen. Der Landgraf auf der Wartburg muß eine Höhe fast wie der Tenor und eine Tiefe wie der Basso profondo erreichen. Später verlangte er von jedem viel, aber nur, was er zu leisten vermochte, und hob die vielen Spezialisierungen der Italiener glücklich auf, die hohe Tenöre, tiefe Baritons, Kontra-Altisten mit Brustregister und dergleichen züchteten.

Dazu tritt als Errungenschaft dieses Unermüdlichen, daß er die Mitarbeiter zwang, gleich unermüdlich zu sein. Erst Wagner hat uns gewöhnt, von jedem Sänger oder Musiker das Höchste zu verlangen, und alle, die unter ihm spielten, bezeugen in Memoiren oder mündlich, daß er ein genialer Dirigent gewesen; wie er denn auch bedeutend über das Dirigieren geschrieben hat.


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