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I.
Für den Begriff, aus welchem Leibniz den strengern Begriff Apperzeption gebildet hat, für den Begriff, den die Franzosen und Engländer, mit ungleicher Aussprache, perception nennen (ital. percezione), haben wir Deutsche etwa seit der Mitte des 18. Jahrh. das uralte und sehr merkwürdige Wort Wahrnehmung eingeführt. Das deutsche Wort war sehr glücklich gewählt; wir werden erfahren, daß es schon in seiner ältern und ältesten Bedeutung ziemlich genau das ausdrückt, was die Psychologie unter Perzeption verstanden wissen will. Ich kann aber nicht umhin, gleich hier zu melden, daß recht berühmte Sprachforscher und Philosophen das deutsche Wort in seiner Herkunft arg mißverstanden haben. Es ist nicht gebildet aus wahr = verus, sondern aus einem alten Substantiv War (ich schreibe es zur Unterscheidung ohne Dehnungs-h, willkürlich genug, aber so schreiben noch Luther und Hans Sachs) ahd. wara, das auch in verwandten Sprachen (engl. aware) Aufmerksamkeit, Acht bedeutete; in unserer Sprache ist es noch in gewar erhalten, zwar fast ausschließlich in gewar werden, war außer in warnehmen noch selten genug in War haben (veraltet, davon vielleicht irrtümlich das norddeutsche Wort haben), War halten (im Sinne von Wacht halten: »ach freilich wird uns stets des Todes Netz umgeben, das noch viel schärfer War als eine Spinne hält«, aus einem geistl. Gedichte von 1686); wahrnehmen hat eine sehr reiche Geschichte, schwankt lange zwischen den Bedeutungen »auf etwas acht geben« und »etwas bemerken«, bis es im 18. Jahrh., jedenfalls schon bei Kant, aber noch nicht bei Adelung zur Übersetzung des Terminus percipere benützt wird. Aber Campe hat mit strafbarer Etymologie wahrnehmen definiert: »mit den Sinnen das, was von selbst schon in dieselben fällt und von denselben erkannt werden kann, gleichsam wahr d. h. als wirklich nehmen, als wirklich empfinden.« Mit scheinbarem Tiefsinn ist Hegel auf diese Etymologie hereingefallen: »während das bloß sinnliche Bewußtsein die Dinge uns weist, d. h. bloß in ihrer Unmittelbarkeit zeigt, erfaßt dagegen das Wahrnehmen den Zusammenhang der Dinge, tut dar, daß, wenn diese Umstände vorhanden sind, dieses darauf folgt, und beginnt so, die Dinge als wahr zu erweisen.« (Werke 7, 2. 262). Des gleichen Schnitzers hat sich auch der gute Krug, der tapfere kleine Gegner Hegels, schuldig gemacht: »wir sagen ... daß wir es wahr-nehmen, weil es sich uns unmittelbar darstellt als etwas Wahrhaftes oder Wirkliches.« Und den gleichen Schnitzer finde ich bei Wundt, der doch Philosoph und Sprachforscher in einer Person ist. Verdächtig war schon in seiner physiologischen Psychologie (Bd. II, S. 1) die Äußerung: »Bei dem Ausdruck Wahrnehmung haben wir die Auffassung des Gegenstandes nach seiner wirklichen Beschaffenheit im Auge.« Aber in seiner »Logik« (2. Aufl. I. 423) ist klipp und klar zu lesen: »Die Wahrnehmung ist, wie es der Name andeutet, das als wahr Angenommene.« Ich will nun vor allem zu zeigen suchen, daß der internationale Terminus Perception und der deutsche Terminus Wahrnehmung genau den gleichen Gegenstand bedeuten und daß man sich durch den Zufall, der zwei Worte zur Verfügung stellt, nicht verleiten lassen solle, das Eine vom Andern zu unterscheiden. Auch ich möchte an das Wort Wahrnehmung anknüpfen, nicht aber an den Bestandteil wahr sondern an nehmen. Ich kann es nur nicht belegen, daß dieses nehmen eine Übersetzung des in percipere enthaltenen capere ist; aber die Analogie spräche dafür, und weil mir in spätern Artikeln oft genug Zeit und Raum fehlen wird, solche Übersichten über ganze Wortfamilien zu geben, will ich hier einmal reichlichere Beispiele sammeln. Capere übersetzen wir mit: nehmen, fassen, greifen, fangen. Während nun in den romanischen Sprachen der tollste Bedeutungswandel stattgefunden hat, und so entlegene Begriffe wie: chétif (captivus, gefangen, elend; englisch: caitiff = Lump), catafalco (doch wahrscheinlich von catar, captare, schauen, und balko, Balken, Gerüst, also Schaugerüst, davon échafaud, Schafott usw.); chasse (von captiare, cacciare); caisse (von capsa, mit der ganzen Sippe: bis zu châssis, châton); acheter (aus accaptare) usw. kreuz und quer in der Wirklichkeitswelt umherführen, hat die wissenschaftliche Sprache der Deutschen eine ganze Menge genauer Lehnübersetzungen von Kompositionen mit capere (-cipere, frz. -cevoir) gebildet; freilich auch oft das romanische Wort daneben behalten, wie wir für auffassen, begreifen auch capieren sagen: acceptare usw. = emp fangen, auceps = Vogel fänger, concevoir = begreifen, aber conception auf einer ältern Sprachstufe = Emp fängnis, exceptio = Aus nahme, incipere = an fangen, praecipuus, vor nehmlich, recipere usw. = auf nehmen (receptio wurde mit Auf nahme übersetzt und hatte früher weite Verbreitung: Aufnahme des römischen Rechts, der Wissenschaften), suscipere = unter nehmen und übernehmen, occupare = er greifen, präokkupiert = vorein genommen. Zu dieser Gruppe gehören nun percipere, percevoir, (auch: Steuern einnehmen), to perceive, einnehmen, aufnehmen, wahrnehmen; appercipere, apercevoir (davon weiter gebildet aperçu), mit besonderer Aufmerksamkeit wahrnehmen. Mir ist es nun darum zu tun, daß in appercipere, in wahrnehmen, ein aktives Verbum steckt; nicht die Wahrheit ist das Wesentliche an der Wahrnehmung, sondern die Tätigkeit des Aufnehmens. Die Überzeugung, daß der Vorgang der Wahrnehmung aus zwei Teilen bestehe, einem passiven und einem aktiven, daß – wie ich es ausdrücken möchte – eine Wahrnehmung nicht zustande kommen kann, ohne daß zwei Veränderungen stattfinden, die eine am Objekt, die andere am Subjekt, diese Überzeugung ist ungefähr so alt wie die Psychologie. Wir müssen nur nicht, um diese Überzeugung noch älter zu datieren, die schlecht überlieferten und noch schlechter verstandenen psychologischen Erklärungen der alten vorpsychologischen griechischen Philosophen, wie es ja vorkommt, umdeuten wollen; die Ausflüsse (ἀπο ῤῥοα ι), mit deren Hilfe Empedokles das Eindringen in unsere Sinneswerkzeuge erklären wollte, die Bilderchen (ε ἰδωλα) des Demokritos, die sich von den Außendingen loslösen und in die Seele drängen, der Satz des Aristoteles, daß Gleiches nur von Gleichem wahrgenommen werde (Goethe: wär' nicht das Auge sonnenhaft usw.), all das kindische Zeug (Goethes Mystik in Ehren) war ja noch nicht Psychologie. Die Annahme einer Aktivität unserer Seele steht am Anfang der ernsthaften Seelenlehre. Augustinus lehrt schon, daß die Seele beim Wahrnehmen tätig sei: Campanella weiß gar schon, daß mit der Wahrnehmung ein Urteilsakt verbunden ist; Descartes gar hat das erkenntnistheoretische Problem begriffen, daß wir nur Bewegungen empfinden, wenn wir eine Fackel zu sehen, eine Glocke zu hören glauben, die Wirkungen von Bewegungen auf unsere Nerven und auf unser Gehirn, daß wir diese Empfindungen auf äußere Objekte als ihre Ursachen beziehen, daß also (was er freilich nicht ausdrücklich sagt) Wahrnehmung Verstandesarbeit sei. Daß eine Wahrnehmung, die den Alten so einfach ein Bildchen zu sein schien, eine unendlich zusammengesetzte Sache sei, das wurde seit Descartes immer deutlicher eingesehen oder wahrgenommen. Nur waren die Denker nicht einig darüber, welches von den vielen geistigen Vermögen die Wahrnehmung erst zur Wahrnehmung mache. Es konnte ganz allgemein der Verstand sein, wie es unter allen Männern aus der Zeit der Vernunftkritik Aenesidemus-Schulze, trotzdem er ein Gegner Kants war, der scharfsinnigste und der ebenbürtigste übrigens, am einfachsten ausgedrückt hat in seiner klaren, deutschen, undogmatischen Sprache: »Zum Anschauen und Wahrnehmen ist schon viel Mitwirksamkeit des Verstandes erforderlich.« Kant selbst, der da mit Recht Perzeption und Apperzeption zusammenwarf, will eine Erscheinung, wenn sie mit Bewußtsein verbunden ist, Wahrnehmung genannt wissen. Erasmus Darwin sieht in der Aufmerksamkeit das, was die idea erst zur perception macht. Andere haben wieder die Auffassung eines Mannigfaltigen unter der Form der Einheit zur Bedingung des Zustandekommens einer Wahrnehmung gemacht. Namentlich die Engländer hatten sich seit Locke bemüht, das Verhältnis zwischen sensation und perception klarzustellen; ihrer Weisheit letzter Schluß war wohl: daß der Unterschied sich nicht scharf bestimmen lasse, daß nur ein Gradunterschied vorhanden sei. Was doch wieder nicht ganz richtig ist. Hat man nämlich nur den Terminus im Sinn, abstrakt, dann ist die Empfindung oder der Sinneseindruck wirklich etwas anderes als die bewußte Wahrnehmung, die den Sinneseindruck auf seine Ursache projiziert. Nur daß im wirklichen Seelenleben ein Sinneseindruck ohne Wahrnehmung nicht beobachtet werden kann. Wie der Teilnehmer am Telephonnetz für mich nicht existiert, solange er mich nicht durch das verabredete Zeichen gerufen oder geweckt hat, ebenso existiert die Wirkung der Außenwelt auf meine Sinne nicht, solange mein Bewußtsein nicht, durch Überschreiten der Reizschwelle, geweckt worden ist. Ich will auf die seltenen Fälle nicht eingehen, wo denn doch Erinnerung ohne Wahrnehmung möglich ist. Ich will hier nur festhalten, daß die seelische Tätigkeit, die Reaktion gegen die physische Aktion der Außenwelt, am häufigsten und besten (neuerdings wieder von Spencer und von Ziehen) als Aufmerksamkeit bestimmt worden ist. Verstand, Bewußtsein, Form der Einheit, und was sonst herangezogen worden ist, ist für uns als eine Gedächtnisarbeit der Aufmerksamkeit nahe verwandt. Ich kann für die vielseitigen Beziehungen zwischen Aufmerksamkeit und Gedächtnis hier besonders auf ein Kapitel meiner Kr. d. Spr. (I. 2 S. 547-570) verweisen. »Aufmerksamkeit ist die Anpassungsarbeit des Gedächtnisses«. Alles Wahrnehmen ist Bereicherung unsres Gedächtnisses, ist niemals ohne das Gefühl der Gedächtnisarbeit, niemals ohne das Gefühl der Aufmerksamkeit. Wir merken uns etwas, nachdem wir darauf aufmerksam geworden sind. Die alten Deutschen waren also gar nicht so dumm, als sie percipere mit war nehmen, gewar werden, aufmerksam werden übersetzten.
II.
Die Wahrnehmung ist begrifflich von dem einfachen Sinneseindruck zu unterscheiden, ist aber in der psychologischen Wirklichkeitswelt nur dem Grade nach von ihm verschieden. Die Wahrnehmung oder Perzeption ist vom bloßen Eindrucke nur zu unterscheiden durch das Gefühl der Aufmerksamkeit, durch diese Arbeitsleistung des Gedächtnisses. Weiter habe ich nun zu untersuchen, wodurch sich die sogenannte Apperzeption von der Perzeption unterscheide. Das, was die wissenschaftliche Psychologie so nennt. Denn: in der französischen Gemeinsprache bedeutet apercevoir, für das Gebiet der Gesichtseindrücke, gerade den geringeren Grad von Aufmerksamkeit (vgl. Kr. d. Spr. III, S. 335); bei Sachs-Villatte finde ich die Notiz: »voir«, c'est recevoir d'une manière distincte les images des objets; »apercevoir«, c'est voir d'une manière imparfaite, rapide, confuse; »remarquer«, c'est voir avec attention. Da ist es denn erwähnenswert, und dennoch meines Wissens bisher nicht erwähnt worden, daß der Mann, welcher den Terminus apperception in die Psychologie einführte, der deutsche Philosoph war, der in französischer Sprache schrieb: Leibniz. Er beherrschte die französische Sprache genug, um das verbe apercevoir nach dem Sprachgebrauche anzuwenden, aber er war Gelehrter und Lateiner genug, um besser als die Franzosen zu wissen, daß das Wort von ad-percipere herkam. Der französischen Gemeinsprache ist die Herkunft des Wortes so fremd geworden, daß die Konstruktion »s'apercevoir de« möglich und am Ende Regel wurde. Auch die Schreibung mit einem einzigen p nach dem Wörterbuch der Akademie half das Verständnis verwischen; Littré macht auf die Inkonsequenz der Akademie aufmerksam, apercevoir, apaiser, aber appauvrir zu schreiben. Er konnte also einen Sinn heraushören und darum hineinlegen, der dem französischen Sprachgebrauche widersprach. Ad-percipere fügte dem percipere etwas hinzu, also mußte apperception mehr sein als bloße perception. So eignete sich der neu gebildete Terminus, den ein geborener Franzose kaum erfunden hätte, zur Unterscheidung der höchsten Rangstufe unter den Monaden von den niedrigeren Monaden, die nur einer perception fähig sind. Die erstklassigen Monaden sind die Geister, die animae rationales, die zu dem Sinneseindrucke und seiner Perzeption noch die Apperzeption hinzufügen und so zum Selbstbewußtsein gelangen. Es läßt sich nicht leugnen, daß Leibniz eine klare Unterscheidung zwischen Perzeption und Apperzeption nicht durchgeführt hat, so wenig wie eine zwischen den Monaden zweiter und dritter Rangklasse. Der scharfsinnige Anreger, der in so vielen Disziplinen die Arbeiten seiner nächsten Vorgänger kritisiert und überboten hat, hatte auch in diesem Falle das Problem des Selbstbewußtseins, das bei Locke langsam heraufzudämmern begann, klar gefaßt und dem Probleme seine richtige Stellung angewiesen: in der Frage nach der Einheit oder der Vereinigung unserer Wahrnehmungen. Wir werden gleich sehen, wie Herbart diese Bedeutung der Apperzeption erfaßt hat. Kant erwähne ich nur, weil ich bestimmt glaube, daß er mit seinem schwierigen Begriff der transzendentalen Apperzeption gerade an Leibniz angeknüpft hat. Die empirische Apperzeption interessierte ihn nicht; aber das Ichgefühl, die Bedingung der Einheit alles Denkens und Vorstellens, die Einheit des Selbstbewußtseins, das sollte durch die transzendentale oder erkenntnistheoretische Apperzeption erklärt werden. Nach Kants Sprachgebrauch sagt es ein und dasselbe: »die Einheit des Selbstbewußtseins ist transzendental« und »aus der Einheit des Selbstbewußtseins ist Erkenntnis a priori möglich«. Ich habe (Kr. d. Spr. III, S. 204 f. u. 339 f.) den Versuch gemacht, die alten Termini a priori und a posteriori umzudenken und in jedem Wahrnehmungsakte, in jeder Apperzeption die aktive Rolle des a priori der Sprache zuzuweisen. Ich weiß, daß ich dabei von Steinthal, dem Schüler Herbarts, abhängig war. Herbart verdient Dank dafür, daß wir den Vorgang der Apperzeption besser begreifen gelernt haben. Die älteren Vorstellungsmassen unseres Bewußtseins lassen neue Vorstellungen mit sich verschmelzen. Von seinem Schwellenbilde ausgehend, sagt er: »Anstatt daß die apperzipierten Vorstellungen sich nach ihren eigenen Gesetzen zu heben und zu senken im Begriff sind, werden sie in ihren Bewegungen durch die mächtigeren Massen unterbrochen, welche das ihnen Entgegengesetzte zurück treiben, obschon es steigen möchte, und das ihnen Gleichartige, wenngleich es sinken sollte, anhalten und mit sich verschmelzen.« (Lehrb. d. Psych. 32.) Apperzeption ist eine Tätigkeit, der auf deutsch der Name Zueignung gegeben wird. Fast immer sind es die älteren Vorstellungsmassen, die sich die neue Vorstellung zueignen. Die alten Vorstellungsmassen sind für die Tätigkeit der Apperzeption als Kategorien der Sprache vorgebildet, als allgemeine Begriffe. Herbart interessierte sich wieder für die empirische Apperzeption. An der transzendentalen Apperzeption Kants ging er so gleichgültig vorüber, daß er sich über die Frage der Einheit des Selbstbewußtseins nicht deutlich aussprach. Der Vorgang der Apperzeption scheint etwas wie eine Selbstbewegung der Vorstellungen zu sein (nicht zu verwechseln mit Hegels Selbstbewegung der Begriffe), der die sogenannte Seele interessiert, aber unfrei zusieht. Herbarts Gefahr, daß er bei seinem Schwellenbegriff das Bewußtsein und überhaupt alle psychischen Vorgänge und Empfindungen (also: verbale und adjektivische Vorstellungen) zu substantivieren und dadurch zu vergröbern geneigt war, kann uns nicht mehr schrecken; die Selbstbewegung der Vorstellungen führte ja doch ein wenig über Kants Psychologie heraus. Da habe ich aber freilich schon die Lehren im Sinne, zu denen Steinthal (Lazarus kopierte, wie so häufig, nur die Sätze seines Schwagers und verzierte sie mit Filigranarbeit) die Gedanken Herbarts erweitert hat. Ihm ist Apperzeption ein weit umfassender Begriff: die Summe aller Aneignungen, durch welche das Individuum das Weltbild in sich aufnimmt. Die Aufnahme einer neuen Vorstellung durch eine ältere Vorstellungsmasse. Da sonach zu jeder Erkenntnis oder ihrer Apperzeption eine ältere Vorstellungsmasse erfordert wird, so ist es klar, daß Erkenntnis nicht möglich ist ohne vorausgegangene Erkenntnis. Der Anfang der Kulturgeschichte, ja der Vernunft überhaupt wird so in ähnlicher Weise zurückgeschoben, wie etwa der Anfang des organischen Lebens auf Erden. Steinthal hätte sagen können: »omnis apperceptio ex apperceptione« nach dem Muster von: »omnis cellula ex cellula«. Bei aller Hochachtung für die Geistesarbeit Steinthals kann ich ein sonderbares Kleben am Worte bei ihm nicht übersehen. So gelangt er zum Begriffe des Selbstbewußtseins durch die Fiktion, daß eine Apperzeption erst durch Apperzeption bewußt werde. Was der Teufel verstehen mag. Sodann sieht er zwar sehr gut ein, daß es eine Wahrnehmung ohne Apperzeption nicht gebe; anstatt nun aber den Begriff der simpeln Perzeption aus dem Wortschatze der Psychologie hinauszuweisen, füllt er den alten Schlauch mit einem neuen Inhalte und nennt gegen jeden Sprachgebrauch das bewußte geistige Erfassen: Perzeption. Dagegen muß anerkannt werden, daß Steinthal in diesen Untersuchungen für die Eliminierung des Seelenbegriffs sehr viel getan hat. Auf demselben Boden wie Herbart steht auch, trotzdem er es nicht Wort haben will, Wundt. Als Voluntarist freilich schreibt er dem Willen beim Vorgang der Apperzeption eine höchst aktive Rolle zu In einem sonst recht guten Aufsatze von Otto Staude findet sich ein Satz, den ich höher hängen möchte. Es ist von einer Richtung die Rede, »welche unabhängig voneinander Kant und ... Wundt eingeschlagen haben«. Daß Kant von Wundt unabhängig war, ist wahrscheinlich; daß Wundt von Kant unabhängig sei, ist kein Lob. Und der Aufsatz muß doch wohl von Wundt gebilligt worden sein, da er in seine »Philosophischen Studien« (1, 149) aufgenommen worden ist. und lehrt so etwas wie Einheit der Seele. Das ist aber nur Aufputz. Er ist Herbartianer und hat den Vorzug, Herbarts Mathematik doch oft durch gute Beobachtungen ersetzen zu können. Sehr gut ist Wundts optisches Bild: der Eintritt einer Vorstellung in das Blickfeld sei der Perzeption zu vergleichen, der Eintritt in den Blickpunkt, in den Fleck des deutlichsten Sehens, der Apperzeption. Die Versuche, den persönlichen Fehler beim Apperzipieren (was die Astronomen die physiologische Zeit genannt haben) durch Experimente über die Apperzeptionsdauer genauer zu bestimmen, waren verdienstvoll, wenn auch die ganze physiologische Psychologie nicht halten konnte, was sie versprach.
III.
Wundt hat die Apperzeption also die Erfassung einer Vorstellung durch die Aufmerksamkeit genannt, und auf derselben Seite den Eintritt einer Vorstellung in den Blickpunkt des inneren Blickfeldes (Physiol. Psychol. 3 II, 236). Das ist fast mehr als ein bildlicher Ausdruck, es ist ein Beispiel. Und ich erinnere daran, daß die Einstellung auf den Fleck des deutlichsten Sehens nicht ohne Muskelarbeit vor sich gehen kann. Ich bilde mir nicht ein, das Rätsel der Apperzeption gelöst zu haben, aber ich glaube doch, einige psychologische Begriffe einander anzunähern, wenn ich jetzt die Apperzeption, die ein Gefühl ist, auf das Gefühl der geleisteten Muskelarbeit zurückzuführen suche. Wir haben für alle Sinneseindrücke verschiedene Sprachbezeichnungen, je nachdem der Eindruck mehr passiv ist oder mehr mit aktiver Aufmerksamkeit verbunden. Die verschiedenen Worte sind in der Gemeinsprache nicht gleichmäßig scharf geschieden. Man wird mir aber gleich zugeben müssen, daß die aufmerksamere Wahrnehmung jedesmal durch ein Wort bezeichnet wird, das eine Muskeltätigkeit mit ausdrückt. Bei den höheren Sinnen gerade ist die Sprache freilich nicht so malend; wir haben für die Muskelbewegungen des Schützenauges beim Zielen kein anderes zusammenfassendes Verbum als eben das Zweckverbum zielen; wir haben keinen besonderen Ausdruck dafür, wie der Schütze das unbenutzte Auge schließt, das benützte abschattet und Augapfel und (unbewußt) auch die Linse in die richtige Raumstellung bringt. Für aufmerksames Hören haben wir nur horchen, mundartlich aber doch spannen; unsere Physiologen wissen immer noch nichts von aktiven Bewegungen im inneren Gehörorgan; aber wir wissen von vielen Tieren, daß sie das äußere Gehörorgan durch Muskelbewegungen ( spitzen) verbessern; und auch der Mensch verbessert seine Ohrmuschel grob durch Anfügen der Handwölbung und fein durch eben das, was man mundartlich spannen nennt. Sehr malend sind oft die Worte der niederen Sinne. Wir schmecken die Nahrungsmittel, ohne uns gewöhnlich der Muskelbewegungen bewußt zu werden; beim aufmerksamen Schmecken, Kosten, Gustieren setzen wir aber Zunge und Lippen bewußt in Bewegung, schmatzen wir. Wir riechen (schmecken) angenehme und unangenehme Gerüche passiv, sind wir aber aufmerksam geworden, so schnobern und wittern wir, wenn auch nicht mit so lebhaften Muskelbewegungen wie der Hund oder das Pferd. Wir fühlen passiv die Oberfläche eines Dinges, bei erhöhter Aufmerksamkeit tasten wir sie ab. Dieser Umstand allein könnte erklären, warum Apperzeption so anstrengend, so ermüdend ist. Ein stundenlanger Spaziergang, bei welchem wir unaufhörlich sehen, tut den Augen wohl; ein ebenso langer Gang durch eine Galerie erschöpft aufs äußerste, weil wir jedes Bild und jedes mit einer anderen Einstellung der Augen apperzipieren müssen. Der unbewußte Gebrauch unserer Sinnesorgane d. h. die Perzeption mit geringer Aufmerksamkeit kann schon darum nicht ermüden, weil nur die eingeübtesten Funktionen der Organe wiederholt werden, weil man nichts Neues wahrzunehmen hat. Das Neue allein erfordert Arbeit, Apperzeption. Nun habe ich (Kr. d. Spr. I 2 S. 466 u. 472) schon darauf hingewiesen, daß das Bewußtsein, nur von einem anderen Gesichtspunkte, wieder das Gedächtnis ist, daß Gedächtnis aktiv ist, eine Arbeit, daß jede Erinnerung eine Aktion ist. Und da scheinen sich mir die Begriffe so leicht und wie von selbst aneinanderzufügen, daß ich fast an den Wert dieser Begriffe oder Worte glauben könnte. Herbarts Lehre, daß die alten Vorstellungsmassen sich die neue Vorstellung durch die Arbeit der Apperzeption aneignen, wird unversehens zu einer Beschreibung oder, wenn man will, zu einer Erklärung des Gedächtnisses. Jeder einzelne Gedächtnisakt ist subjektiv genommen Aufmerksamkeit, objektiv eine Apperzeption. Die ganze geistige Lebensarbeit des Individuums, sein geistiges Wachstum ist Gedächtnisarbeit. Das Gedächtnis kann wie ein Sinnesorgan, fast unbewußt, seine Kenntnisse einüben durch die identifizierende Apperzeption (Wiedererkennen), durch die subsumierende Apperzeption (dieser Baum ist eine Eiche, beim Bauer auch nur ein Wiedererkennen, auf der Schule schon eine Anstrengung); es kann aber auch wie ein Sinnesorgan durch Anstrengung des Gehirns, dessen physiologische Bewegungen wir nur nicht kennen, Neues aufnehmen, sich bewußt üben, sich stärken, mit gespannter Aufmerksamkeit die Vorstellungen oder gar die Begriffe auf den Fleck des deutlichsten inneren Sehens bringen. Auf die Vermutung Wundts, daß die Stirnregion des Großhirns das Apperzeptionszentrum sein könnte, will ich wirklich nicht eingehen; denn erstens haben wir eben erfahren, daß die Aufmerksamkeit oder Apperzeption sich an Muskelbewegungen verrät (oder an Bewegungsgefühlen wie wir gleich sehen werden), also doch wohl mit dem motorischen Zentrum mehr zu tun haben müßte; zweitens aber sollten wir nicht einen Augenblick vergessen, daß nur unsere gespannte Aufmerksamkeit die Apperzeption als ein Zwischenglied des Denkprozesses künstlich ausgelöst und präpariert hat, daß es einen selbständigen und runden Vorgang Apperzeption nicht gibt und daß man für so etwas ein Zentrum nicht zu suchen braucht. Die Vorstellung nun, daß die Apperzeption, von der wir so wenig wissen, doch gewiß ein Gedächtnisakt ist, also eine Arbeitsleistung, eine von der Aufmerksamkeit motivierte Arbeit, – diese Vorstellung führt uns noch weiter, wenn wir uns wieder an den Zusammenhang der beiden Begriffe Gedächtnis und Sprache erinnern. Sprache ist das Gedächtnis der Menschheit, Volkssprache ist dazu das Gedächtnis eines Volkes, Individualsprache ist dazu das Gedächtnis des Einzelnen. Wenn wir sprechen, so machen wir Bewegungen. Aber auch wenn wir hören, d. h. ein Wort verstehen, es apperzipieren, so ist das Wesentliche nicht die Erinnerung an einen Schall, sondern die Erinnerung an die Bewegung unserer Sprachorgane. (Kr. d. Sp. I 2 512 ff.). Ich gehe in eifrigem Gespräch einen Bergabhang hinunter. Eine Krähe krächzt. Vielleicht überschreitet der Ton, weil ich gerade intensiv an etwas anderes denke, gar nicht die Schwelle meines Bewußtseins. Vielleicht höre ich den Ton ohne ihn zu beachten, zu bemerken. Vielleicht bemerke ich ihn, ohne ihn auch nur für die Dauer von wenigen Sekunden zu apperzipieren, d. h. ohne ihn im Gedächtnisse zu verarbeiten. Will ich ihn im Gedächtnisse verarbeiten, ihn aufnehmen und geistig verdauen, ihn apperzipieren, so gibt es dafür nur ein einziges Mittel: ich muß still oder hörbar denken oder sprechen, muß »Krähe« denken oder sprechen. Apperzipieren heißt: einen Sinneseindruck zu Worte kommen lassen; und weil Gedächtnis und Sprache ja ein und dasselbe ist, so habe ich damit nichts anderes gesagt, als daß die Apperzeption ein Gedächtnisakt ist. Nur daß ich meine Aufmerksamkeit auf den Begriff Apperzeption gelenkt und ein Wort dafür gefunden habe.