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Idealmenschen

Jede Zeit macht plötzlich die Entdeckung, daß sie eine Übergangszeit sei und bildet sich noch etwas darauf ein. Jede Zeit hat noch junge Leute gehabt, die sich stürmisch oder melancholisch als Übergangsmenschen fühlten zwischen dem Jetzt und der Zukunft. Was jetzt ist, das heißt modern, neuerdings die Moderne, ganz schlecht nach die Antike gebildet. Was noch nicht ist, worauf die Sehnsucht geht, heißt seit etwa 150 Jahren das Ideal. Er, der Herrlichste von allen, ist ihr Ideal. Sie, die Herrlichste von allen, wäre sein Ideal. Bei Kant und Lessing spielt das Geschlechtliche wenig mit, um so stärker schon das Individuelle. Kant sagt, dem Individualismus günstig: »Aber noch weiter als die Idee scheint dasjenige von der objektiven Realität entfernt zu sein, was ich das Ideal nenne, und worunter ich die Idee nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i. als ein einzelnes durch die Idee allein bestimmbares oder gar bestimmtes Ding verstehe« (Kr. d. r. V. 596). Und Lessing dem Individualismus ungünstig: »(das Porträt) ist das Ideal eines gewissen Menschen, nicht das Ideal eines Menschen überhaupt.« Die Sehnsucht und der Hinweis auf eine Zukunft, der streng individualistische Zug und der Zusammenhang mit der Geschlechtsliebe vertragen sich im Begriffe Ideal als der Vorstellung von einem Wesen, das einer Idee adäquat ist, ganz gut; man braucht nur Schopenhauers scharfe, auch ohne sein System mögliche Metaphysik der Geschlechtsliebe daneben zu halten. Schopenhauers nur scheinbar zynische, eigentlich fast verstiegene Definition der Liebe erklärt den tiefen Ernst, mit dem der Endzweck aller Liebeshändel verfolgt wird, daraus, daß die sämtlichen Liebeshändel der gegenwärtigen Generation zusammengenommen die Zusammensetzung der nächsten Generation entscheiden. Alle Verliebtheit, wie ästhetisch sie sich auch gebärden mag, ist individualisierter Geschlechtstrieb; und weil Schopenhauer in besonders feierlichen Momenten sich lateinisch auszudrücken liebt, 100 Jahre nach Thomasius, sagt er: die Liebe ist meditatio, compositionis generationis futurae, e qua iterum pendent innumerae generationes. Es trifft sich ganz gut, daß im Liebesgewoisel der oder die Liebende das andere zu seiner Göttin oder zu seinem Gotte zu machen liebt. Schon Feuerbach, der unter den Christen zuerst klar und grob den Menschen zum Schöpfer und Gott zum Geschöpf gemacht hat, meinte (Wesen des Christentums): »in Gott mache ich eben mein Futurum zu meinem Präsens«. Gott ist der alte Name für das Ideal. »Wie einer ist, so ist sein Gott.« Aber: wie das Ideal einer Generation ist, so will diese Generation nicht nur sich und die anderen Menschen, die sie lieb hat, sondern so möchte sie sie auch zeugen. Je nach der Mode des Ideals hat zu einer bestimmten Zeit der Ästhet oder der Athlet, der Tatenmensch oder der Künstler, der Blutmensch oder der Heilige, der Einsiedler oder der petit-maître besonders »Glück bei Frauen«, legitim oder illegitim. Und so wäre es wahrhaftig möglich, daß die compositio generationis futurae von der Mode des Männerideals der Frauen und ähnlich von der Mode des Frauenideals der Männer stark beeinflußt würde, hätte die Natur, die doch wohl keine Mode und kein Ideal kennt, nicht einen Riegel vorgeschoben. Pater semper incertus; so viel wir aber davon wissen, sind die legitimen und illegitimen Kinder von einseitig großen Menschen nicht immer große Menschen gewesen. Les dés de la nature sont pipés, hat Abbé Galiani gesagt; die Natur foppt die Menschen auch beim Liebesgefühl, was aber die Brauchbarkeit von Schopenhauers Definition nicht ganz ausschließt. Das Ideal hat natürlich im Laufe der Geschichte gewechselt, wenn auch nicht ganz so schnell wie die Mode in den Tagen, die wir gerade jetzt die Moderne nennen. Bei den Griechen schwebte scheinbar die Vergangenheit der Zukunft oder der Sehnsucht als Ideal vor: der Heros. Der Heros war noch bei Homeros der tapfere, freie Mann; aber schon damals wurden die Kämpfer der Vorzeit, das Geschlecht halbgöttlicher Menschen gern Heroen genannt, anfangs ohne mythologischen Gedanken, bis dann zuerst Herakles offiziell eine Zwischenstufe zwischen Gott und Mensch einnahm und ἡρως zum terminus technicus für einen Halbgott wurde. Da diese Heroen aus der Geschlechtsvermischung von Göttern und Menschen hervorgingen, ist in der Vorstellung vom Heros die Beziehung zur Geschlechtsliebe gewahrt. Die Wortgeschichte im Griechischen geht dann ins Mythologische; bei den Römern heißt aber heros schon ein außerordentlicher Mensch, ein großer Mann; Cicero spricht von Brutus und Cassius als von heroibus nostris. Im Sinne eines großen Mannes hat sich hero im Englischen erhalten, auch in zahlreichen Zusammensetzungen, in der Gemeinsprache; Nelson heißt Hero of the Nile; unsere Redensart, daß niemand vor seinem Kammerdiener ein großer Mann sei (aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., denn schon König Antigonos von Makedonien sagte, als man ihn einen Gott nannte, davon wüßte sein Kammerdiener nichts, wörtlicher sein Nachttopfträger, λασανοφορος), heißt auf Englisch: No one is a hero to his valet; ähnlich im Französischen. Zu beachten ist, daß kurz bevor Carlyle hero-worship von der Welt verlangte und durch seine Schriften förderte, der genialische Byron, zornig über die Thronentsagung Napoleons, sein Gedicht einleitete mit dem Sehnsuchtsrufe: I want a hero, ich möchte einen Helden. Die Griechen hatten also an ihren Heroen übermenschliche Ideale. Alexander berauschte sich an den Halbgöttern der Ilias, und griechische Weiber mögen davon geträumt haben, wie Semele von einem Gotte vergewaltigt oder verführt, mit einem Halbgotte geschwängert zu werden. Dem steht die Anschauung gegenüber, daß das Menschenideal der klassischen Zeit von Athen in der Kalokagathie bestand; die καλοκἀγαϑοι waren in Athen nach der Etymologie die Schönen und Guten, nach dem Sprachgebrauch zunächst die ordentlichen Menschen, auf die der Staat und der Freund sich verlassen konnte, dann die Optimaten, die Leute von anständiger Bildung, die galantuomini, die gentlemen, alles im Gegensatze zum Pöbel. Liest man Wielands Übersetzungen oder seine Griechenromane, so ist das griechische Ideal philisterhafte Kalokagathie; liest man die Dichter der Geniezeit oder die neuesten Bearbeitungen griechischer Dramen, so ist das Griechenideal heroische Hybris. In Wirklichkeit wird es darauf hinauslaufen, was ich nicht oft genug wiederholen kann, daß wir nicht einmal von diesen bekannten Dingen etwas Rechtes wissen, daß auch die historischen Ideale ihre eigene postume Geschichte haben, daß verschiedene Zeiten und verschiedene Individuen das historische Ideal der Griechen so gefaßt und nachgeahmt haben, wie sie es nach ihren Kenntnissen und nach ihren Wünschen verstehen konnten und mußten. Für unser historisches Interesse wurde das heroische Ideal der Antike vom christlichen Ideal abgelöst und hat ungefähr tausend Jahre lang die Völker des Abendlandes beherrscht. Das kann man so sagen und hat es unzähligemal wiederholt. Gemeinsam wäre da dem griechischen und dem christlichen Geiste, daß unter den Tugenden des Ideals Weisheit oder Erkenntnis nicht aufgezählt wird. Der Hauptunterschied wäre, daß die Griechen Ästhetik und Ethik verlangten (καλοκἀγαϑος), daß die Christen die Ästhetik fortließen, die Schönheit, die Kunst, die Freude, oder wie man die Beziehung auf die Sinnlichkeit oder das Diesseits nennen will, daß die Christen sich auf die Moral beschränkten, und zwar auf eine übersinnliche. Denn die Moral der Griechen in der guten Zeit war eine tapfere oder doch schlagkräftige Herrenmoral, die Moral der Christen wäre im Gegensatz dazu eine demütige Sklavenmoral gewesen, eine Schlägedulderin, die den anderen Backen hinhält nach den Worten der Schrift. Zu welcher Lebensführung von diesen beiden die intimere Tapferkeit gehört, zum Heros oder zum Märtyrer, das bleibe unerörtert, weil die Wirklichkeit des Mittelalters wieder nicht so schablonenhaft war, wie historische Darstellung wohl sein muß. Wieder war der Gott das Ideal, sogar der Gott des Dogmas, der aber in der Phantasie seiner besten Nacheiferer Gottmensch war, also wieder Halbgott. Wohl war am Ausgang dieses Mittelalters das weitaus verbreitetste Literatenideal die Imitatio Jesu Christi, so wie das literarische Ideal der Antike, auf das sich selbst Philosophen beriefen, das Heroenbuch, die Ilias, gewesen war. So wie aber schon das Altertum die ganz ungriechische, ganz christliche Verzweiflung an der Kalokagathie der Menschennatur kannte, so wie Diogenes bei Tage eine Laterne anzündete, einen Menschen zu suchen und natürlich nicht zu finden, so herrscht umgekehrt die christliche, die antigriechische Sklavenmoral, die Demut und Ergebenheit, mehr in der offiziellen Lehre und bei den kleinen Leuten der Christenheit, während die erfolgreichsten Imitatoren Jesu Christi und der Heiligen ganz herrisch und frei in Jesus und seinen Heiligen doch wieder heroische Ideale erblickten, nach dem Bilde ihres eigensüchtigen Herzens; es waren Individualisten höchster Art, denen das Gefühl nicht fremd war, Gott zu sein. Weil sie glaubten, glaubten sie Wunder zu tun oder zu erfahren. Als Nietzsche in gottloser Zeit die gleiche Stufe erreicht hatte, schrieb er dann das gottlose Wort, das aber im allerletzten Grunde dem gleichen Bewußtsein entspringt: »Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich's aus, kein Gott zu sein.« Ein wirklicher Heiliger selbst, wie Franz von Assisi, konnte so eine Organisation veranlassen, die bis heute nicht ganz aufgehört hat, die Herrenmoral der herrschsüchtigen Kirche zu unterstützen. Und durch die tausend Jahre der eigentlich christlichen Zeit, von der Erfindung der christlichen Staatsreligion bis zur Renaissance, erbt sich leise bei den besten Christen eine Gesinnung weiter von Geist zu Geist: die Mystik. Die christlich ist nur in ihrer Weltflucht, unchristlich und herrisch aber noch über das Griechentum hinaus in der neuen, wilden, inbrünstigen Kraft der Welterkenntnis, die sie unerhört verlangt und übt. Die Mystiker wissen nichts von geistiger Demut; ohne Größenwahn sind sie Halbgötter, sind sie eins mit Gott. Des Franciscus fast blasphemische Identität mit Jesus und sein kosmisches Verhältnis zum Bruder sol und zur Schwester luna, wie Nietzsches schon kranke Sehnsucht, Gott zu sein, findet sich am hübschesten ausgesprochen in den gar nicht größenwahnsinnigen, fast behaglich selbstverständlichen Versen von Angelus Silesius:

»Mein höchster Adel ist, daß ich noch auf der Erden
Ein König, Kaiser, Gott, und was ich will, kann werden.«

Und:

»Ich selbst muß Sonne sein, ich muß mit meinen Strahlen
Das farbenlose Meer der ganzen Gottheit malen.«

Außer in der Menschennatur, die man dafür gebrechlich oder gesund nennen mag, liegt der Grund für diese Inkonsequenz der christlichen Zeit in der Geschichte der Christenheit selbst. Über die Armen und Elenden der antiken Welt, über die Sklaven und die verzweifelnden Römer war die Sklavenmoral und die Hingabe an den Gekreuzigten wirklich als eine seelische Wiedergeburt gekommen, nach den Worten des Evangeliums. Nicht so zu den Barbaren, die etwas weiter ab vom Mittelmeer wohnten. Zu den Germanen und Slawen kam das Christentum gleich als die höhere Kultur, mindestens in Verbindung mit der höheren Kultur, in der Sprache der höheren Kultur. Tausend Jahre brauchte die Scholastik, das eigentlich christliche Ideal begrifflich, verstandesgemäß, man könnte fast sagen aufklärerisch für die Barbarensprachen zu erschließen. Und als die Scholastik mit dieser fürchterlichen Arbeit eben fertig zu werden schien, waren die Aristokraten unter den neuen Völkern auch mit dem Christentum fertig geworden und mit seinem asketischen Ideal. Die Renaissance, der Humanismus, die Aufklärung oder wie man das neue Ideal der letzten fünf Jahrhunderte nennen will, setzte ein. Die beiden ersten Bezeichnungen sind charakteristisch. Die Humanisten verzichteten auf das Jenseits, auf den Gott und hielten sich an das Diesseits, den homo. Sie machten plötzlich die Entdeckung, daß nicht die christelnde Antike, sondern die heidnische sich besser zur Lehrerin eigne. Was die heidnischen Dichter und Philosophen vor dem Verderb durch das Christentum gelehrt hatten, wurde jetzt der Untergrund des Bildungsideals: les humanités, bei uns humaniora. Man kann sich den schwer zurückgehaltenen Haß der Humanisten gegen das Christentum und seine Symbole kaum stark genug vorstellen. In Religion, Staat und Sitte kam die imitatio der Heiden auf, ein bewußter Protest gegen das verhaßte Kreuz. Nur etwa in Goethe äußert sich viel später noch einmal dieser humanistische Zorn. In Italien, der natürlichen Heimat der neuen Bewegung, entdeckte man, daß man nicht von den Juden abstammte, sondern von den Römern. Der hl. Ambrosius, selbst ein Römer, hatte einst, um die Tapferkeit der Vorfahren zu rühmen, Josua und David maiores nostri genannt; jetzt besann man sich dort auf seine Herkunft, und Cola Rienzi, der Freund des ersten Humanisten, der Freund Petrarcas, sollte nur so, von einem Tage auf den andern, die römische Republik wiederherstellen. Selbst die deutschen Humanisten imitierten römische Abkunft und übersetzten ihre Barbarennamen ins Lateinische, womöglich ins Griechische. Luthers Reformation war in dieser Bewegung schon ein Rückschritt. Sein Los von Rom war theologischer Kleinkram, allerdings eine nationale Tat gegenüber dem Schrei des internationalen Humanismus: Los von Christus. Ich kann es nicht belegen, aber ich glaube bestimmt, daß das Schlagwort der Zeit eine parodistische, höhnische Lehnübersetzung des evangelischen Begriffs der Wiedergeburt war: renaissance, rinascimento. Sollten die alten Christen nach ihrer sündigen Geburt im Fleische wiedergeboren werden im Geiste, so stellte man jetzt die entgegengesetzte Forderung: die Menschheit, die man jetzt allgemein humanitas nannte, sollte nicht mehr übersinnlich verkrüppeln, sondern im Fleische wiedergeboren werden, sollte in die Schule gehen der alten heidnischen Meister der Lebensfreude. Auch das Menschenideal der Renaissance hat in seiner postumen Geschichte ein Auf- und Abschwanken kennen gelernt. Seit einigen Jahrzehnten sind wir gewohnt, unter Renaissancemenschen das zu verstehen, was die geistige Mode unserer Jugend als neuestes Ideal aufgestellt hat: Kraftmenschen, etwa auch Blutmenschen, die sich moralfrei ausleben und austoben, starke Individualisten. Vor hundert Jahren dachte man bei Renaissance mehr an die philologische Ausbeutung der Antike, an den Aufschwung von Wissenschaft, Kunst und Poesie. Und zur Renaissancezeit selbst dachte man begreiflicherweise gar nicht historisch: man kehrte zu der vorchristlichen Zeit zurück und lebte weiter. Die neueste Auffassung der Renaissancemenschen braucht nicht falsch zu sein, weil sie die unsere ist. Zügellose Kraft äußert sich leicht, wenn die Zügel der alten Lebensanschauung fallen gelassen werden. Die Fürsten und die Gelehrten der Renaissance waren eine wilde und liederliche Gesellschaft, auch in Deutschland, wo man nicht nur die biederen Namen ins Lateinische übersetzte. Der Wille zur Macht ist keine neue Erfindung. Unter den Fürsten der Renaissance, weil sie Macht hatten, waren viele, die man heute Mörder nennt; unter den Gelehrten, deren Macht das Wort war und die schöne Sprache, waren viele, die man heute Revolverjournalisten nennen könnte (vgl. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts. 31). Noch war die Emanzipation des Fleisches nicht Modewort geworden; aber schon lebten die führenden Stände danach, die Geld hatten oder die Geld pumpten. Die Bewegung nach dem neuen Ideal ist nicht geradlinig, kommt nur stoßweise vom Fleck, weil – wie bald nachher die Kirche und die katholischen Könige die äußerste Kraft für die Gegenreformation einsetzten – überall eine Gegenrenaissance durch die von Gott eingesetzte Obrigkeit beliebt wurde, ganz besonders in protestantischen Ländern. Die Reformation war schon Gegenrenaissance. Der langsam verbitternde Zwist zwischen Luther und Erasmus hatte tiefere Gründe als die Meinungsverschiedenheit über die Freiheit des Willens; es ist gewiß wahr: der päpstlichen Macht gegenüber war Luther tapfer, Erasmus ängstlich; aber innerlich war Erasmus der freiere Mann, »es war ihm nicht viel daran gelegen, es glaube gleich jedermann was er will« (Luther, Antwort an Erasmus 27); der ganze Streit um die ewige Seligkeit war dem Skeptiker gleichgiltig, worauf Luther (29): »der hl. Geist ist kein Skeptikus.« Erasmus von Rotterdam war kein Held, aber sein feiner Kopf kannte andre Ideale als die einer reineren Schriftauslegung. Und die Kulturgeschichte der letzten vier Jahrhunderte ist voll von einem oft grotesken, oft mesquinen Kampfe zwischen dem Ideal des Christentums und dem Ideal der Renaissance. Oft mischen sich beide Ideale wunderlich ineinander. In Deutschland ist die Geniezeit deutsche Renaissance, ohne Übersetzungsversuche; die Geniezeit setzt sich in der Romantik fort, verquickt sich aber da mit christelnden Tendenzen. Unsere Neuromantik christelt in Richard Wagner, anti-christelt in Nietzsche und ist doch nur der letzte Ausklang der 500jährigen Renaissancezeit. Der letzte Ausklang. Die Götter der alten Welt sind eben in unseren Tagen zum zweiten Male gestorben; wir wissen es nur noch nicht. Zum zweiten Male der Götterbrand der alten Götter. Zum letzten Male? Wer weiß es? Taten und Worte deckten sich so ungefähr in der Kinderzeit des Altertums. Das christliche Mittelalter besaß wieder etwas wie eine Harmonie zwischen Taten und Worten, weil es in seiner Jenseitigkeit Taten und Worte verachtete. Taten, weil sie zur Welt gehörten, Worte, wenn sie nicht Gotteswort waren. Das Mittelalter predigte das Schweigen, im Prinzip wenigstens. In den strengsten Orden war das Schweigen eine Pflicht, in allen Orden eine Tugend. Während der Mahlzeiten sogar wurde Gottes Wort vorgelesen, damit nicht weltliche Worte gemacht würden. Die Tugend der Renaissance bestand im Reden. Wir werden noch sehen, wie der geniale Mensch dieser ganzen Zeit, der Übermensch, ein Menschenideal der Literaten war, und wie der Tatenmensch bald die Literatur beeinflußte, bald von ihr beeinflußt wurde. Taten und Worte der 500jährigen Renaissancezeit konnten sich nicht decken, weil die Worte tote Symbole der Antike waren, die Taten aber immer lebendig sein müssen. Schönheit und Güte, die alten Tugenden, schienen den Erneuerern der Antike selbstverständlich leicht aus den Worten der griechischen Dichter und Philosophen herauszuholen; aber auch Wissen oder Erkenntnis suchten die Humanisten in veralteten Schriften. Ein einziger Mann, Bacon von Verulam, der wirkliche Erneuerer der Wissenschaften, ballte seine Riesenfaust gegen den Aberglauben an die Renaissance. Was sonst nur gelegentlich oder lustig und unwirksam gegen Aristoteles und die griechischen Schulen überhaupt vorgebracht worden war, das verdichtete sich in Bacon zum neuen Organon, zu der neuen wissenschaftlichen Methode; wie aber die 500 Jahre Renaissance ausgefüllt waren mit einem Kleinkrieg zwischen alter und neuer Ästhetik, zwischen alter und neuer Moral, so gibt es von Bacon bis auf uns auch kein geradliniges Fortschreiten des wissenschaftlichen Geistes. Die Gespenster der Höhle, des Marktes und des Theaters, vor allem die Gespenster der Menschenhorde oder der Sprache, die alle von Bacon entzaubert und gebannt schienen, spukten weiter: im Dualismus wie im Materialismus, im Rationalismus wie im Empirismus. Und sie werden wohl noch weiterspuken, auch nachdem mehr und mehr zugegeben werden wird, daß das Ende der Renaissance hereingebrochen ist. Daß aber die Renaissance ihren Kreislauf vollendet hat (ich sage Kreislauf, trotzdem ich das falsche Bild durchschaue), das behaupte ich besonders aus drei Gründen. Erstens gilt es nicht mehr für Ketzerei, wenn einer sagt: aus den toten Symbolen, den toten Dichtungen, Philosophien und Naturlehren des Altertums ist für uns so gut wie kein Wissen mehr zu schöpfen. Es wäre denn die Spezialdisziplin eines Wissens vom Altertum. Unser humanistisches Gymnasium ist ein Anachronismus geworden. Nur noch scherzhafte Tischredner fangen ihre Einleitungen zu einem Damentoast mit einer parodistischen Berufung auf die Griechen an (oder auf die Bibel). Zweitens ist aus dem Christentum, unchristlich und gottlos, oder auch urchristlich, der neue Glaube des Sozialismus hervorgegangen, der eins nicht mehr duldet, das 500 Jahre lang die Nahrung oder der Dünger des Renaissance-Ideals gewesen war, des Individualismus, des Geniekultus: den Ekel vor dem Pöbel. Der Ekel vor dem Pöbel erklärt und entschuldigt alle Greuel der bewunderten Blutmenschen der Renaissance, erklärt und entschuldigt die Fürstenlehre des Macchiavelli. Die Renaissance hat an Stelle der christlichen Weltflucht die antike Pöbelflucht gesetzt. Odi profanum vulgus et arceo. Je mehr Menschenklassen dem profanum vulgus zugerechnet wurden, desto verfeinerter und vergeistigter wurde das Menschenideal der Renaissance, desto literarischer. Am Ende war nur noch der Philosoph ein genialer Mensch über dem Pöbel, über der »Fabrikware der Natur«, wie Schopenhauer zu sagen liebte, den »Vielzuvielen«, wie Nietzsche das Wort hübsch übersetzte. Die Führer des Sozialismus, die alles für den Pöbel und alles durch den Pöbel wollen, wollen müssen, müssen wollen, – ach, sie dürfen keinen genialen Menschen, keinen Übermenschen dulden oder anerkennen, wobei ein jeder seine eigene werte Person ausnehmen mag. Drittens scheue ich mich nicht, die Bedeutung der Sprachkritik auch für die Sprache des Menschenideals in Anspruch zu nehmen. Ist Sprache das Gedächtnis des Menschengeschlechts, so weisen alte und neue Worte immer nur in die Vergangenheit, niemals auch nur mit einiger Wahrscheinlichkeit in die Zukunft. Wir können das Präteritum immer zum Präsens machen, nicht das Futurum. Ideen oder Begriffe sind das Vergangene in der Vorstellung, Ideale sind das Künftige in der Vorstellung. Der Sprachkritiker hat die Sehnsüchte nicht verloren, wohl aber die Ideale. Er versteht nicht mehr das Wort: Zweck des Lebens. Wortreich, gewiß, wortreich wie ein Prediger des Mittelalters predigt er Resignation, Entsagung, Verzicht auf die Worte des Glaubens und des Ideals. Das Altertum nannte den Gentleman, der seine Pflichten gegen sein Haus und gegen den Staat erfüllte, einen Schönen und Guten; das christliche Mittelalter führte schon Pflichten auf Nachahmung des Gottmenschen zurück; die Renaissance entband den genialen Menschen, das höhere Individuum womöglich von allen Pflichten; wir sind zur Arbeit zurückgekehrt, die wir je nach Temperament freudig oder unfreudig leisten, Fron oder Freude nennen, nicht mehr Pflicht, höchstens etwa ungriechisch, unchristlich und ungenialisch: unsere verfluchte Pflicht und Schuldigkeit. Nachdem ich so versucht habe, den Begriff des Menschenideals, das eigentlich immer mit dem Ideal des Menschenbegriffs zusammenfällt, historisch und sprunghaft durch zwei Jahrtausende zu verfolgen, bleibt mir noch übrig, die Wortgeschichte der beiden Schlagworte nachzutragen, in denen das Menschenideal noch heute ausgedrückt wird: vor 150 Jahren kam das Schlagwort Genie auf und ist jetzt, seit etwa 100 Jahren, abgeblaßt in die Gemeinsprache übergegangen; im Jahre 1883 hat Zarathustra-Nietzsche das Schlagwort Übermensch neugeprägt, vor 15 Jahren etwa wurde es Modewort und die Raschlebigkeit unserer Tage hat es in dieser kurzen Frist zum Evangelium erhoben, entwertet durch Alltäglichkeit und »überwunden«; Björnson hat es eigentlich schon in der evangelischen Zeit des Wortes, 1896 zu begraben versucht im zweiten Teile von »Über die Kraft«. Die beiden Wortgeschichten wären leicht zu schreiben oder doch abzuschreiben. Hildebrand hat in seinem berühmten Artikel Genie (D. W. IV. I. 2. Sp. 3396-3449) mit bewundernswerter Gründlichkeit und Feinheit das Material fast vollständig gesammelt und geordnet; Richard M. Meyer hat in seiner Schrift »400 Schlagworte« das interessante Übermensch philologisch und fast philosophisch untersucht, nur ohne Distanz zu gewinnen zu dem Ruhme Nietzsches; endlich hat ein Gerngroß unter den jungen Übermenschen, Leo Berg, eitel, launisch und geistreich ein Kapitel zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts geschrieben und dieses Sammelsur von guten und schlechten Bemerkungen »Der Übermensch in der modernen Literatur« genannt. Ich möchte die einzige Absicht meines Buches fördern, indem ich aus diesen Schriften herausnehme, das Ergebnis fremder Arbeit hie und da ergänzend, was die Internationalität der beiden Schlagworte beweist und was dann endlich zeigt, wie selbst ein so höchster Begriff, der des Menschenideals nämlich, just weil er ein höchster Begriff ist, ein leerer Wortschall ist, Stein und nicht Brot. Wie das Wort Genie in die modernen Sprachen eingedrungen ist, darüber habe ich schon (vgl. Art.  Genie) berichtet. Hier möchte ich genauer auf den Zusammenhang mit der Vorstellung vom Idealmenschen hinweisen; zunächst auch auf den Einfluß, den der verchristlichte Glaube an ein δαιμονιον auf das Bild von den Schutzgeistern oder Genien nahm. Die guten und bösen genii oder Geister waren Begleiter des Menschen; die guten genii werden unklar bald heidnisch, bald aber auch als Engel halb christlich vorgestellt. Wir wissen es kaum mehr, daß wir gedankenlos die uralte Sprache der Astrologie reden, wenn wir das Wort »Genius« aussprechen. Die ursprüngliche Vorstellung hing mit der Horoskopie, der Nativitätsstellerei, eng zusammen. Ὡροσκοπος konnte sein: 1. ein nomen agentis des Horoskopstellers, der das Instrument Horoskop, das ὡροσκοπειον kunstgerecht einstellte; 2. der locus am Himmel, von dem alle astrologischen Berechnungen ausgingen, der Punkt der Ekliptik, der in der Geburtsstunde eines Menschen Aufgangspunkt seines Planeten war (wenn ich die Alten richtig verstehe); 3. der ὡροσκοπος ϑεος. Dieser Gott war der Genius, unter dessen Leitung der Mensch von Geburt an blieb. Den Namen hat der Gott, weil er in der Geburtsstunde wirksam wird, a genendo, also genius. (Censorinus: de die natali III.) Ob das richtige oder ob es gelehrte Volksetymologie ist: so wurde der genius in den langen Zeiten der Astrologie verstanden. Und derselben Astrologie verdanken wir ja unsere schier unabänderliche Zeiteinteilung (Woche von sieben Tagen und deren Namen, sieben war von Volk zu Volk als eine hochheilige Zahl herübergewandert), sowie den fast ebenso unzerstörbaren Aberglauben an die klimakterischen Jahre, immer ein Mehrfaches der Siebenzahl. Während im 18. Jahrhundert, wohl unmittelbar aus dem griechischen, die Dämonen Aufnahme fanden, mehr und mehr für die bösen Geister, drang das französische génie in die europäischen Sprachen ein, zuerst in den bildenden Künsten als geflügelte Knaben vorgestellt, die Allegorien von Tugenden, Künsten usw. waren. Wir sagen heute: Putten. Aber der Ausdruck Genius ist noch nicht ausgestorben; man kann noch in manchem alten Park (so in Weimar) einen genius huius loci finden. Es war eine unbewußt atheistische Zeit, die ohne den Heidenzorn der Humanisten die alten Götter vermenschlichen wollte, wie nach Goethes Wort Moritz die antike Mythologie. Die offiziöse Sprache unserer politischen Redner und unser Witzblattwitz kennt immer noch etwa den Genius der Freiheit, den Genius des Friedens. Dächten wir heidnisch genug, so sprächen wir da von einem Gotte der Freiheit, des Friedens. Je mehr wir uns der eigentlichen Geniezeit (rund von 1770-1780) nähern, desto mehr beschränkt sich genius, das selbst von Jesus ohne Blasphemie gesagt werden konnte, auf den Geist oder Schutzgeist als eine überindividuelle Macht, in der pathetischen Rede, während Genie mehr den einzelnen, begabten Menschen bezeichnete. Eine genaue Unterscheidung wurde nicht gemacht. Beide Worte boten im Deutschen bei der Bildung der Mehrzahl grammatische Schwierigkeiten. Man sagte schließlich doch noch lieber französisch Genies als lateinisch genii; die deutsche Mehrzahl Genien zog sich auf die bildende Kunst zurück. Zur Gellertzeit kämpften Franzosennachahmer und Puristen um den Begriff; während das französische Wort oft allgemein für den kunstfreundlichen Sinn, noch nicht für eine hochgradige Begabung gebraucht wurde, versuchte man in diesem Sinne Lehnübersetzungen: Witz, Geist, eigentümlicher Geist (Kant), Mustergeist (Lessing); Campe, das enfant terrible der Puristerei, schlug Urkopf vor, worauf ihm sofort entgegengehalten wurde, es könnte da die Nebenvorstellung eines Ochsen entstehen; Campe, der an die Romantiker dachte, meinte, das wäre nicht so unrecht angebracht. Selbst das italienische virtù wurde (von Möser) dem französischen Worte vorgezogen; im Italienischen heißt virtù auch Kraft, und mit virtuoso hätte man recht gut Kraftgenie übersetzen können. Der Purismus vermochte das Wort nicht zu verdrängen. Jede Begabung wurde Genie genannt; Philippi, das unglückliche Opfer Liscows, »handelte« von großen, mittelmäßigen und kleinen Genies. Auf die große Begabung allein, auf das neue Ideal vom dichtenden Menschengeiste hat, wie gesagt, Gellert das Wort eingeschränkt, das Schlagwort geschaffen, zum Schmerze seines Kollegen Gottsched (der den spannnagelneuen Fremdling bekämpfte), zur Freude seines Schülers Goethe. Gellert, dessen außerordentlicher und fast unwidersprochener Ruhm bei den Zeitgenossen auf einer Entlehnung der Lafontaineschen Fabelform beruhte, hat auch den Begriff Genie aus dem Auslande herübergeholt, aus der bis auf Lessing maßgebenden Ästhetik von Batteux; in der Übersetzung von 1751, an der Gellert vielleicht beteiligt war, ist das französische Wort beibehalten und ausdrücklich entschuldigt: »warum sollten wir Bedenken tragen, Kunstwörter aus einer Sprache, die uns in den schönen Künsten vorgearbeitet hat, in die unsrige herüberzunehmen?« Wenn aber der neue Begriff in seiner deutschen Fortbildung gegenüber der Regelmäßigkeit der Franzosen auf Freiheit von der Regel, ja auf Regellosigkeit hinwies, auf ein Gefühl des Schönen, so ist da Einfluß des englischen genius, vielleicht Fortwirkung von Shakespeare, unverkennbar; seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts schon klagen in England konservative Geister über den Dichter, der »all genius« sein will ohne Fleiß, Mühe und Studium. Anklänge an den so viel späteren geniezeitlichen Begriff sind bei Gellert schon reichlich vorhanden. Der gute, fromme Mann schreibt in seine Tagebücher schon weich, sentimental und selbstquälerisch wie ein Vorläufer Werthers; das Genie ist ihm schon ein Schöpfer und auch diese Nuance kommt aus dem Ausland, wo creator spiritus früh als esprit créateur für den Poeten (ποιητης, im Englischen seit alter Zeit a maker) in Anspruch genommen wurde. Zurechtgeknetet wurde der Geniebegriff für die nahende Geniezeit von den Popularphilosophen; kleine Köpfe wie Sulzer, Mendelssohn mußten doch wohl schon fühlen, was in der Luft lag: daß das abstrakte Denken zurücktreten müsse vor dem intuitiven, daß Empfindung und Leidenschaft das Recht habe, nach einem neuen Ausdruck zu suchen. Die Spürarbeit dieser mittlern Literaten wird man besser würdigen, wenn man ihre Sehnsucht nach einem neuen Ausdrucksmittel der Poesie mit dem vergleicht, was etwa der führende Philosoph der Zeit und seine Leute über diese Dinge zu sagen hatten. J. G. Walch, der vortreffliche Verfasser des philosophischen Lexikons, ein guter Wolfianer, behandelt in seinem Artikel Genius (1740) ganz pedantisch die Frage, ob ein jeder Mensch einen einfachen oder einen gedoppelten Genium, einen guten und bösen habe. Das war einheimische Gelehrtenarbeit; die Popularphilosophen holten den neuen Geniebegriff aus dem freiern Auslande. Auch der Übermensch, der dem Unmenschen so nahe steht, spielt sehr früh in diese Wortgeschichte hinein; Bodmer und der junge Lessing finden in englischen Schriften für den dichterischen Genius den Ausdruck more than human und übersetzen ihn; Lessing mit den Worten: ein mehr als Mensch, was man nur »ein Mehralsmensch« zu schreiben brauchte, um Lessing zum Erfinder des Begriffs Übermensch zu machen. Bodmer redet einmal von dem großen Gemüte etlicher weniger (in Taten der Tugend oder des Lasters), die so übermenschlich oder so unmenschlich erscheinen; Goethe hat dann bekanntlich das Wort Übermensch geprägt. Wir werden gleich sehen, wie radikal sich die Goethesche Prägung von der unterscheidet, die hundert Jahre später durch Nietzsche aufkam. Goethes Übermensch konnte sich nicht einbürgern. Das Lieblingswort der Geniezeit für die gleiche Vorstellung des moralfreien Kraftmenschen war weniger pathetisch, es hieß »Kerl«. Wenn wir diesem Worte auf jeder Seite der Geniedichter begegnen, so haben wir wirklich den Eindruck, als ob damals die Bezeichnung »Mensch« durch den Mißbrauch entwertet worden wäre, den die kosmopolitischen Menschheitsbeglücker mit dem alternden Humanismus trieben. Hildebrand (Sp. 3429) legt nun für die eigentliche Geniezeit Wert darauf, daß damals erst das Genie zum Bewußtsein seiner Ausnahmsstellung gekommen sei: »Daß das Genie, das ja zu keiner Zeit gefehlt hatte, nun zu Selbstbewußtsein und Selbstgefühl erwachte allen bisher geltenden Verhältnissen gegenüber, das ist am ehesten das Bezeichnende und Wesentliche dieser Zeit.« Das ist nun gewiß richtig; nur muß man den Nachdruck auf das Selbst gefühl legen und vom Selbst bewußtsein nicht mehr verlangen, als dieser immer ganz unklare und unbestimmte Begriff leisten kann. Die Unfaßbarkeit, die Tautologie in der Genie-Definition kommt besonders deutlich heraus in den berauschten Zeilen Lavaters (Phys. Fragm. IV. 80 vom J. 1778): »Genie ist Genius. Wer bemerkt, wahrnimmt, schaut, empfindet, denkt, spricht, handelt, bildet, dichtet, singt (usw.), als wenn's ihm ein Genius, ein unsichtbares Wesen höherer Art diktiert oder angegeben hätte, der hat Genie, als ob er selbst ein Wesen höherer Art wäre, ist Genie.« Die Armut muß wieder einmal die Pauvreté erklären. Einig sind die Genies wieder einmal nur in der Negation, im Sturmlaufen gegen das Hergebrachte, gegen die Regeln. Die Jugend erkennt die alten Regeln, die Regeln der Alten, nicht mehr an. Und schon wagt Herder das Wort Zügellosigkeit: »Vielleicht ist dies die Ursache, warum Regeln kein Genie wecken, noch weit weniger schaffen können, ja warum sogar die größesten Genies zügel- und regellos sind.« Die Jugend schafft sich sogar eine regellose Sprache, eine neue, geniale Grammatik, Metrik, Interpunktion. Man glaubt die deutsche Jugend von 1890-1900 beschrieben zu lesen, wenn man bei Jean Paul die schon in anderem Zusammenhange kurz erwähnten Worte über die Geniezeit findet: »Tausende vergaßen im Tumulte alles, besonders tote Sprachen und lebendige, und führten ein Warenlager von Welten bei sich, die gelehrte ausgenommen, und schrieben bloß in abgerissenen Gedanken und in abgerissenen Hosen ... Andere fragten den Henker nach Komma und Kolon, sondern schrieben geradeaus, nämlich in Gedankenstrichen« (Palingenesien, I. 174). Das Selbstgefühl der genialen Jugend zerschlug Form und Inhalt. Denn das ist wieder bezeichnend für den Mangel an Selbsterkenntnis der Zeit, daß damals (wie heute wieder) die Formrevolutionäre, die das gröbste Wort für das beste hielten, die Virtuosen, die an der Sprache feilten, die Gedankenrevolutionäre, die Gott abschafften, die Lebensrevolutionäre, die allen Lebensäußerungen von Zeugung bis Tod den Stempel des Genies oder des Übermenschen aufdrücken wollten: daß alle diese Richtungen für die Zeitgenossen (ja eigentlich noch für unsere Augen, wenn wir nicht allzu logisch distinguieren wollen) zu einem Brei zusammengerührt wurden, der sich selber als Geniezeit erschien. Das Genie war nicht ein literarisches, nicht ein philosophisches, es war ein menschliches Ideal. Einen Höhepunkt hat diese Zeit, einen Punkt von unvergänglich (bis heute) leuchtendem Glanze: Goethes »Prometheus« (1774); besser: das menschliche Ideal der Zeit war Goethe, der 25jährige, in der Stunde, da die zügellosen Verse aus ihm herausbrausten:

»Hier sitz' ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich
Und Dein nicht zu achten
Wie ich.«

Das ist kein Programm mehr, keine besoffene Metten mehr wie Lavaters Ausbrüche. Das ist die künstlerische Gestaltung des neuen Menschen-Ideals. Der neue Gott ist gefunden. Höher als zur Vergottung des Menschen im »Prometheus« konnte das Genie sich nicht erheben. In Goethe vollendet sich alles. Der Gipfel des Genietums wird erreicht, in Form und Inhalt; auch der Schatten, die Hypochondrie des Genies, die man nachher Weltschmerz nannte, wird noch rein und groß empfunden: »das gemeine Menschenschicksal muß denjenigen am schwersten aufliegen, deren Geisteskräfte sich früher und breiter entwickeln«; schon Hamann hatte das Genie eine Dornenkrone genannt. Aber auch die Kritik des Genietums ist rein und abgeklärt nur bei Goethe zu finden. Hatte schon Schubart (1776) am Geniekatzenjammer gelitten und auf Gott hingewiesen, der das größte Genie wäre und doch alles nach Maß, Zahl und Gewicht so weislich geordnet hätte; hatte schon Pfeffel (1778) über die deutschen Genies geschimpft, die eine Handvoll von Shakespeares Exkrementen gefressen hätten und nun ehrliche Leute verachteten, »die nicht nach Shakespeares Exkrementen stinken und doch ehrliche Leute sind«, so erhob sich Goethe in seinen Lebenserinnerungen zu einer Selbstkritik, der man heute nichts hinzusetzen kann. Und der alte Goethe wußte sogar schon, daß »der Kampf in diesen 50 Jahren noch nicht ausgekämpft, er setzt sich noch immer fort.« Jetzt sind wir weit genug, um zu verstehen, warum das von Goethe geprägte Wort Übermensch sich nicht einbürgern konnte. An zwei markanten Stellen gebraucht er das Wort kritisch, das eine Mal mit äußerstem Hohne, das andere Mal wenigstens mit offenbarer Ironie. In der Szene zwischen Faust und dem Erdgeist, da Faust gerufen hat »weh, ich ertrag' dich nicht«, antwortet der Geist: »welch' erbärmlich Grauen faßt Übermenschen dich!« Jedes Wort der Erklärung scheint mir überflüssig. Faust, der sich selbst für einen Übermenschen hält, ist für den Erdgeist nur ein weggekrümmter Wurm. Und in dem köstlichen Gedichte, das jetzt als »Zueignung« Goethes Werke einleitet, sagt die Göttin, milde genug, aber doch im gleichen Sinne wie der Erdgeist: »Kaum bist du sicher vor dem gröbsten Trug ... so glaubst du dich schon Übermensch genug ... wieviel bist du von andern unterschieden? Erkenne dich, leb' mit der Welt in Frieden!« Das Gedicht war ursprünglich für die gewaltig angelegten »Geheimnisse« bestimmt, deren Held Humanus ein Menschenideal wie etwa Lessings Nathan darstellen sollte. Man höre nur lauschend auf den Ton, mit dem Goethe spöttisch das Wort Übermensch ausspricht, das er geprägt hat Zur Geschichte der Wortbildung »Übermensch« möchte ich einen kleinen Beitrag hinzufügen. Schon Liscow hat (Schriften III. 102, Ausg. von 1806) ein ähnliches Wort spöttisch gebraucht: »Überforscher« für »Metaphysiker«. Er zitiert dafür den Orbis pictus von Comenius. Der einst weltberühmte mährische Pädagoge beginnt das 101. Kapitel seines berühmten Orbis sensualium pictus quadrilinguus mit den Worten: »Der Naturforscher betrachtet alle Geschöpfte Gottes in der Welt. Der Überforscher durchgründet der Dinge Ursachen und Wirkungen. (Physicus speculatur omnia Dei opera in mundo. Metaphysicus perscrutatur rerum causas et effecta.)« Er will also eine genaue Lehnübersetzung von »metaphysicus« geben (das bekanntlich weder griechisch noch lateinisch, sondern ein Buchbinderwitz ist) und gibt μετα anstatt mit »hinter« mit »über« wieder. Ich konnte das Wort bei Comenius lange nicht entdecken, weil mir nur eine Ausgabe von 1772 zur Verfügung stand, deren Vorrede ganz naiv eingesteht: man habe eine große Menge ungebräuchlicher, ungereimter und unnötiger Wörter, die in der alten Edition befindlich waren, in dieser neuen auslassen müssen. In des Comenius Janua linguarum (1638 § 996) finde ich: »Sie (die Frommen am jüngsten Tage) werden springend sich zusammen freuen, nicht daß sie mit übersüßem Brot und Wein (im lateinischen Texte: Ambrosia et nectare) sollten gesättiget, sondern mit seiner seligmachenden Süßigkeit in ewigen Zeiten beseliget werden.« Comenius liebte also die Zusammensetzung mit »über«. Landauer macht mich darauf aufmerksam, daß die deutschen Mystiker (auch Comenius war einer) die Vorliebe für die Über-Verbindungen aus der Sprache des (falschen) Dionysios Areopagita entlehnt hatten, der von einer überwesentlichen übererhabenen Übergottheit reden konnte; diese ὑπερ-Bildungen gehen auf Proklos zurück., und dann auf das Pathos, mit dem hundert Jahre später Nietzsche ausruft: »Ich lehre euch den Übermenschen.« Für den naiven Goethe, den man einen Vorläufer Darwins nennt, ist nicht einmal die Stellung zweifellos, die der Mensch etwa nach Linnés System an der Spitze aller Geschöpfe einnimmt; Goethe könnte mit Haller den Menschen apostrophieren: »Zweideutig Mittelding von Engeln und von Vieh!« Nietzsche steht ohne Skepsis mit seinem Übermenschen auf dem Standpunkte des populären und verstiegenen deutschen Darwinismus, der Darwins Vorsicht in der Beurteilung der Vergangenheit, der Aszendenz, verlassen hatte und der mit Nietzsche die Hypothese auf die Zukunft anwandte, auf die Deszendenz. Alle Sätze Nietzsches sind darwinistisch, wenn man sich von dem prophetischen Zauber der prachtvollen Sprache nicht täuschen läßt: »Ich lehre euch den Übermenschen. Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus ... Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und eben das soll der Mensch für den Übermenschen sein, ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.« »Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.« »Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf! Dazu helfe dir der Garten der Ehe!« »Euer Kinder-Land sollt ihr lieben ... An euren Kindern sollt ihr gut machen, daß ihr eurer Väter Kinder seid ... Was Vaterland! Dorthin will unser Steuer, wo unser Kinder-Land ist.« Nietzsches Sehnsucht nach einem neuen Menschen-Ideal klettert an dem Schlagworte Entwicklung empor. Wie der »bisherige« Mensch sich aus dem Urschleim über den Affen hinaus entwickelt hat, so soll (Gott Nietzsche befiehlt dieses »Soll«, stellt diese neue Tafel auf) der Mensch, das zweideutige Mittelding von Engeln und von Vieh, sich hinauf entwickeln, züchten. Der neue Mensch soll seine Sinnesorgane und sein Denken, seine Instinkte und sein Wollen, seinen Schönheitssinn und seine Körperschönheit über alle »bisherigen« Begriffe hinaus steigern. Vor Nietzsche hat das ein junger Dichter der fünfziger Jahre schon gelehrt, Wilhelm Jordan, in seinem »Demiurgos«, wo von der Züchtung neuer Adelsmenschen geredet wird; Jordan hat dann als Greis in fast grotesker Weise eine Priorität vor Darwin und Nietzsche öffentlich beansprucht. Wie sehr sich Nietzsche mit der Lehre vom Übermenschen zu seiner eigenen letzten Lehre von der Wiederkunft des Gleichen in Widerspruch setzte, das hat er trotz gelegentlicher Selbstverhöhnungen nie gefühlt. Er bemerkte die Widersprüche seines Denkens nicht; und es hat keinen Zweck, solche Widersprüche in den Gedanken eines edlen Dichters deshalb aufzuzeigen, weil er sich selbst für einen Propheten hielt. Auch Selbstkritik war Nietzsches Sache nicht. Er wurde nicht alt genug, um abgeklärt werden zu können. Und so oft er sich in dem schweren Traume seines Daseins auf die andre Seite warf, seine Götter wechselte, ebenso oft tat er es nicht heiter, nicht lächelnd, sondern mit dem grimmigen Hohngelächter, das keiner wie er schön zu artikulieren verstand. Unfreiwillige Selbstkritik ist es, wenn Nietzsche einmal deutlich zu verstehen gibt, daß sein Übermensch nur in der Phantasie unserer Zeit möglich sei, nicht in ihrer Wirklichkeit. »Gewiß ist, daß wir uns nicht in Renaissancezustände hineinstellen dürften, nicht einmal hineindenken: unsre Nerven hielten jene Wirklichkeit nicht aus, nicht zu reden von unsern Muskeln ... Zweifeln wir nicht daran, daß wir Modernen mit unsrer dick wattierten Humanität, die durchaus an keinen Stein sich stoßen will, den Zeitgenossen Caesar Borgias eine Komödie zum Totlachen abgeben würden.« Der zarte, zärtliche, verzärtelte Nietzsche hatte Nerven und Muskeln der Modernen; und die Rauhbeinigkeit der Übermenschen, die sich nach ihm nennen oder nannten, wenn sie nicht anders als mit der Peitsche zum Weibe gehen, war ihm erst recht ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Es hat auch wenig Zweck, eine Untersuchung darüber anzustellen, ob Nietzsche bei der Neuprägung des Begriffes »Übermensch« außer von Goethe auch noch von englischen und französischen Worten beeinflußt worden ist. Innere Beziehungen bestehen gewiß zu the over-soul Emersons; dessen Überseele (1841) ist groß und unklar das, womit die Heroen, die Halbgötter, die Repräsentanten der Menschheit teilhaben an der Weltseele. Innere und wohl auch äußere Beziehungen bestehen zum homme supérieur, den Sénancour's »Obermann« (schon 1804, dann 1833 durch George Sand neu herausgegeben) auf die Bahn gebracht hat; schon R. M. Meyer wies auf die Bildung des Heldennamens »Obermann« hin. Er ist bei Sénancour noch ein guter Kraftmeier; aber schon bei Balzac wird er zum genialen Verbrecher Vautrin. »Il n'y a pas de principes, il n'y a que de circonstances; l'homme supérieur épouse les évènements et les circonstances pour les conduire.« Der geniale Verbrecher Vautrin wird zum Lehrer, zum Mentor seines Lieblings Rastignac; und Rastignac ist das Vorbild einer Unzahl neuer Romanhelden (bei Daudet, Zola), die sich strugforlifeurs nennen (nach engl.  struggle-for-lifers), sich Übermenschen nennen könnten. Nun ist aber da eine andere Parallele sehr beachtenswert. Der homme supérieur ist in Frankreich nach dem Bilde Napoleons geschaffen. In Liebe. Der Übermensch Nietzsches ist nach den großen Erfolgen Bismarcks entstanden, in Haß, oder doch in eifersüchtiger Liebe. Ich glaube damit Nietzsche nicht unrecht zu tun. Der einsame, verkannte Lehrer in Basel konnte die brutale Realität des Bismarckruhmes nicht ertragen. Er war in all seinen Pamphleten gegen Deutschland ein so guter, leidenschaftlicher Deutscher wie Heinrich Heine; er war nur mit seinen berechtigten Zornausbrüchen – unzeitgemäß. Ich habe schon auf Björnstjerne Björnson hingewiesen, der in seinem starken Drama »Über die Kraft« die Utopie vom Übermenschen ad absurdum führen wollte. Der erste Teil ist seltsamerweise in dem gleichen Jahre erschienen wie der erste Teil von Nietzsches »Zarathustra«, 1883; es wäre ganz interessant zu erfahren, ob dies Zusammentreffen Zufall war, wie man das nennt, oder nicht. Jedenfalls war die Polizei sehr kurzsichtig, da sie noch 1896 die öffentliche Aufführung verbot. Der Pfarrer Sang, der durch religiösen Willen, d. h. durch Gebet, die Genesung seines Weibes erzwingen will; der Demokrat Bratt, der den Sozialismus durch Volkswillen erzwingen will; der Edelanarchist Elias, der durch die Arbeiter, der Fabrikant Holger, der durch die Herren, über Mord und Totschlag hinweg beide, die neue Zeit herbeiführen wollen, alle scheitern sie, weil der große Wille über Menschenkraft geht. Und das starke, tief ergreifende Stück wäre ein Meisterstück für unser Theatervergnügen geworden, wenn der große Schauspieler und Politiker Björnson uns zuletzt nicht allen Ernstes zumutete, Genien, Putten als Ersatz für die versagenden Genies oder Übermenschen zu nehmen. Daß er diese beiden Genien übrigens Credo und Spera nennt (Sollte er am Ende das o in Credo für ein Zeichen des Maskulinums, das a in Spera für ein Zeichen des Femininums gehalten haben? Höchst schaudervoll!), ist eine Entgleisung; aber auch sonst ist der Schluß leider »dick wattierte Humanität«. Ob nun der erste Teil des Dramas 1883, wo die besten Köpfe und Herzen Norwegens noch die Erschütterung durch Kierkegaard spürten, schon den Übermenschen Nietzsches darstellen wollte oder nicht, einerlei: im zweiten Teile soll die Lehre als eine Utopie hingestellt werden. Bevor Björnson sein »Über die Kraft« vollendete, hatte sein bewußterer Rivale Ibsen ein Übermenschendrama geschrieben. Das letzte Wort gesagt. Wenn es nicht so töricht wäre, jedesmal das Zufallswort des Tages, das modernste Wort, das letzte Wort zu nennen. Noch weniger als bei Nietzsche möchte ich bei Ibsen literarhistorisch werden: wie weit Ibsen 1892, da er den Baumeister Solneß vollendete, an Nietzsche denken konnte; wie weit er am Ende gar ahnungsvoll Züge des weltverbessernden Schauspielers und Politikers Björnson wieder einmal (wie 1869 in der Komödie »Bund der Jugend«) in seinen unseligen Übermenschen Solneß hineingeheimnist hat. Fast nur auf die gedanklichen, auf die luftigen Zusammenhänge möchte ich hinweisen. In gärenden Zeiten ist es natürlich immer die Jugend, die die Fahne des neuen Menschenideals hochhält und vorausträgt, die Fahne des Übermenschen. In starken Zeiten ist diese Jugend auch da; man sieht und hört sie nur weniger. Baumeister Solneß, ein Übermensch absonderlicher Art, geht innerlich daran zugrunde, daß er die Jugend fürchtet, die plötzlich an seine Tür klopfen wird, die Jugend, nach der sein besseres Selbst sich sehnt, weil sie über ihn hinausweist, vor der sein schlechteres Selbst zittert. Solneß hat mit allem gebrochen, was altes Menschenideal war. Kirchen baut er längst nicht mehr; auch Heimstätten für Menschen, etwa mit Kirchtürmen darauf, wird er nicht mehr bauen; nur noch Luftschlösser für seine Hilde Wangel, Luftschlösser mit dicken Grundmauern darunter. Wie politisierende Schauspieler Wortgebäude bauen. Aber es ist über die Kraft. Wie jeder Übermensch wird er von einer neuen Jugend überholt und überfahren. Er hat ja kein robustes Gewissen. Ihm schwindelt. Er kann nicht einmal so hoch steigen, wie er gebaut hat. Wie der Pfarrer Sang glaubt er durch äußerste Anspannung des Willens das Wunderbare verwirklichen zu können. »Glauben Sie nicht auch, Hilde, daß es einzelne auserkorene, auserwählte Menschen gibt, denen die Gnade verliehen wurde und die Macht und die Fähigkeit, etwas zu wünschen, etwas zu begehren, etwas zu wollen, – so beharrlich und so – so unerschütterlich – daß sie es zuletzt erreichen müssen.« Der beschränkte Pfarrer Sang versteht die Welt nicht mehr, da die mystische Kraft des Willens so ganz anderswohin führt als die Absicht war; der überlegene Ibsen versteht die Welt nur zu gut. Wie Mephistopheles sie verstanden hat. Wie Nietzsche in seiner unfreiwilligen, dann wieder (gegenüber der auch ihm unerträglichen Wiederkunftsidee) ingrimmig und schrill höhnenden Selbstkritik die Welt des Übermenschen verstanden hat. Eine Komödie zum Totlachen für die Zeitgenossen Cesare Borgias. Wahnsinnig sind die Kämpfer alle miteinander. Wahnsinnig ist ja Aline, die arme Frau des Luftschloß-Baumeisters, die alles tut, was mit der Etikette »Pflicht« versehen ist, die pflichtgemäß nach dem alten Ideal alle Lebensfreude zerstört. Hilde Wangel sagt es: »Ich kann das häßliche, eklige Wort nicht ausstehen! Weil es sich so kalt und spitz und stechend anhört. Pflicht – Pflicht – Pflicht. Finden Sie nicht auch, daß es einen sozusagen sticht?« Aber wahnsinnig, im medizinischen Sinne wahnsinnig, ist erst recht der neurasthenische Übermensch Solneß, mit seinem übermenschlich starken und kranken Willen, mit seinem zartfühlenden Niedertrampeln der Nebenmenschen, mit seiner Unfähigkeit, auch nur auf der kleinen Höhe zu stehen, die er bauend erreicht hat. Und ein klein bißchen verrückt ist doch auch der typische Mensch dieser wieder einmal modernen Gegenwart, natürlich ein Weib, Hilde Wangel, so etwa du und ich, das Publikum, der Mensch, der fast willenlos zuschauende, herzlos und nicht böse, wenn man ihn als Natur erkannt hat, der Mensch, der den Übermenschen immer übersieht, mit lächelnder Überlegenheit und dennoch »mit einem unbestimmbaren Ausdruck in den Augen«, den Übermenschen noch überbieten und überwinden möchte, den Herodes überherodesen.

 


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