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Eid

I.

Luther hat einmal die schlechten, Handlungen der Menschen, die er Sünden nennt, in zwei große Gruppen eingeteilt: »wenn man alle Sünden auf einen Haufen fasset, so teilen sie sich in die zwei Stücke, welche sind des Teufels eigen Werk, nämlich Lügen und Mord.« Es ist etwas daran: Unrecht kann begangen werden entweder durch einen realen Eingriff in die Sphäre des Mitmenschen oder durch bloße Worte. Das Tier im Naturzustand lügt nicht, oder höchstens in der Notwehr, für welchen Fall der strenge Schopenhauer auch dem Menschen die Lüge gestattet. Alle Welt entschuldigt die Notlüge. Aber das Tier lügt nur durch symbolische Handlungen. Der Mensch lügt unendlich häufiger, weil er spricht. Der redende Mensch lügt fast unaufhörlich; er lügt im Ernste zu seinem Vorteil, er lügt aus Eitelkeit, er lügt auch wohl aus Freude an seiner Phantasie. Er lügt als ein Betrüger und als ein Dichter. Die dichterische und die eitle Lüge gehören nicht in das Gebiet des Rechts, kaum in das Gebiet der Moral. Die betrügerische Lüge gehört ins Rechtsgebiet, weil die Definition des Betrugs die Behauptung falscher Tatsachen zu einer Prämisse der Strafbarkeit macht. Außer diesem Falle wird die Wahrheit nur geschützt, wird die Lüge nur strafbar, wenn im Strafprozeß oder im Zivilprozeß ein Zeuge falsche Tatsachen behauptet und diese Behauptung durch eine altertümliche Feierlichkeit bekräftigt, den Eid. Im Zivilprozeß dürfen die Parteien straflos lügen, daß die Balken sich biegen, solange sie nicht unter dem Eide stehen. Im Strafprozeß darf jetzt der Angeklagte, weil er nicht vereidigt wird, straflos lügen, soviel er mag. Der Gesetzgeber nimmt an, daß der Angeklagte auch unter dem Eide lügen würde. Der Eid schützt das Recht nicht mehr. Die Geschichte der Institution wird erklären, wie wir in diesen Zustand hineingeraten konnten. Einige Züge der Sach- und Wortgeschichte mögen vorausgehen. (Man findet viel über den Eid der Griechen bei Rudolf Hirzel: »Der Eid«; über den christlichen Eid bei B. Bauer: »Der Eid«.) Da der Eidschwur unsres Rechts, das jus jurandum, durchaus mit religiösen Vorstellungen verquickt ist, gehört der jüdischen Bibel der Vortritt. Das hebräische Wort für Schwur und schwören wird hergeleitet von dem hebräischen Wort für die Zahl sieben; schwören heißt also eigentlich sich besiebnen, bei sieben Opfern beteuern. Ein zweiter Ausdruck heißt: Verwünschung oder Fluch. Und bei der Strafandrohung für die Ehebrecherin (Numeri V, 21) werden beide Ausdrücke zu einem Fluchschwur verbunden. Geschworen wird von Gott bei sich selbst und von den Menschen bei Gott. Begleitende Handlungen fehlen nicht: Emporheben der Hand oder beider Hände, Aufrichtung von Steinen oder andern Gedächtniszeichen, Anlegen der Hand des Schwörenden an die Genitalien des Schwurabnehmers. Mit der Zeit wurde im Schwure der Gott Israels aufgefordert, den Meineid zu rächen. Vom Gesetz wurde der Meineid als solcher nicht bestraft; er hatte nur zivilrechtliche Folgen. Der Verlaß auf das persönliche Eingreifen Gottes schien aber auch damals nicht groß zu sein, denn schon Jesaias und Jeremias klagen über Überhandnehmen des Meineids. Da bei den alten Juden der Eid nur selten ein Rechtsmittel war, gelten die Warnungen (Sirach und Prediger) vor vielem Schwören wohl weniger dem Eide als dem Fluchschwören der Umgangssprache. Die Sekte der Essäer, die den Eid verwarf, gehört dem alten Judentum nicht mehr an. Daß die Juden später in den Ruf besonderer Lügenhaftigkeit kamen (schon bei Martialis), ist unwesentlich; was allgemein menschlich ist und dennoch von der internationalen Heuchelei als Laster verschrieen wird, wie Lüge, Geldgier, Sinnlichkeit, das wird immer von einem Volke dem andern nachgesagt. Sprichwörtlich gewordene Stellen aus dem Neuen Testament verbieten den Eid, streng auf dem Standpunkt der Essäer. »Eure Rede sei ja ja, nein nein, was darüber ist, ist vom Übel oder vom Teufel.« (Matt. 5. 37.) Fast wörtlich (Jakobus 5. 12): »Schwöret weder beim Himmel noch bei der Erde, noch irgend einen andern Schwur; es sei euch das Ja ja und das Nein nein, auf daß ihr nicht in Heuchelei fallet.« (Auch achte man hier auf die beiden Lesarten ὑπο κρισιν und εἰς ὑποκρισιν.) Man hat versucht, diese unzweideutige Verurteilung jedes Eidschwures abzuschwächen. Man war zu diesem Versuche genötigt durch die menschliche Inkonsequenz des Neuen Testaments. Nicht nur der böse Herodes schwört, auch der gute Petrus schwört. Noch dazu, da er den Heiland verleugnet. Selbst Paulus schwört, und oft. In der Epistel an die Hebräer (6. 13-16) scheint der Eid sogar ausdrücklich gebilligt zu werden: Gott habe dem Abraham bei sich selbst geschworen, weil er bei keinem Größeren zu schwören hatte; die Menschen aber schwören bei einem Größern, denn sie sind, und der Eid macht ein Ende alles Haders. Unser Eidschwur wie unser Fluchen hat Inhalt und Form sowohl aus beiden Teilen der Bibel als aus den Sprachgewohnheiten der Griechen und Römer herübergenommen. Es ist nur schwer zu sagen, ob man überall Lehnübersetzung annehmen soll, wo eine besondere Übereinstimmung überrascht. So hatten schon die späteren Griechen den elliptischen Schwur ναι μα τον, wie wir schwören oder fluchen: soll mich dieser oder jener holen. Übereinstimmend ist aber besonders bei allen Schwüren der Charakter der Selbstverfluchung, die gläubige Annahme, der Schwurgott werde den Meineid auf der Stelle rächen. Ganz unsicher ist die Etymologie des griechischen ὁρκος, unsicher auch die Beziehungen des ὁρκος und des römischen Orcus, unsicher ist es, ob die Griechen und selbst die Römer schon zwischen dem assertorischen und dem promissorischen Eide deutlich unterschieden. Hingegen mit den Graden des Eides wissen wir nicht mehr viel anzufangen, trotzdem wir etwas Entsprechendes haben, in halbem Scherz: das große und das kleine Ehrenwort. Der größte Schwur der Griechen, der Schwur bei der Styx, beim stygischen Gewässer, geht offenbar auf irgend eine uralte reale Vorstellung zurück, von der wir nichts mehr wissen. Selbst die lateinische Bezeichnung jus jurandum ist uns nicht ganz verständlich; es scheint eine Satzung gemeint zu sein, ein Gesetz zwischen zwei Kontrahenten, wie denn in so alter Zeit zwischen Gesetz und Privatabmachung kein Unterschied gemacht wurde, lex sowohl Gesetz sein konnte, wie die Bedingung eines Vertrages. Eine Bindung, ein Vertrag zwischen dem Schwörenden und dem Schwurgott war ja auch wohl der ὁρκος. Das deutsche Wort Eid ist unerklärt, wenn man sich nicht mit Belustigungen des Verstandes und des Witzes begnügen will. Das alte Wort schwören ( Schwur gehört erst der neueren Sprache an) scheint mit dem altnordischen svar, Antwort ( answer) zusammenzuhängen, aber erklärt wird mit dieser Vermutung nichts. Sprachwissenschaft, Philologie und Kulturgeschichte haben sich redliche Mühe gegeben, Vernunft und Logik zu bringen in die Vorstellungen vom Eide. Es bleibt aber dabei, daß der Eidschwur in alter und neuer Zeit war und ist eine Selbstverfluchung des Schwörenden, eine Selbstverfluchung, die den Menschen der Rache des Schwurgottes auslieferte, die in uralter Zeit auch den Gott sich selbst verfluchen ließ, weil doch ein Größerer über dem Heidengotte war. Es war eigentlich ganz konsequent vom Christentum, daß es den Schöpfer Himmels und der Erden, den einigen Gott, über dem nichts Größeres war, keine Selbstverfluchung mehr ausstoßen ließ. Zeus hatte so etwas Größeres über sich, das Schicksal, die Styx, den Tartaros oder was immer. Wenn Jehovah bei sich selber schwört, der doch nichts Größeres über sich anerkennt, so klingt es uns wie ein Fluch, wie eine orientalische Redensart, oder gar grotesk wie der drollige Fluch Mephistos im Faust: »Ich möcht' mich gleich dem Teufel übergeben, wenn ich nur selbst kein Teufel wär!« Auf die Formen des Eides will ich nicht mehr zurückkommen. Es ist nicht zu übersehen, daß die Form des Eides in alter und neuer Zeit der Mode unterworfen war. Die römischen Kaiser Trajanus und Julianus schwuren pathetisch und rhetorisch bei den Siegen der Römer, die heutigen Italiener schwören corpo di bacco. Hume erzählt, König Johann habe besonders gern geschworen bei God's teeth; und die Verdrehungen des Gottesnamens aus Scheu vor dem offiziellen Namen ( sacrebleu, Potzblaufeuer) sind bekannt. Man kann im allgemeinen sagen, daß die archaistische Form, die Anrufung des Schwurgottes, festgehalten wird, wo der Schwörende Ernst macht mit seiner Selbstverfluchung oder wo er diesen Ernst im Prozeßverfahren heuchelt, daß aber die alte Form mit einem Rest von Glauben oder Aberglauben (»Vielleicht doch!«) absichtlich verändert und im Sprachgebrauch verstümmelt wird, oft zur leeren Interjektion hinabsinkt, wo der Sinn der Selbstverfluchung nicht mehr gefühlt wird. Was echte Selbstverfluchung ist, heißt ein Eidschwur; was diesen Sinn nicht mehr hat, heißt ein Fluch. Das hat Hobbes schon erkannt (Leviathan I, 14): nur die Berufung auf Gott ist ein Schwur, swearing as men do in common discourse is not swearing, but an impious custom, gotten by too much vehemence of talking. Ohne Selbstverfluchung liegt kein richtiger Eid vor. Wenn neuere Rechtsphilosophen den Eid auf einen geläuterten Gottesbegriff zurückführen, eine Behauptung nur so allgemein durch Hinweis auf eine übersinnliche Welt bekräftigt wissen wollen, so fehlt dem Eide das, was sein Wesen ausmacht. Bei Homeros und in den homerischen Hymnen schwören die Götter mitunter bei körperlichen Dingen, die ihnen lieb sind, die subjektiven Wert haben, ein pretium affectionis. Hera bei ihrem Ehebett und Apollon bei seinem Speere; da mag schon ein Modefluch mitklingen, aber die Vorstellung »so mag der größere Gott mein Lieblingsgeräte vernichten, wenn ich lüge« liegt doch zugrunde. Götter und Menschen schwören bei dem, was ihnen teuer ist. Furcht vor einer unmittelbaren Strafe sichert die Wahrheit. Die Römer schufen dafür eine sehr unsinnige, aber sehr eindringliche Etymologie: das jus jurandum wurde als Jovis jurandum erklärt. War der Eid ein durchaus religiöser Akt (Cicero, de off. III, 29: est enim jus jurandum affirmatio religiosa), eine Äußerung der Furcht und des Aberglaubens, so mußte er mit der Religion zugrunde gehen. Weil es aber eine gradlinige Entwicklung der Menschheit nicht gibt, weil heute wie immer abergläubische, halbfreie und einige freie Menschen nebeneinander wohnen, darum findet der moderne Mensch keine Stellung zum Eide. In Deutschland ist es vorgekommen, daß einem gläubigen Protestanten verweigert wurde der offiziellen Formel der Selbstverfluchung: »so wahr mir Gott helfe« die verdeutlichenden Worte beizufügen: »durch Jesum Christum zur ewigen Seligkeit«. Der moderne Staat will den Eid beibehalten, will aber seine religiöse Bedeutung vernichten oder ignorieren. Der Schwörende soll sich bei der Formel »so wahr mir Gott helfe« gar nichts denken. Worin, wozu soll Gott helfen? Wer das nach seinem Glauben hinzufügen will, wird gröblich angeschrien. Und der Code Napoléon hat denn auch mit echt französischem Radikalismus den religiösen Eid durch die völlig ausgeblasene Phrase ersetzt: je le jure. Selbst aus den symbolischen Handlungen bei der Eidesleistung sucht der moderne Staat jeden religiösen Sinn auszutreiben. Einst hatte der Schwörende sich selbst symbolisch zum Opfer zu bringen, später wohl auch das Evangelienbuch, das Kreuz, das Schwert, einen Reliquienkasten, oder sonst ein Symbol der höheren Macht zu berühren, also einen körperlichen Eid (ὁρκος σωματικος) zu leisten. Noch vor kurzem war der Zeugeneid vor Gericht mit vielen Feierlichkeiten verbunden: Verdunklung des Gerichtssaales, Aufstellung eines Stillebens von Kruzifix, Kerzen und Totenkopf, Vermahnung durch den Geistlichen. Jetzt werden unzählige Eide vor Gericht heruntergeleiert, wie Gebete von einer Gebetmaschine. Kaum daß das Aufheben der Hand (keine ewige Einrichtung: man hob bald die ganze Hand und dann wieder drei oder einen Finger) noch beibehalten ist; fromme Leute glauben, das bedeute die Dreieinigkeit (die zwei Schwurfinger der Lutherzeit bedeuteten wiederum die zwei Zeugen), aber gelehrte Männer haben diese letzte religiöse Vorstellung für den lächerlichen Irrtum von Bauernpastoren erklärt. Bei den Juden, bei den Griechen, bei den Römern, überall im christlichen Abendlande war der Eid also ein religiöser Akt. Hatte nur für die religiöse Vorstellung einen Sinn. Von Zeit zu Zeit, wenn der Glaube an ein persönliches Einschreiten der beleidigten Gottheit wieder einmal versagte, wurden Versuche gemacht, den Eid mit den Begriffen des Rechts in Übereinstimmung zu bringen. Der Eid sollte eine Art Vertrag sein oder eine Art Bürgschaft oder eine Art Wette. Es ist aber einfach nicht wahr, daß sich irgend eine Entwicklung nachweisen ließe von dem religiösen zum juristischen Charakter des Eides. Immer war es ein unklares Durcheinander von religiösen und juristischen Begriffen: im heidnischen Altertum, im christlichen Mittelalter wie in der gottlosen Gegenwart.

II.

Als Vertrag wurde der Eid oft und gern von Griechen und Römern aufgefaßt. Wie bei einem Vertrage brauchte ein beschworenes Versprechen nicht gehalten zu werden, wenn vis major dazwischen trat. (Lehnübersetzung: force majeure, höhere Gewalt.) Eine Bürgschaft ist der Eid dadurch, daß ein Gott oder viele Götter zu Zeugen oder Eideshelfern einer Behauptung aufgerufen werden. Vorsichtig ist es, wenn der Schwörende anstatt »Gott sei mein Zeuge« sagt »Gott ist mein Zeuge« (Hirzel l. c. 26). Juristisch ist der angerufene Gott ein Bürge. Der gläubig Schwörende hat aber daneben mit dem Gotte einen Vertrag geschlossen: habe ich von dir ein falsches Zeugnis verlangt, so magst du an dich nehmen, was ich dir als Pfand bestellt habe, mein Leben, das Leben meiner Kinder, mein Haus usw. Daraus ergab sich sogar eine neue Schwurformel: bei dem bestellten, subjektiv oder objektiv wertvollen Pfande: Hera schwört bei ihrem Ehebett, die Römerin des Martialis bei ihren Perlen, Griechen und Juden beim Haupte ihrer Lieben, christliche Deutsche bei ihrer Seligkeit. Selbst der moderne Pfandschwur »bei meiner Ehre« ist den Griechen nicht ganz fremd: Miltiades schwört (in einem Drama) bei seiner Schlacht von Marathon und Odysseus bei der Ehre, der Vater des Telemachos zu sein. Am schärfsten hat diese Auffassung vom Eide Augustinus ausgesprochen, wörtlich: quando dicit per filios meos, oppignerat Deo filios suos, ut hoc veniat in caput eorum, quod exit de ore ipsius. Weniger überraschend ist es, daß der gottfreie Spinoza den Eid ebenso auffaßte: »die Eide sind verschieden nur nach der Verschiedenheit der Pfänder, die eingesetzt werden.« Der Einsatz eines Gutes für die Wahrheit eines Eides erscheint ganz unhistorisch als das Bedeutsamste am Eide, sobald der Glaube an göttliches Einschreiten, an das Wunder, geschwunden ist. Unreligiös, juristisch ist der Eid auch den Griechen der unfrommen Zeit; nur weil das römische Vertragsrecht bei ihnen noch nicht so formell ausgebildet war, wird der Eid mehr Zeugenanrufung oder Bürgschaftstellung. Beides ein Prozeßweg zur Erforschung der Wahrheit. Mythologie wirkt mit, wenn bei Helios geschworen wird. Noch Schiller hat dieses tote Symbol bemüht: »nur Helios vermag's zu sagen, der alles Irdische bescheint«, und Heine, der bei Grimm in die Schule gegangen ist, belebt das Symbol: »Sonne, du klagende Flamme.« Natürlich ist immer ein wenig Angst dabei, wenn ein Gott als Zeuge oder Bürge angerufen wird; aber eigentlich fürchtet niemand mehr das augenblickliche Einschreiten eines rächenden, wunderwirkenden Gottes. So sinkt der lebensgefährdende Schwur durch den Unglauben zum Fluche herab, der die Luft nur stärker erschüttert als ein anderes Wort. Bei den Griechen wie bei uns wird schließlich ein wohlfeiles ideales Gut, anstatt eines realen und kostbaren zum Pfande gesetzt. Ich habe schon erwähnt, daß bei den Griechen wie bei uns die Ehre als Pfand bestellt werden konnte. Der Apostel Paulus ging noch weiter, wenn die Stelle (1. Kor. 15, 31) richtig überliefert ist: νη την ὑμετεραν ϰανχησιν, bei eurem Prahlen oder Rühmen, bei eurer angemaßten Ehre. Die heutige Christenlehre behauptet ungefähr, daß Gott, nach der geläuterten Vorstellung, auch ungerufen die Wahrheit schütze, die Lüge strafe. Diese Lehre ist dem alten wie dem neuen Testamente, wie dem ganzen Altertume noch fremd. Für Gläubige, wie für Zweifler kommt es beim Eide wie bei andern Rechtsgeschäften auf den Buchstaben an, auf die Form. Unser Bauer, der beim Aufheben der Schwurhand die andere Hand nach der Erde streckt, um die Strafe wie einen elektrischen Blitz nach der Erde abzulenken, ist nur ungebildeter als die Sophisten, die seit 2000 Jahren durch Buchstabenverdrehung den Folgen des Meineides zu entgehen suchen. Im Grunde ist diese Kunst, die Lüge durch einen geschickten Eid zu bekräftigen, noch viel älter. Autolykos ist schon bei Homeros der Meisterlügner; und Zeus, der nach dem uralten Sprichwort der Eide der Verliebten spottet, lachte auch schon über den schlauen Meineid des eben geborenen Hermes. Der schlaue Meineid wurde von jungen und alten Göttern geübt, und wenn Menschen sich seiner bedienten, fröhlich belacht. Die reservatio mentalis ist also keine Erfindung der Jesuiten. Die Kriegsgeschichte ist voll von schlauen Meineiden. Wie Zeus, lächelte einmal ein christlicher Bischof über den sophistischen Schwur, nach welchem seine Partei einen Waffenstillstand für einige Tage abschließen und die Nächte im Geiste ausnehmen wollte. Auch die Geschichte der Philosophie kennt eine solche »feierlichste Erklärung« mit einer reservatio mentalis; kein Geringerer als Kant, trotz seines kategorischen Imperativs, versicherte seinen Gehorsam »als Euer königl. Majestät getreuer Untertan« mit dem Hintergedanken, nur so lange gebunden zu sein, als der König lebte. Herder hatte mit seinem Tadel in diesem Punkte nicht unrecht. Ein historischer Ladenhüter ist die Geschichte von den gefangenen Römern, welche nach Rom zurückkehren durften, nachdem sie geschworen hatten, wieder zu Hannibal zurückzukommen. Sie kehrten bei ihrer Ausreise noch einmal zu den Karthagern zurück, und glaubten damit ihren Eid erfüllt zu haben. Aber der römische Rechtssinn tadelte diese perverse Klugheit. Das Christentum dachte freier; den Juden, Schon Vespasianus wurde belehrt μηδεν κατα Ιουδαιων ἀσεβες εἰναι (Joseph, d. bell. Iud. III. 10, 10 den Ketzern, dem Teufel brauchte man sein Wort nicht zu halten. Wer an das Wunder, an die göttliche Strafe nicht glaubte, der benutzte den Meineid, wie jede andere Lüge, als Waffe im Kampfe ums Dasein. Der Zweck heiligt die Mittel. Auch diesen Satz haben die Jesuiten nicht erfunden. Schon die Griechen zitierten gern einen Vers des Euripides: ἡ γλωσσ' ὀμωμαχ', ἡ δε φρην ἀνωμοτος. Und so wie Euripides haben die Rationalisten aller Zeiten den Eid, der für sie keinen religiösen Charakter mehr hatte, kritisiert, den Geist über den Buchstaben gestellt, den sittlichen Zweck über die veraltete Form. In allen diesen Nachmittagspredigten der praktischen Philosophie kehrt der banale Gedanke wieder, daß der Eid keine neue Verbindlichkeit schaffe, sondern nur die vorhandene Verbindlichkeit verstärke. An die Verstärkung durch die sakralen Worte glauben alle diese Popularphilosophen. Herodes hatte der Tochter der Herodias einen Schwur geleistet; also konnte der arme Mann nicht gut anders. Das Gelächter über gebrochene Noteide war mehr griechisch als christlich. Schon Sophokles lachte über die Frauen, die unter den Schmerzen der Wehen schwören, sich niemals mehr von ihrer Sehnsucht besiegen zu lassen. (Erst Arnim wagte den Scherz wieder aufzunehmen: »die Gräfin sagte leise, sie würde um keinen Preis der Welt je wieder in die Wochen kommen; doch die andern Frauen erklärten gleich, daß diese Redensart eben nicht im strengen Sinne zu nehmen, vielmehr als ein Eid anzusehen sei, den die Gefahr erpreßte; der also gerichtlich ungültig werde.« Derselbe Arnim spottet einmal frech genug über den Eid der Menschen. Die alte Zigeunerin fürchtet [»Isabella von Ägypten«, Ausg. v. Jacobs IV, 45], der tot-lebendige Bärenhäuter werde sein Versprechen nicht halten. Der Alraun antwortet: »Wie kann er denn? Es ist ja eben seine große Not, daß er als ein Geist sein Wort halten muß; ihr Menschen braucht das nicht, wenn ihr euch nicht eurer Seele wegen nach dem Tode fürchtet.«) Und daß der Meineid in der Griechenzeit ebenso häufig war wie heute, ebenso zu guten und schlechten Witzen Veranlassung gab wie heute, das beweist allein schon ein Vers des Komikers Diphilos, der als Fragment auf uns gekommen ist:

ὁρκος δ' ἑταιρας ταὐτο και δημηγογου·
ἑκατερος αὐτων ὀμνυει προς ὁν λαλει

Und in der frommen Elektra des Sophokles gibt Orestes Anweisung, wie die falsche Nachricht von seinem eigenen Tode durch einen Meineid zu bekräftigen sei. In alter und neuer Zeit wurden Meineide von schlauen Menschen geschworen, die den Aberglauben der Unschlauen zu großen und kleinen eigenen Zwecken benützten. Aber in alter und neuer Zeit bildete sich auch eine Schulmeinung oder gar Volksmeinung, die an die Götter und an die Zuverlässigkeit der Gottesurteile nicht mehr glaubte und darum mit dem Eide nichts mehr anzufangen wußte. Auf die Eidschwüre des Rhadamanthys beim Hunde, bei der Gans usw. will ich mich nicht berufen, weil νη τον χηνα gut an νη τον Ζηνα anklingen kann, wie unser Potzwetter an Gottswetter, weil der Schwur beim Hunde vielleicht Erbgut aus dem nahen Ägypten war. Aber auch Platon setzt voraus (Gesetze XII), daß der Eid im Streite mit der Gewinnsucht unterliegen müsse. So entstand eine Seelensituation, die den alten Eid zu einer leeren Redensart machte, so wurde aus dem Eide – wie gesagt – der Fluch. Für das redensartliche Fluchen hatten schon die Griechen ein besonderes Wort: ὁρκιλλεσϑαι, etwa: schwöreln. Der schon mehrfach erwähnte Schwur »bei meiner Ehre«, der je nach dem Charakter des Schwörenden etwas Wertvolles oder Wertloses zum Pfande setzte, war in skeptischen Zeiten eine banale Redensart; Falstaff, der bei seiner Ehre schwört, verpfändet einen Lufthauch; und schon Griechen und Römer schwuren bei der Treue, der πιστις, die doch dem Eide erst einen Sinn gegeben hätte. 2000 Jahre später, wieder in rationalistischer Zeit, nennt selbst der dünne Witz Rabeners den Eid »das gewöhnliche Sprüchwort eines gewissen Narren, welcher gar zu gern aussehen möchte wie ein Freigeist.« Und ferner: »einen Eid ablegen, ist bei Leuten, die etwas weiter denken als der gemeine Pöbel, gemeiniglich nichts anderes, als eine gewisse Zeremonie, da man aufrecht steht, die Finger in die Höhe reckt, den Hut unter dem Arme hält und etwas verspricht oder beteuert, das man nicht länger hält, als bis man den Hut wieder aufsetzt. Mit einem Worte, es ist ein Kompliment, das man Gott macht.« Oder dem Teufel, möchte ich hinzufügen dürfen. Dem Fluchgotte, der von je der Schwurgott war, bei Heiden, Juden und Christen. Wollte die Kirche oder der Staat den alten Eid zu neuen Ehren kommen lassen, es gäbe dafür keine bessere Formel als feierlich und laut die Worte sprechen zu lassen: »Der Teufel soll mich holen, wenn ich gelogen habe!« Gar mancher Gottesleugner fürchtet noch den Teufel.

III.

Als der Eid seinen Sinn verloren hatte, kamen die Bestrebungen auf, den Eid abzuschaffen. Bei Griechen und Christen schien der Eid bald der Heiligkeit des Gottes, bald der Heiligkeit des Menschen zu widersprechen. Für und wider den Eid hätte man sich auf heilige Schriften beziehen können: auf die Dichter, auf die Bibel. Man entschied sich wider den Eid, als die öffentlichen Zustände die Häufigkeit des Meineids offenbar machten. Erst dann, als der Eid nicht mehr für die Wahrheit bürgte, also nachträglich und zu spät, kam man bei Griechen und Christen zu der ethischen Lehre, daß ein Handschlag sieben Eide wert sei, daß man einen Ehrenmann mit der Forderung eines Eides beleidige. Es ist kein moderner Witzblattwitz, sondern ein altes Wort des Isokrates: wer schwört, ist verdächtig. Mit Berufung auf das Ja ja, Nein nein, verwarfen den Eid fast alle christlichen Ketzer: die Katharer, die Albigenser, die Waldenser, die Baptisten, die Mennoniten, die Quäker. Ein ganzer Orden, die Benediktiner, nahm das Recht in Anspruch, nur einmal zu schwören, bei der Aufnahme in den Orden, und nachher nie wieder. Aber inzwischen hatte der Staat, von Hause aus gottlos, den Eid unter seine Institutionen aufgenommen, und was vorher als ein religiöser Akt immerhin bei Gläubigen wenigstens einen gewissen Schauer erregte, wurde jetzt durch Alltäglichkeit profaniert, auch an ehrlichen Eiden. Das Christentum war Staatsreligion geworden und der Staat mißbrauchte den religiösen Eid zu seinen Zwecken. Die Kirche segnete diesen Eid. Thomas von Aquino nahm ihn in sein System auf. Aus dem Compendium Summae Theologicae:
Es giebt zwei Arten zu schwören, per simplicem dei contestationem vel per exsecrationem i. e. cum jurans ad poenam se obligat.
Schwören ist erlaubt cum debitis circumstantiis, in re gravi cum necessitate.
Auch bei Creaturen darf man schwören.
Ein Gelübde verpflichtet stärker als ein Eid.
Da die Kirche von einem Gelübde entbinden kann, kann sie auch vom Eide, als der geringeren Pflicht entbinden ..., ist es zweifelhaft, ob der Eid auf eine erlaubte Leistung gieng oder nicht, kann der Bischof entbinden; von einem tadellosen Eide kann nur der Papst entbinden.
Ich gehe auf diese besonders katholische Eidesmoral nicht näher ein; ganz so unchristlich waren die Heiden denn doch nicht.
Und die protestantische Theologie blieb nicht zurück; sie akzeptierte den Gerichtseid, den Untertaneneid, den Fahneneid. Doch schon bald nach Luther sagt ein Jurist über die neue Eidesgewohnheit: »vor Zeiten, wenn ein Eid sollt geschworen werden, da stunden einem die Haar zu Berg, im Fall einer gleich mit gutem Gewissen hätte schwören können. Jetzt spricht man anders. Schwöre nur! frissest mit dem selben Maul und Finger gleichwohl Kraut.« Der Staat hat den Eid in seinen Prozeß, d. h. in die Psychologie seiner Rechtsfindung aufgenommen, aber der Eid mußte ein religiöser Akt bleiben oder verschwinden. Man hat in England einem Erwählten des Volkes den Eintritt ins Parlament verweigert und behauptet, ein Agnostiker könne den vorgeschriebenen Eid nicht leisten. In Deutschland hat sich ein christlicher Zeuge geweigert, einem jüdischen Richter den Eid zu leisten. In Italien hat ein liberaler Minister, Mancini, die französische, interkonfessionelle Eidesformel verteidigt und nicht bemerkt, daß auch die Redensart: je le jure, keinen Sinn mehr hat, wenn man ihr den Sinn der Selbstverfluchung nimmt. Der Abgeordnete Windthorst hat einmal höhnen wollen, als er den Vorschlag machte, den religiösen Eid für Gottesleugner durch die Formel zu ersetzen: »ich versichere bei Strafe des Zuchthauses«; in Wirklichkeit denkt der Richter, wenn er nicht zufällig und ausnahmsweise ein gläubiger Mann ist, genau so über den Eid, wie der Hohn Windthorsts es ausdrückte. »Was man unter einem Eide versteht, das wissen Sie!« So beginnt der Richter gewöhnlich seine Vermahnung. Der Richter und der Schwurpflichtige tun, als wüßten sie das wirklich. Diese Frivolität des Staates nun hat es erreicht, daß der Eid die Stütze des Unrechts geworden ist, Meineide täglich und stündlich abgeleistet werden. Kein waches Auge kann das übersehen. Die Statistik der durch neue Prozesse konstatierten Meineide reicht nicht aus. Freilich wäre auch ein Hinweis auf besonders krasse Fälle (eine Meineidbande in Berlin, deren einzelne Mitglieder 20 und mehr Meineide geschworen hatten; Talleyrand, dem ein Historiker mehr als 40 feierliche Meineide nachgewiesen hat) nicht überzeugend; fabrikmäßige Stellung von Meineiden dürfte immerhin nicht alltäglich sein. Sieht man sich aber im Leben um, verfolgt man nicht bloß die großen Sensationsprozesse, bei denen die Öffentlichkeit den Zeugen auf die Schwurfinger sieht, achtet man auf die unzähligen Bagatellprozesse um Mein und Dein, und um kleinere Vergehen, dann wird man zu der Überzeugung kommen, daß unzählige falsche Zeugeneide, Manifestationseide geleistet werden. Das öffentliche Gewissen mißtraut ganzen Kategorien von Eiden, wie z. B. den Eiden der sog. Sachverständigen, ebenso den Eiden von unteren Polizeiorganen, wenn es sich um die sog. Ehre der Polizei handelt, d. h. um ihre Macht. Im Interesse des Dienstes, im Interesse des Standes werden Meineide geleistet. In der hohen Politik wird mehr ohne Eid gelogen, weil die internationale Sitte fortgeschritten genug ist, den Eid nicht mehr zu dulden. Jeder erfahrene Richter weiß, und nur der Gesetzgeber will es nicht wissen, daß von den Parteien im Zivilprozeß, von den Zeugen im Kriminalprozeß in allen Ländern unzählige Meineide geschworen werden um großer Vorteile und Interessen willen, aber auch für ein Trinkgeld oder gar aus Bequemlichkeit, einer flüchtigen Bekanntschaft zuliebe. So ist der Eid wie die verwandte Institution der alten Ordalien zu einer gemeinen Waffe geworden gegen das Recht, gegen die Wahrheit. Der altgläubige Bauer mag sogar vor einem wahren Eide zurückscheuen, mag so aus Gottesfurcht dem Gegner den Gegenstand des Streites freiwillig überlassen. Der gerissene Städter und auch schon der skrupellose Dörfler weiß den Eid anders zu benützen. Wirklich wie der Räuber seine Waffe benützt. Genau so wie ein guter Schütze oder Fechter als berufsmäßiger Duellant die Institution des Duells, des alten Ordals, zu seinem Vorteil ausnutzt, gegen das gute Recht. Gewiß, es gibt Lagen, wo zwei Menschen das starke Gefühl haben, daß einer von ihnen aus der Welt hinaus müsse. Das gegen die prinzipiellen Duellgegner. Aber das Duell als Institution ist, und aus den gleichen Gründen, eine Räuberwaffe geworden, wie der Eid. Ganz abgesehen von den alltäglichen Fällen, wo der Eid wie das Duell von den schlauesten Kennern der Menschen und der Zeit zum Bluff gegen das klare Recht mißbraucht wird. (Vgl. Art.  Ehre IV.) Man glaube ja nicht, so ketzerische Gedanken über Eid und Gottesurteil seien gar neu. Nur ein Beispiel, ein durch einen blasphemischen Übermut besonders starkes. Im recht weltlichen Gedichte des Meisters Gottfried von Straßburg, der ja eben nicht von Adel war, soll Isolde sich von dem Verdachte reinigen, Tristans Geliebte, ihrem seelenguten Marke ungetreu zu sein. Sie wagt die Probe des glühenden Eisens auf den Eid: nie habe ein Mann bei ihr gelegen als Marke und der Pilger, der (es war Tristan, verkleidet, und das Ganze eine abgekartete Sache) eben vor den Augen aller mit ihr hingefallen war und ein Weilchen neben ihr gelegen hatte. Beim Gottesgericht entscheidet Gott für diesen hinterlistigen, innerlich unwahren Eid. Und der Dichter sagt:

Da wart wol geoffenbäret
unde al der Werlt bewäret,
daz der vil tugenthafte Krist
wintschaffen als ein Armel ist:
er füget unde suchet an,
do man'z an in gesuchen kan,
als gefüge und alse wol,
als er von allem Rechte soll.
Er ist allen Herzen bereit,
ze durnehte (Wahrheit) unt ze trugeheit.
Ist es Ernest ist es Spiel,
er ist je, wie man will.

Und diese List erfand Isolde nach Gebet und Fasten mit Hilfe des lieben Gottes:

Im stillen Herzen hoffte sie
Getrost auf Gottes Courtoisie.

Blasphemisch habe ich die Worte genannt; Gottfried ist ein Weltkind, aber eine Stelle fand ich, wo er gottlos-mystisch wird, fast wie Angelus Silesius (Hertz S. 124), bei der Abfahrt zum Kampfe mit Morolt:

Ja, Gott muß wahrlich mit mir siegen,
Oder sieglos mit erliegen.

Man wird also in künftigen Zeiten von unserm Eide als einem Helfer bei der Rechtsfindung kaum anders urteilen, als heutzutage etwa von der Wasserprobe bei Hexenprozessen geschieht. Ich wollte versuchen, dieses Urteil jetzt schon auszusprechen. Jeder Richter weiß, daß wahr ist, was ich über die Häufigkeit des Meineides gesagt habe. Jeder verständige Richter weiß, daß der alte Sinn des Eides, die Besinnung auf die Gottheit, bei der Ablegung des Eides ebenso selten geworden ist wie echte Religiosität, und daß heutzutage nur noch die strenge Strafandrohung, aus der theologischen Zeit übrig geblieben, bei der Mehrzahl der Schwörenden als Hemmung von Einfluß ist. Gesetzgeber und Richter sollten wissen, daß dieser Gegensatz zwischen dem religiösen Institut des Eides und der irreligiösen Gegenwart den Richter wie den Schwurpflichtigen zu Komödianten macht. Man höre nur mit scharfem Ohre, wie der leitende Richter gewöhnlich tonlos und mit schlechtem Gewissen bei seiner Vermahnung einige Worte von den jenseitigen Folgen eines Meineides brabbelt, wie er dann scharf und bestimmt auf die diesseitigen Strafandrohungen hinweist. Man mag als Monarchist bedauern, daß die abendländischen Völker den Glauben an die göttliche Einsetzung der Obrigkeiten so gut wie verloren haben; man mag als Menschenfreund noch mehr bedauern, daß der einzelne Bauer und Arbeiter den letzten Halt seiner inneren Ruhe, das letzte Asyl in der Angst vor dem schweren Lebensrätsel eingebüßt hat: über die Tatsache sollte man nicht hinwegsehen. Dieser Tatsache widerspricht die Festhaltung an der alten Eidesform, die unter allen Lügen unsres Zeitalters sowohl die alltäglichste als die feierlichste ist.

IV.

Mir handelt es sich besonders um zwei Punkte, welche beide den Eid mit der Erkenntnistheorie in Verbindung bringen. Erstens soll der Zeugeneid die objektive Wahrheit herausbringen helfen, und wir sind wohl darüber einig, daß der Zeuge bestenfalls nur etwas über seinen subjektiven Eindruck aussagen könnte. Zweitens gilt der Zeugeneid allgemein für ein Beweismittel, und die neuere Psychologie weiß, daß Feierlichkeit den Wert von Zeugenaussagen nicht erhöht. Wer je die Seelensituation eines Zeugen an sich selbst oder an andern aufmerksam beobachtet hat, wird mir darin beistimmen, daß gerade der gewissenhafte Zeuge im stillen Kämmerlein sich auf alle Umstände noch so sorgsam erinnert haben mag, vor dem Apparat des Gerichtssaals aber fast regelmäßig in einen Zustand der Hypnose gerät, in dem er spricht, was irgend gewünscht wird, in dem unbewußten Bestreben, nur aus diesem Saale wieder hinaus zu kommen. Der erste Punkt ist aber darum so wichtig, weil der Begriff des Falscheides, des fahrlässigen, der kein bewußter Meineid ist, strafrechtlich und logisch ganz und gar sinnlos ist, wenn ein Abweichen von der objektiven Wahrheit, auch ohne Bewußtsein, zu moralischem Verschulden des Schwurpflichtigen gemacht wird. Die deutsche Gerichtspraxis leidet an einer Art Strafsucht. Man will den armen Teufel, der dem Gerichte durch eine objektiv unwahre Zeugenaussage Unbequemlichkeiten gemacht hat, dafür wenigstens einige Monate Gefängnis zudiktieren, für den sogen. Falscheid. Er hätte sein Gedächtnis schärfen sollen, durch Anrufung der Gottheit. Das schlechte Gedächtnis wird da bestraft. Ein andermal vielleicht Kurzsichtigkeit oder Schwerhörigkeit. Die furchtbar harten Strafen für den Meineid, vieljährige Zuchthausstrafen, die die Existenz vernichten, hatten ihren guten Sinn, als der Eid noch etwas wie ein Gottesurteil war und der Richter die Rache Gottes an dem Schuldigen vollstreckte. Für den gottlosen Staat ist der Meineid wirklich nur noch eine »Versicherung bei Strafe des Zuchthauses«. Die entsetzliche Strafe wird ausgesprochen und vollzogen, weil sie in der ungeschriebenen Definition mitenthalten ist. Durch Tradition ererbt aus der Zeit, da der Eid noch eine Selbstverfluchung war. Meineid ist eine Lüge wie eine andere. Eine Lüge wird sonst nicht bestraft, außer an Kindern, aus Erziehungsgründen (wobei nicht zu vergessen, daß bei den Spartanern Lügen und Stehlen zur guten Erziehung gehörte – und sich nicht ertappen lassen). Lügen vor Gericht könnte behandelt werden wie jede andere Ungebühr vor Gericht; die Höhe der Strafe könnte wie bei Eigentumsdelikten immerhin von der Höhe des Schadens abhängig gemacht werden. Jetzt wird der Meineid, ohne daß der Staat es eingesteht, sinnlos wie andere Gotteslästerungen überhart bestraft. Die Weltanschauung von uns Erwachsenen ist mit durch das Ausbleiben göttlicher Wunder, durch das Ausbleiben göttlicher Strafen dazu geführt worden, an der Existenz des alten persönlichen Gottes zu zweifeln. Der an sich gottlose Staat weiß offiziell nichts von dieser Weltanschauung; er hält die Fahne des Meineides hoch und straft an Stelle dessen, den er nicht glaubt. Nur Abschaffung des Eides und Vernichtung des religiösen Meineidbegriffs kann helfen. Gegenwärtig prostituiert der Staat das Rechtsgefühl, indem er, der den Aberglauben überall zu bekämpfen vorgibt, den uralten Aberglauben der Selbstverfluchung und des Gottesurteils verewigen hilft. Eine Wage hat er zum Symbol des Rechts gemacht. Jawohl, eine Wage, wie der homerische Zeus das Geschick Hektors vom Ausfall der Wage abhängig macht; was man heute weniger klassisch und poetisch »an den Knöpfen abzählen« nennen könnte. Und die Kirche prostituiert sich selbst und den Namen ihres Gottes, wo immer sie schweigt zu dem Mißbrauche des Eides. Wenn es eine Naturreligion gäbe, so könnte sie die Abschaffung des Eides nicht schöner verlangen, als die offenbarte christliche Religion es an entscheidender Stelle tut, in der Bergpredigt. Wenn wir ein Naturrecht besäßen, ein Recht, das mit uns geboren ward, so hätte längst der Eidbegriff des historischen, allzuhistorischen geschriebenen Rechts abgeschafft werden müssen. Gottesfeinde und fromme Priester haben diese Abschaffung oft verlangt. Ich aber suche meine Eideshelfer gegen den Eid bei stärkern Geistern. Demosthenes sagt, Leben und Charakter des Schwörenden sei entscheidend, nicht der Eid; wer nicht schwöre oder ungern schwöre, sei glaubwürdiger, als wer den fürchterlichsten Eid schwöre. Lichtenberg wagt den schönen Satz: »Ein Gelübde zu tun ist eine größere Sünde als es zu brechen.« Und nun gar der tief religiöse und scharfsinnige Kant. Im Jahre 1793 schrieb er, politisch aufgeregt, ein aufgeklärter Mystiker »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.« Vom Dienst und Afterdienst, von Religion und Pfaffentum hatte er eben gesprochen; die Religion fordere selbst vom Dasein Gottes kein Wissen; die geoffenbarte Religion würde eigentlich aus der Welt verschwinden, wenn nicht eine von Zeit zu Zeit öffentlich wiederholte (man merkt doch die Ironie) oder in jedem Menschen innerlich eine kontinuierlich fortdauernde übernatürliche Offenbarung zu Hilfe käme. Jesus Christus, der Stifter, nicht der reinen Religion, sondern nur der ersten wahren Kirche, habe auch den Eid verurteilt. Der Eid tue der Achtung für die Wahrheit selbst Abbruch, sei im Punkte der Wahrhaftigkeit das bürgerliche Erpressungsmittel. »Es ist nicht wohl einzusehen, warum dieses klare Verbot wider das auf bloßen Aberglauben, nicht auf Gewissenhaftigkeit gegründete Zwangsmittel, zum Bekenntnisse vor einem bürgerlichen Gerichtshofe von Religionslehrern für so unbedeutend gehalten wird. Denn daß es Aberglauben sei, auf dessen Wirkung man hier am meisten rechnet, ist daran zu erkennen: daß von einem Menschen, dem man nicht zutrauet, er werde in einer feierlichen Aussage ... die Wahrheit sagen, doch geglaubt wird, er werde durch eine Formel dazu bewogen werden, die über jene Aussage nichts weiter enthält, als daß er die göttlichen Strafen ... über sich aufruft, gleich als ob es auf ihn ankomme, vor diesem höchsten Gericht Rechenschaft zu geben oder nicht.« Und in der sehr spät herausgegebenen, aber viel früher vorbereiteten »Metaphysik der Sitten« wendet sich Kant noch schärfer gegen dieses Erpressungsmittel. »Man kann keinen andern Grund angeben, der rechtlich Menschen verbinden könnte, zu glauben und zu bekennen, daß es Götter gebe, als den, damit sie einen Eid schwören und durch die Furcht ... genötigt werden könnten, wahrhaft im Aussagen und treu im Versprechen zu sein.« Man rechne dabei auf einen blinden Aberglauben, bloße Märchen machen den Bewegungsgrund aus. Kant beruft sich auf Schwurgebräuche wilder Völkerschaften. Ein solcher Glaube, dessen Name Religion ist, sollte eigentlich Superstition heißen. Es kann kein Zweifel sein, daß Kant seine Beispiele nur darum von Sumatra und Guinea geholt hatte, um den dem Eide zugrunde liegenden Glauben nachher behaglich einen Aberglauben nennen zu können. Besonders diese zweite Stelle hat einen frommen Tübinger Gelehrten zu zwei Traktätlein veranlaßt, die in politischer Beziehung (man hört schon Schlagworte aus der französischen Republik) nicht uninteressant sind, und die Kant dennoch mißbilligend wie einen revolutionären Sprudelkopf behandeln. Wichtig ist es nur, wie der gar nicht dumme Verfasser, ein Anonymus, schon ganz klar sieht, daß ein atheistischer Staat den Eid wirklich abschaffen müßte, daß er also, um den Eid zu retten, gegen Kant die These aufstellt: ein erklärter Gottesleugner dürfe im Staate nicht geduldet werden. Aber ich muß ehrlich hinzufügen, daß Kant nach so vernichtenden Worten in einem sehr gewundenen Satze doch diesen Geisteszwang (tortura spiritualis), als ein behenderes und dem abergläubischen Hange der Menschen angemesseneres Mittel der Aufdeckung des Verborgenen, für berechtigt hält. Kein zünftiger Philosoph und kein berühmter Mann, aber ein Menschen- und Rechtskenner war der jüngst verstorbene James Mathew, Ire, Lord Justice of the Court of Appeal, also ein erfahrener Richter; er sagte einmal: »Die Kraft der Wahrheit ist so groß, daß sie sogar bei einem Schwure herauskommen kann.« Also trotzdem

daß der viel tugendhafte Christ
Windschaffen wie ein Ärmel ist.

 


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