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Grenzbegriff

– Das deutsche Wort Grenze bietet ein Kuriosum dar, insofern es aus dem Slawischen seit dem 13. Jahrhundert langsam in die deutsche Gemeinsprache eingedrungen ist; granica (tschech. hranice) kam wohl als Lehnübersetzung von Mark zuerst im deutschen Ordenslande (nach Kluge) auf; in Österreich heißen noch zwei Provinzen nach diesem Worte: die Militär grenze (jetzt politisch an Ungarn angegliedert) und Krain. Alle Versuche, die Herkunft des slawischen Wortes zu deuten, sind ebenso gewagt wie Eberhards Einfall, Geritze für die wahre Wurzel des Wortes Grenze auszugeben. Uns interessiert mehr als diese deutsche Wortgeschichte die reiche Sippe, zu welcher lat.  limes (von lat.  limus, limen) im Französischen und im Englischen sich entfaltet hat; zu dieser Sippe gehört auch der philosophische und der mathematische Grenzbegriff; der philosophische und der mathematische Begriff Grenze ist sicherlich eine Übersetzung, ich wüßte aber nicht zu sagen, ob unmittelbar von lat.  limes oder von franz.  limite oder von engl.  limit. Kant gebraucht das Wort einmal an einer schwierigen Stelle (Krit. d. rein. Vern., S. 310), die man im Zusammenhange nachlesen mag. Der Begriff eines Noumenon sei bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken (Fichtes Schranke?) und also nur von negativem Gebrauche. »Unser Verstand bekommt nun auf diese Weise eine negative Erweiterung, d. i. er wird nicht durch die Sinnlichkeit eingeschränkt, sondern schränkt vielmehr dieselbe ein, dadurch, daß er Dinge an sich selbst (nicht als Erscheinungen betrachtet) Noumena nennt. Aber er setzt sich auch sofort selbst Grenzen, sie durch seine Kategorien zu erkennen, mithin sie nur unter dem Namen eines unbekannten Etwas zu denken.« In zwei Punkten, die einander seltsam zu widersprechen scheinen, ist dieser Begriff dem Grenzbegriffe der Mathematiker sehr ähnlich: er ist ein Idealbegriff und er ist negativ. Man könnte es so ausdrücken: ein Grenzbegriff ist, was man sich nicht vorstellen kann und dennoch denken muß; oder: was man nicht denken kann und dennoch nur denken kann. Mit mathematischen Grenzbegriffen operieren eigentlich schon unsere Schüler ahnungslos wie mit dem kleinen Einmaleins, wenn sie von der Unendlichkeit des Raumes und der Zeit schwatzen müssen, wenn sie mit Irrationalzahlen rechnen lernen; selbst das gewöhnliche Zählen führt zu dem Grenzbegriffe, weil es das Fortschreiten von n zu n + 1 ins Unendliche fortsetzen lehrt. Ganz geläufig ist den Mathematikern, daß die Summe einer Klasse der Reihenzahlen (z. B. ½ + ¼ + ⅛ usw.), ins Unendliche fortgesetzt, sich dem Werte 1 nähert, doch so, daß der Unterschied immer kleiner wird, endlich kleiner als irgendeine angebbare Zahl; dann heißt 1 die Grenze dieser Reihe. Die Gleichsetzung, von der die höhere Mathematik praktisch alltäglich Gebrauch macht, ist in der Theorie Negation und Ideal zugleich, ein unerreichbares Ideal. Den Widerspruch zu heben, haben sich die besten Mathematiker seit hundert Jahren umsonst bemüht. Nur die Schwierigkeit der Frage deutlich zu machen, nicht mich ihrer Lösung zu nähern, darf ich hoffen durch ein Gleichnis oder ein Beispiel. Alle räumlichen Grenzflächen und Grenzlinien sind schon negative Idealbegriffe oder Gedankendinge oder Noumena; es gibt außer und neben einem Würfel nicht noch besondere Grenzebenen und Grenzkanten dieses Würfels. Stellen wir uns aber die Wirklichkeitswelt als ein Kontinuum vor, so gelangen wir zu dem Paradoxon, daß die Grenze von dem Standpunkte des Betrachters abhängt und so ganz verschieden vorgestellt wird. Für den Fisch ist die Grenze der Wasserspiegel, d. h. eine unendlich dünne Wasserfläche, für den Vogel ist dieselbe Grenze eine unendlich dünne Luftebene. Und so überall. Wir nennen den Raum unendlich, wir nennen die Zeit unendlich, weil wir im Raume und in der Zeit wie ein Fisch im Wasser leben und uns die Grenze des Raumes noch als Raum, die Grenze der Zeit noch als Zeit vorstellen müssen. Ein sinnliches Wesen, das über Raum und Zeit schwebte wie der Vogel über dem Wasser, würde vielleicht das, was wir das unbekannte Etwas nennen, als unendlich vorstellen, unsern Raum und unsere Zeit jedoch begrenzt nennen, ein unbekanntes Etwas nennen. Weiter, wenn's möglich ist. Für uns sinnliche Menschen ist das Ding-an-sich ein Grenzbegriff, eigentlich negativ und ideal; für ein Wesen aus der Welt der Dinge-an-sich wären unsere sinnlichen Menschendinge ebensolche Grenzbegriffe, negativ und ideal.

 


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