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Ich habe keine Neigung, mit andern Worten noch einmal vorzutragen, was ich (Kr. d. Spr. I 2 S. 448-541 und dann wieder 541-608) über die Rätsel des Gedächtnisses gesagt habe. Ich habe die Rätsel nicht lösen können; ich glaube, daß der richtigen Lösung wieder einmal die Frage im Wege steht, die sich in dem Worte versteckt hat, das wir erklären wollen. Die Philosophie weiß niemals, wie scholastisch ihre Sprache immer ist. Ich will nur einige Punkte noch einmal kurz hervorheben, in denen ich versucht habe, den Sprachgebrauch der Psychologie ein wenig genauer zu bestimmen; und habe nur wenig hinzuzufügen. Von dem Gedächtnisse als von einer besonderen Seelenkraft zu reden, wäre doppelt scholastisch, weil da sowohl der Seele als der Kraft etwas wie Dinglichkeit unterschoben würde. Hat man das Gedächtnis als eine Eigenschaft erkannt, als eine Eigenschaft, die jeder Wahrnehmung und jeder Vorstellung anhaftet, so droht die andere scholastische Gefahr, das Gedächtnis, das dann sehr unglücklich mit einem Substantiv bezeichnet wird, der adjektivischen Wirklichkeitswelt zuzusprechen. Hat man endlich eingesehen, daß Gedächtnis immer aktiv ist, immer eine Tätigkeit, und nichts außer und neben dieser Tätigkeit, so droht die dritte scholastische Gefahr, die Erscheinung durch ihren verbalen Charakter für besser erklärt zu halten. Ich kann die sprachliche Form der Lösungsversuche nicht für entscheidend halten, trotzdem die geleistete Arbeit bei diesem Wechseln des Standpunktes nicht gering war; ob ich sage: »das Gedächtnis ist in der psychischen Welt eine Energie wie die Trägheit in der physischen Welt«, oder: »die Wahrnehmungen und Vorstellungen besitzen die Eigenschaft, mit langsamer Abschwächung konstant zu bleiben«, oder: »wir wissen nur, daß es ein Erinnern gibt, wie es ein Leben gibt«, ob ich also dem Rätsel des Gedächtnisses durch ein substantivisches, ein adjektivisches oder ein verbales Lösungswort beizukommen suche, ich dringe über die scholastische Sprache nicht hinaus, d. h. über eine Sprache, die lieber mit historischen anstatt mit verständlichen Begriffen arbeitet. Nun ist aber das Gedächtnis eins mit der Sprache und wiederum eins mit dem Bewußtsein; es ist also kein Wunder, wenn ich weder in meinem Bewußtsein noch in meiner Sprache eine Möglichkeit finde, das Gedächtnis zu erklären; ich müßte denn an die Existenz einer Übersprache, eines Überbewußtseins, eines Übergedächtnisses glauben. Dem einheitlichen Bilde der gegenwärtig mächtigsten Weltanschauung, die die physische Welt durch den Arbeitsbegriff zu verstehen, und die innere Welt durch den gleichen Begriff dem Verständnisse näher zu bringen glaubt, würde freilich die verbale Benennung des immer aktiven Gedächtnisses am besten entsprechen. Die längst bekannten Verbindungen des Gedächtnisses mit den sog. Assoziationsgesetzen, mit der Zeitvorstellung, mit der Hörbarkeit unserer Lautsprache würden sich unter dem Begriff des Erinnerns systematischer ordnen lassen. Insbesondere die Lehre, daß sowohl das Sprechen als das Verstehen auf Bewegungserinnerungen beruhe, könnte ein Licht werfen auf den physiologischen Vorgang, den wir so unfaßbar unter dem Worte Gedächtnis zusammenfassen. Die Lehre würde sich recht gut dem Weltbilde der Pragmatisten einfügen lassen; und Bergson, der feine Metaphysiker des Pragmatismus oder des Aktivismus (es ist nicht leicht, zwischen diesen beiden -ismen zu unterscheiden), denkt zwar nicht an eine Gleichsetzung von Sprache und Gedächtnis, weiß aber doch schon, daß Erinnerung eine Art Bewegung sei. Er drückt das wunderlich genug aus, wenn er (»Materie und Gedächtnis« S. 140) sagt: »Meine Gegenwart ist ihrem Wesen nach sensorisch-motorischer Art.« Man muß daneben halten, daß Bergson den psychischen Zustand, den er meine Gegenwart nennt, ohne Mitwirkung der Erinnerung gar nicht zustande kommen läßt. Genau genommen, wäre die Ursache unserer gegenwärtigen Bewegungen immer in der Vergangenheit, d. h. in der Erinnerung zu suchen. Ich fürchte nur, weder in der Sprache der Gegenwart noch in der Sprache der Vergangenheit (eine Sprache der Zukunft gibt es leider nicht in der Gegenwart) verständlich ausdrücken zu können, was ich jetzt über die Proportionen Gedächtnis und Sprache, Vergangenheit und Gegenwart, hinzufügen möchte. Wir haben immer nur ein Wort, und es bedeutet doch nicht dasselbe. Die Sprache, die meine gegenwärtige Tätigkeit ist, mein gegenwärtiges Hervorbringen von Worten, ist unweigerlich gebunden, in jedem Laute abhängig von der Sprache, die nichts ist als Erinnerung, die Erinnerung des Menschengeschlechts und besonders meines Volkes. Darum läßt es sich in keiner Weise sagen, ob die Gegenwart oder die Vergangenheit die Bewegungen leite, die je nach der Richtung unserer Aufmerksamkeit als Arbeitsleistung unseres Gedächtnisses oder unserer Sprache aufgefaßt werden. Die Sache wird nur scheinbar und nur für einen Augenblick dadurch besser, daß wir für die substantivischen Begriffe die verbalen Ausdrücke Erinnern und Sprechen eintreten lassen. Es tritt da nur noch das neue Rätsel hinzu: wie wir es möglich machen, mit Materialien aus der Vergangenheit Bewegungen auszuführen, die einem künftigen Zwecke dienen; denn ohne den Zweckbegriff haben die verbalen Ausdrücke, wie wir gelernt haben, keinen Sinn. Ist aber das Gedächtnis eine Arbeitsform, eine Bewegung, ist das Gedächtnis eine Tätigkeit der Vorstellung, so wie die Sprache eine Arbeit, eine Bewegung, eine Tätigkeit ist, so fällt ein neues Licht auf die paradoxe Behauptung, daß auch das Vergessen keine Negation sei, sondern eine andere und sehr wichtige Tätigkeit des Gehirns. Ich habe (Kr. d. Spr. I 2 532) an ein Wort von Jakob Böhme erinnert, der die absolvierte Schuld mit dem Holzscheite im Kamin vergleicht, weil beide unser Wohlsein steigern, indem sie zerstört und verzehrt werden. »Auch das Verbrennen des Holzscheits ist dem sprachlichen Ausdruck nach eine Negation; wir wissen aber seit hundert Jahren, daß das Verbrennen ein positiver Vorgang ist, an welchem sich die Erhaltung der Energie am allerbesten nachweisen läßt. Gäbe es ein Vergessen als reine Negation, so wäre das Gesetz der Erhaltung der Energie für unser geistiges Leben nicht vorhanden.« Nun habe ich (a. a. O. 519 f.) gelehrt, daß es nicht etwa ein Fehler, sondern vielmehr eine wesentliche Eigenschaft des menschlichen Gedächtnisses ist, alle Erfahrungen zu merken, die einer vorgefaßten Meinung, einem Glauben, also der vermeintlichen Wahrheit entsprechen, alle Erfahrungen hingegen zu vergessen, die dem Vorurteile widersprechen. Woher es denn auch kommt, daß unsere Sprache immer im Besitze der Wahrheit zu sein glaubt; woher es kommt, daß die Unwissenheit und Dummheit der Menschen so unsäglich schwer auszurotten sind. Aber ich habe schon (a. a. O. S. 526) von ferne auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, die Grundeigenschaft des Gedächtnisses, daß es nämlich ein wesentlich falsches Gedächtnis sei, biologisch zu deuten. Die Erblichkeit der organischen Formen ist ja immer nur ein Schema, wie ein absolut treues Gedächtnis nur ein schematisches Ideal ist; innerhalb von typischen Grenzen, die freilich das unaufgeklärte Geheimnis der Erblichkeit bleiben werden, assimiliert der neue Organismus die neuen Eindrücke zu Änderungen, wie das Gedächtnis neue Erfahrungen seinen Begriffen assimiliert; bei den Organismen sprechen wir von einer Anpassung, erklären aus ihr die Entwicklung, und bedenken nicht, daß sie das Leben überhaupt erst möglich macht; überall aber, wo wir, gemeinsprachlich oder neu, das Gedächtnis wirksam sein lassen, bei der biologischen Anpassung, bei den Instinkthandlungen der Tiere wie bei der Bildung der sprachlichen Begriffe und ihrer Anwendung, – überall kann die mikroskopische Beobachtung die wesentliche Eigenschaft des Gedächtnisses feststellen: Ähnlichkeit wird fälschlich für Gleichheit gehalten. Es gibt keine gleichen Fälle in der Wirklichkeit. Wir hätten keine Begriffe bilden können, wenn wir in Urzeiten Ähnlichkeit nicht für Gleichheit genommen hätten; und wir könnten die Begriffe nicht anwenden, wenn wir nicht ähnliche Wahrnehmungen für gleiche Wahrnehmungen halten würden. Das à-peu-près beherrscht unser Denken, wie übrigens das à-peu-près auch in unsern Maschinen herrscht, welche bis zu einer gewissen Fehlergrenze funktionieren, trotzdem sie nicht auf ein Mikron genau abgemessen sind und bleiben. Wobei freilich nicht zu übersehen, daß der Zweck des Abstrahierens, Begriffsbildens, Denkens schon erfüllt wird, wenn wir natürliche Arten, ähnliche Werkzeuge und Gedankendinge so behandeln, als ob sie gleich, als ob sie Einheiten wären. Wenn ich nun zu der Annahme neige, daß die von mir selbst vorgetragene Ausdehnung des Gedächtnisbegriffs von der Psychologie auf die Biologie eine sprachliche Willkür enthält, wenn ich vermute, daß das unbewußte Gedächtnis der organisierten Materie doch anders arbeitet als das bewußte Gehirngedächtnis, wenn ich einen Oberbegriff suche für diese beiden verschiedenen Tätigkeiten, so glaube ich diesen Oberbegriff jetzt ungefähr gefunden zu haben in der Anpassung. Das unbewußte Gedächtnis mit seiner Grundeigenschaft der Falschheit paßt sich an (bei der Entwicklung wie bei den Instinkthandlungen) der Umgebung; das bewußte Gedächtnis paßt, was es als Erinnerungen bereit hat, der Gegenwart an oder der Umgebung; und der Zeitbegriff, der in diese Erklärung hineinspielt, mag dafür sorgen, daß diese Erklärung nicht für mechanistisch gehalten werde. Worträtsel können durch Worte gelöst werden, nicht die Rätsel der Natur. Es sind nicht meine schlechtesten Leser, die einmal plötzlich mit der Frage unterbrechen, was denn solche sprachkritische Analyse oder Philosophie überhaupt für einen biologischen Nutzen habe; und der Pragmatismus, den ich eben für mich in Anspruch genommen habe, müßte diese Frage erst recht an sich selber stellen. Welchen Nutzen kann die Untersuchung darüber haben, ob das wohlbekannte Gedächtnis potentielle Kraft sei oder aktuelle Arbeit? Vielleicht doch einen recht großen. Wenn man nämlich aus der Lehre, daß Gedächtnis einzig und allein Tätigkeit ist, die Konsequenzen zöge für die Schule, deren Einrichtungen für die Jugenderziehung so veraltet sind wie der Inquisitionsprozeß mit seiner Tortur. Ich gehe nicht so weit wie James (Psychologie S. 297 f.), der jede Verbesserung des Gedächtnisses für unmöglich hält; es wäre nicht unmöglich, daß die Organe der Gedächtnisarbeit durch Einübung leistungsfähiger würden, wie sich das von den Organen der Muskelarbeit nachweisen läßt. Jedesfalls liegt der Schulpsychologie, die das Gedächtnis der jungen Leute durch sinnlose Übungen zu stärken glaubt, die alte Assoziationspsychologie zugrunde, die im Gedächtnisse das Gedankending Kraft sieht, und in den Vorstellungen andere Gedankendinge, mit denen diese Kraft spielen lernt. Ist aber das Gedächtnis nichts außer und neben seiner Tätigkeit, wie die Seele nichts ist außer und neben ihren Erlebnissen, so bleibt kein Gedankending übrig, das gestärkt werden könnte; der eiserne Wille, der sich selbst ein Vergessen brauchbarer Kenntnisse nicht durchgehen läßt, der sich mit Anstrengung erinnert, wo es ohne Anstrengung nicht geht, der ist Charaktersache; und in diesem Sinne ist das Gedächtnis eines Individuums allerdings unveränderlich wie der Charakter. Ganz abgesehen davon aber sind die sinnlosen Einübungen unserer Schule zum mindesten so nutzlos, wie es die Einübung falscher Muskeln für den erwünschten Gebrauch der Glieder wäre. Wer in seiner Jugend nichts weiter gelernt hat als auf seinen Händen zu gehen, kann nachher keinen Gebrauch davon machen, er wollte denn im Zirkus auftreten. Auf den Händen gehen, mit dem Kopfe abwärts, das ist die Hauptsache, worin unsere jungen Leute geübt werden. Bibelsprüche (in der Volksschule), sämtliche Nebenflüsse eines fremden Stromes (in der Mittelschule), Tabellen und fachmännische, in Nachschlagebüchern bereite Details (auf der Universität), das sind die Gedächtnisübungen, die mit der angeblichen Stärkung des Gedächtnisses verteidigt werden. Bei meiner rechtshistorischen Staatsprüfung sollte und mußte ich die dreizehn Vorrechte eines Kardinals aufzählen, nach der gottgesetzten Reihe, auch das Vorrecht auf ein Pallium durfte ich nicht vergessen, das von bestimmten Nonnen in einem bestimmten Kloster gewebt wird. Und die Schule sollte sich doch darauf beschränken, den Charakter des Schülers zu üben, den Charakter an die Arbeit zu gewöhnen, die nächsten oder die bequemsten oder die besten Wege zu finden zwischen brauchbaren Vorstellungen von der Wirklichkeitswelt.