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gehört trotz den einfältigen Anfängen und dann wieder den abgründigen Schwierigkeiten seiner Anwendung zu den Begriffen, von denen sich nur schwer sagen läßt, ob sie zu den Scheinbegriffen gehören: die eine Geschichte haben, aber nur eine Geschichte, eine Wortgeschichte, keinen Inhalt. Wie es in alten Familien allerlei Hausrat gibt, der gar keinen Wert hat, weder Nutzwert noch ästhetischen Wert, der aber von Zeit zu Zeit wieder gründlich gesäubert und an einen bevorzugten Platz gestellt wird. A priori hat, als Adverbium und als Substantivum eine sehr reiche Geschichte, die zur Füllung eines Buches hinreichen würde und mehr als einmal hingereicht hat. Ich möchte nur die wichtigsten Ereignisse aus der alten, der mittlern und der neuen Wortgeschichte kurz hervorheben. Als die Griechen ihrer Gemeinsprache, ihrer Muttersprache die Ausdrücke προτερον φυσει, προτερον προς ἡμας entnahmen, waren ihnen unsere erkenntnis-theoretischen Sorgen noch fremd. Aristoteles hatte bei diesen Korrelatbegriffen nur ungefähr die richtige Vorstellung, daß unser diskursives Denken nicht immer vorausnimmt, was in der Natur vorausgeht, und umgekehrt; Boëthius übersetzt den Gedanken so: non est idem natura prius et ad nos prius. Auch die Araber, durch die ja Aristoteles dem späteren Mittelalter wieder bekannter wurde, gebrauchten für die Psychologie des Denkens gern die Begriffe prior und posterior. Ebenso bescheiden hat noch Luther (in seinen Tischreden) die beiden Worte übersetzt mit von vornen her und von dem, was hernach folget. Aber schon bei den Griechen hatte sich in die unfertige Psychologie eine ganz unreife Erkenntnistheorie hineingemischt, da ein Lieblingsgegensatz der Griechen, der des Allgemeinen und des Besondern, mit dem des psychologisch Frühern und Spätern verquickt wurde. Und diese Verquickung allein führte bei den Scholastikern zu dem verstiegenen und fast substantivischen Gebrauche des Apriori. Nicht mehr auf das Verhältnis unserer Sinneseindrücke und Erkenntnisse wurde das Wortpaar angewandt, sondern auf die Art der logischen Beweisführung. Der Wortrealismus der Scholastik ging ja von der Annahme aus, daß die Universalien d. h. die Allgemeinbegriffe früher waren als die wirklichen Einzeldinge; da nun die fanatisch geglaubte Logik des Aristoteles erst recht deduktiv war, die allgemeinen Urteile den besonderen vorausgehen ließ, so bildete sich allmählich der Glaube heraus, daß die frühern Urteile wertvoller wären, als die spätern, in jeder Hinsicht, in ontologischer wie in logischer Hinsicht. Von Psychologie war keine Rede mehr. Nur der Nominalismus hätte diesem Unfug ein Ende machen können. Gleich beim ersten Auftreten der Formel a priori scheint diese hohe Wertung der apriorischen Urteile schon festzustehen. Es heißt da (bei Albert von Sachsen): Demonstratio quaedam est procedens ex causis ad affectum et vocatur demonstratio a priori et demonstratio propter quid et potissima – alia est demonstratio procedens ab effectibus ad causas et talis vocatur demonstratio a posteriori et demonstratio quia et demonstratio non potissima. Die Verquickung von Logik und Psychologie fällt bei der Anwendung dieser Begriffe nur besonders auf, durchzieht aber die ganze Gedankenwelt des christlichen Mittelalters. Aller logische Scharfsinn jener Männer versagte vor psychologischen Fragen, weil die Anfangsgründe aller Psychologie nicht vorhanden waren (denn Aristoteles hatte von der Tätigkeit der Sinnesorgane kindliche Vorstellungen) und weil das Endziel aller Psychologie damals mit dem Endziel aller Philosophie zusammenfiel: Vereinigung der Seele mit Gott. Eine einheitliche Weltanschauung gab es freilich und sie war nicht schwer herzustellen, ist nicht schwer zu rekonstruieren. Alle Psychologie führte zu Gott; alle Erkenntnis kam von der Logik und die Logik kam von Gott. Denn die Logik des Aristoteles war die Logik Gottes. Es lief also auf ein und dasselbe hinaus, ob man die wertvollsten Erkenntnisse die obersten oder die allgemeinsten oder die frühern, die apriorischen nannte. Langsam und schwer entwickelte sich in England aus dem Nominalismus die neue Weltanschauung, die unsere Erkenntnis auf unsere Erfahrung zurückführte, die unter dem Namen des Sensualismus das Abendland eroberte und im Begriffe war, die Formel a priori aus der Philosophie hinauszuwerfen, mitsamt den angeborenen Ideen, die sich nicht allzusehr von den apriorischen Ideen unterschieden. Da kam der deutsche Philosoph, nahm das Prunkstück aus Urvätershausrat vor, säuberte es und stellte es auf einen Ehrenplatz. Und wieder ist es schwer zu sagen, ob der Tiefsinn Kants durch Prägung eines neuen Wortes uns nicht deutlicher geworden wäre als durch Wiederbelebung des alten a priori. Kants Begriff des Apriori ist gewiß nicht logisch wie der scholastische; er will auch nicht psychologisch sein; will rein erkenntnis-theoretisch sein, transzendental. Und da ist es merkwürdig oder auch nicht, daß Kant die Bedeutung des griechischen Modellwortes umgewandelt oder von seiner Höhe aus übersehen hat. Apriorisch heißt bei Kant nicht mehr, was früher da ist, was zeitlich der Erfahrung vorausgeht; vielmehr: was erkenntnis-theoretisch die Erfahrung möglich macht. Was der menschlichen Erfahrung ihre Gestalt gibt, ihre Form. Das Formale an der Erfahrung. Wir werden (vgl. Art: Form) sehen, wie gänzlich leer der Formbegriff inzwischen geworden war. Aber Kant konnte den Formbegriff gut brauchen, weil er unter seinem Apriori bald die apriorischen Urteile, bald die großen Abstrakta aller unserer Anschauungen (Zeit und Raum), bald die Anlage des Menschengeistes zur Erkenntnis verstand. Die kühne und neue Frage der Vernunftkritik: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« – kann jetzt schroff damit beantwortet werden, daß synthetische Urteile a priori nicht möglich sind. Dadurch verliert Kants Fragestellung und seine unerhört tiefbohrende Beantwortung nicht ihren Wert. Kant ging nicht auf Subjektivismus in der praktischen Philosophie aus, wahrlich nicht; aber sein unumstößlicher Nachweis des apriorischen Einschlags oder vielmehr Grundgewebes in aller Erkenntnis hat den Subjektivismus und also die Freiheit unserer Weltanschauung mehr gefördert als der oberflächlich revolutionäre Sensualismus der Engländer (den ganz freien Hume ausgenommen) und der Franzosen. Freilich so unpsychologisch, wie Kant glaubte, war seine Lehre vom Apriori nicht. Und es ist schon vielfach darauf aufmerksam gemacht worden, daß Kants Apriori die angeborenen Ideen, gereinigt und verfeinert, wieder in die philosophische Psychologie zurückgeführt hat; Locke hätte keinen Grund gehabt, gegen das dem Menschenverstande angeborene Apriori Kants zu kämpfen; um so mehr Grund, Kants angeborene oder apriorische Moralideen bis in ihre letzten Schlupfwinkel zu verfolgen. Die bedeutenden Naturforscher unserer Zeit, Johannes Müller und Helmholz, haben denn auch, ohne metaphysische Neigungen, Kants psychologische Lehre in ihrer Neubegründung der Kenntnis von den Sinnesorganen übernommen. Die spezifischen Sinnesenergien sind, genau genommen, nur ein anderer Ausdruck für: apriorische Anschauungsformen. Und schon Schopenhauer hat die Geistestat Kants auf diesem Felde vorzüglich charakterisiert mit den Worten: Lockes Philosophie sei die Kritik der Sinnesfunktionen gewesen, Kant aber habe die Kritik der Gehirnfunktionen geliefert. (W. a. W. u. V. II. S. 13.) Nur mit einem flüchtigen Winke kann ich darauf hinweisen, daß für eine Vereinigung der scheinbar veralteten angeborenen Ideen und der apriorischen Anschauungsformen die Zeit gekommen sein mag, seitdem die neuerdings aufstrebende Völkerpsychologie und Soziologie, im Anschluß an die Entwicklungslehre, uns die Herkunft des Gemeinsamen begreifen gelehrt hat. Unabhängig von einander haben Spencer und Steinthal gelehrt, daß der Gegensatz von a priori und a posteriori ausgeglichen werden könne; jede Erkenntnis sei zugleich apriorisch und aposteriorisch, synthetisch und analytisch (Steinthal Einl. i. Psych. S. 10), die Erkenntnisformen seien apriorisch für das Individuum, aber aposteriorisch für die ganze Reihe von Individuen, in der jenes nur das letzte Glied bildet (Spencer, Psychol. II. §. 332). Man denke nur an die menschliche Sprache, ihre angeborene Anlage und ihren erworbenen Gebrauch, ihre aposteriorische Entstehung und ihren apriorischen Einfluß auf die Weltanschauung. Auf Steinthals Sprachphilosophie geht gewiß zurück, was ich von der Möglichkeit vorgetragen habe, das Begriffspaar a priori und a posteriori wieder ganz psychologisch zu fassen und in seiner Bedeutung, scheinbar wenigstens, umzukehren. In ganz andrem Sinne ist dieser Vorschlag schon einmal gemacht worden, von Gassendi in seinen Exercitationes paradoxicae adversus Aristoteleos, wo er (I. 1.), selbst mehr Philologe als Philosoph, schmerzlich ausruft: nostra quae erat philosophia facta philologia est. Gassendi wendet sich noch gegen den scholastischen Sprachgebrauch: Demonstrationem, quae est a priori, facere solent certiorem manifestatioremque demonstratione a posteriori; ... demonstratio a priori est ex causis et universalibus, demonstratio a posteriori ab effectis et minus universalibus; at nonne effectus sunt notiores causis ... Quocirca non immerito quispiam existimaverit, cum omnis notitia ... quae dicitur a priori pendeat ac petatur ab ea, quæ haberi dicitur a posteriori, necessarium esse hanc semper haberi et evidentiorem et certiorem illa. Ich habe nun die Bemerkung Steinthals, daß jeder Denkakt die Kombinierung eines apriorischen und eines aposteriorischen Momentes sei, daß das Subjekt jedes Urteils das aposteriorische, das Prädikat das apriorische Moment darstelle und daß darum unser Denken sich immer in der Form von Urteilen weiter bewege, – ich habe diese Bemerkung zu Ende zu denken gewagt, was man so zu Ende denken nennt. »Das Urteil ist die sprachliche Form des Denkens; das erklärende Urteil ist aber nichts als die Einreihung eines neuen Eindrucks in das Magazin des Gedächtnisses, es ist also nicht selbst eine Bereicherung des Denkens, sondern nur die Quittung über den Zuwachs, es ist also wertlos, wie das Denken selbst ... Unser Denken oder Sprechen ist nur die Oberrechnungskammer, die selbst keinen Pfennig besitzt.« (Kr. d. Spr. III. 341.) Die apriorischen oder erklärenden Urteile stehen an Wert noch unter den erzählenden, aposteriorischen Urteilen, die einfache Tautologien sind; nun ist aber fast jeder Begriff nur der Treffpunkt des apriorischen und des aposteriorischen Weges. Die Ellipse als Form der Planetenbahn mußte zugleich erfunden und entdeckt, Amerika mußte von Columbus zugleich entdeckt und erfunden werden. Ich habe ferner (an Wegener angelehnt) ausgeführt, wie das aposteriorische Subjekt eines Urteils die jedesmalige Exposition eines Gedankenganges, eines Gesprächs, einer Erzählung darstelle, wie jedes neue Moment das Prädikat, das apriorische, sei, wie in der Weiterführung des Gesprächs oder der Erzählung das eben erst Neue, das Prädikat, zum psychologischen Subjekte werde, das Apriori zum Aposteriori, wie sich die Technik des Romans und der Biographie auf diesen Wandel in der Seelensituation zurückführen lasse. Und wie im Romane oder in der Biographie, so findet im eigenen Erleben ein unaufhörlicher Wandel des psychologischen Prädikats ins psychologische Subjekt, des Apriori ins Aposteriori statt. Kurz: die Schule lehrt (heute wie vor tausend Jahren), das wahre Wissen sei apriorisch, die Erfahrung sei aposteriorisch; ich sage, daß (wenn man beide Worte nicht überhaupt beurlauben will) immer zunächst apriorisch sei, was wir erfahren, im Augenblicke des Erfahrens oder der Erfahrung, daß all unser Wissen, das was in unser Gedächtnis oder unsere Sprache eingegangen ist, immer aposteriorisch sei.