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An Ottilie.

Ich habe gelebt! ich habe geliebt!
Ich habe mich innig gefreut und betrübt,
Mir manchen Kranz keck auf die Stirne gedrückt
Und der Lebensblüthen gar viele gepflückt –
Und am Ende erwacht' ich – wie Alle erwachen!

Und es war Sturm, und es war Nacht!
Und die Jugend zu Ende, noch eh' ich's gedacht!
Mancher Rose Dorn war im Herzen geblieben
Von zu kühner Wagniß im Brechen getrieben –
Und ich mußte mich selber im Weinen belachen.

Und nun stand ich allein auf des Lebens Höh',
Überblickte des Lebens Gaben
Und betrachtete kalt das eigene Weh –
Wollte nichts hier mehr wünschen, noch haben.
– Da brach durch die Nebel ein Sonnenstrahl,
Und mein Blick traf auf Deine Gestalt!
Und Leben und Lieben war wieder mir Wahl,
Rasch vernichtet des Bösen Gewalt.

Ich habe geliebt! am meisten Dich!
Gelebt und gelitten – in Dir und für Dich!
Und in Dir umgiebt noch die Jugend mich,
Kühn gewonnen hab' ich des Lebens Spiel:
Du standest am Anfang, Dich find' ich am Ziel.

anno 1820.


An Ottilie

H 2, Seite 15 f. – H 1, Seite 22 f. Die Abschrift hat in Strophe 1, Zeile 2: »erfreut« statt: »gefreut«; in Strophe 2, Vers 3, stand zuerst: »geblieben«, aber Adele verbesserte eigenhändig: »mir blieben«; sie hat aber diese Variante in H 2 nicht bewahrt; auch eine in O. L. B. Wolffs Besitz befindliche Handschrift hatte, wie Sibylle am Rande bemerkt: »geblieben«. Strophe 2, Vers 5, hat die Abschrift: »selbst« statt: »selber«; Strophe 3, Vers 8: »zernichtet«, von Adele verbessert in: »vernichtet«; Strophe 4, Vers 3: »In Dir« statt: »Und in Dir«. – Signatur Sibyllens: 3.

Der Sehnsucht nach Ottilie gibt auch Adelens Tagebuch während ihres Aufenthaltes in Danzig mehrfach Ausdruck, so am 6. März 1820: »Ottilie, Ottilie, warum bist du nicht hier? Nur ein Herz habe ich erkannt auf dieser Erde, klar ist nur deines mir, wie sehr ich auch die anderen liebe«. In diesen Tagen mögen auch die Verse an Ottilie entstanden sein.


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