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Könnt' ich einmal, einmal nur
Deine klaren Augen sehen!
Still wollt' ich dann weiter gehen
Und das Leben wieder lieben,
Keine Wolke sollte trüben
Mir der hellen Sterne Spur.
Könnt' ich einmal, einmal nur,
Wie Du Dich mir hingegeben,
So Dein ganzes klares Leben
Einmal noch in's Auge fassen –
Still' wollt' ich Dich dann verlassen,
Nicht mehr folgen Deiner Spur!
Könnt' ich einmal, einmal nur
Dir mein ganzes Lieben sagen!
Niemals wollt' ich wieder klagen –
Und von all' dem heißen Sehnen
Sollten weder Wort' noch Thränen
Jemals zeigen eine Spur.
Könnt' ich einmal, einmal nur
H 1, Seite 57. – Signatur Sibyllens: 51.
Dieses und die beiden folgenden Gedichte beziehen sich auf Gottfried Osann. Er war ein Sohn des früh verstorbenen herzoglichen Regierungsrates Friedrich Heinrich O. und dessen Frau Amalie geb. Hufeland (einer Schwester des berühmten Arztes), in Weimar am 26. Oktober 1796 geboren, und einer der dortigen Jugendgespielen Adelens. Seine Mutter heiratete am 31. Oktober 1815 den verwitweten weimarischen Staatsminister Christian Gottlob von Voigt (1743-1819); dieser Freund und Amtsgenosse Goethes war also Gottfried Osanns Stiefvater. Adelens Tagebuch nennt unterm 28. Dezember 1816 den Namen Dr. Osann, doch kann hier nur der Bruder, der verdienstvolle Philologe und Archäologe Friedrich Gotthilf Osann (1794-1858), gemeint sein, der damals soeben promoviert hatte. Gottfried war zu dieser Zeit noch Student: Goethes naturwissenschaftliche Neigungen hatten ihn dem Studium der Physik und Chemie zugeführt; 1819 wurde er Privatdozent in Erlangen und lebte 1821-1823 in derselben Eigenschaft in Jena, war also häufig bei seiner Mutter in Weimar, in deren Hause Adele in den zwanziger Jahren viel verkehrte. Ihr erstes Urteil über ihn in ihrem Tagebuch vom 26. September 1821 lautet sehr kühl: »Ich kann eben nicht finden, was mir so besonders wohl gefällt an ihm, indessen liegt viel Schönes in der Gradheit, mit der er immer nach derselben Richtung fortstrebend, seit der Kindheit dieselben Neigungen, Ansichten und Triebfedern zum Handeln hatte«. Seit August 1822, mit dem ihr gedrucktes Tagebuch abschließt, bis zum 9. März 1823, wo ihr handschriftliches Tagebuch wieder beginnt, nahm jedoch das Verhältnis zu Osann eine Gestalt an, die Adele auf jenem Tagebuchblatt folgendermaßen charakterisiert: »Gottfried ist ein Mann geworden, und mein Freund, er hat uns auf lange, lange Zeit verlassen, um in Dorpat Professor zu werden, vielleicht seh' ich ihn nie wieder, vielleicht sind wir auf immer verbunden, eh' dies Buch gefüllt ist! Vielleicht liebt er mich und vielleicht versündige ich mich, daß ich nicht fortfliehe, um sein Jugendglück zu bewahren. Vielleicht irre ich und er liebt mich nicht – und ich habe die Pforten der Jugend auf ewig geschlossen hinter mir durch dies wunderbarste Verhältniß. Dennoch bin ich, obschon bewegt, ruhig, obschon trübe, glücklich und klar entschieden. Die Hauptsache ist Sein Glück – wahrlich ich habe weder meine Ansichten noch meine Grundsätze verändert und weiß, ich hätte bedachter, besonnener seyn können. Darum vergüte ich, er soll nie durch Adele leiden, das verspreche ich ihm und mir und Ferdinanden. Deshalb halte ich mich für halb gebunden, ihn für frei ... Was ich für ihn fühle? nicht jene tiefe leidenschaftliche Liebe, die mein Daseyn bildete, zerstörte und erhielt, aber eine treue, so innige Anhänglichkeit, ein Gefühl des Vertrauens, wie ich es nie hatte! Er kommt mir vor wie mein Doppelgänger, denn jeder Ton seines Wesens klingt wieder in meiner Seele, mir ist als hätte er ein angebornes Recht auf mein Leben, und ich kann den Gedanken, ihn darin zu missen, nur mit ungeheurem Schmerz fassen. Was ich will? wenig, aber das bestimmt, ich will ein Jahr warten auf ihn, beim Wiedersehen entscheidet sich mein Leben; aber ich vergebe ihm im Voraus, wenn es einsam geworden ist durch ihn. Er ist frei von Schuld – ich auch. Es ist sehr seltsam: niemand ahndet was wir uns sind, nicht einmal seine Mutter.«
Aus einem Jahr des Wartens wurden aber vier, und die vorstehenden Sätze sind der Anfang eines psychologischen Romans von eigentümlichem Reiz; sein ergreifendes Hin und Her von Hoffnungen und Enttäuschungen läßt sich auszugsweise nicht wiedergeben; den vollständigen Kommentar zu den an Gottfried gerichteten Gedichten Adelens von 1823-1826 kann nur das handschriftliche Tagebuch selbst geben, dessen Herausgabe sich den Gedichten und Scherenschnitten unmittelbar anschließen soll. Im Ganzen hat man den Eindruck, als ob Osann nicht im entferntesten ahnte, mit welchen Hoffnungen sich Adele trug, und ihre eigene Furcht, daß sie »veralten« werde, ehe der Freund in der Lage sei, sich einen eigenen Herd zu gründen, bewahrheitete sich nur zu sehr.