Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Achtes Kapitel

Gerhard leuchtete dem die Treppe Heraufpolternden entgegen, Unmut im Herzen und eine Strafpredigt auf den Lippen; aber der Unmut schwand, und er fand kein einziges scheltendes Wort, als er das liebe bekannte Gesicht nun vor sich sah, aus dem die gutmütigen Augen ihn so weinselig anlachten. War's doch sein ältester Freund, der Gefährte seiner Jugendspiele, der Genosse auf der Schulbank, der Mitschuldige bei der ersten Zigarre, der Vertraute bei der ersten Liebe, der Bewunderer seiner ersten Gedichte, der Sekundant bei seinem ersten Duell – und der mit ihm an seines Vaters Sterbebett gestanden, und den er seitdem nicht wiedergesehen,

»Vier Jahre sind's nun«, sagte Anton; – »er war auch mir ein Vater, weiß es Gott, Gerhard! und den ich mehr liebte, als ich den eigenen liebe; und wenn er nicht gestorben wäre – wozu mir nebenbei keine rechte Veranlassung vorzuliegen schien – so würde auch für mich alles anders gekommen sein, obgleich ich schließlich nicht eben unzufrieden bin, daß es so gekommen ist.«

»Es ist dir wenigstens nicht schlecht bekommen«, sagte Gerhard, den korpulenten Freund lachend betrachtend.

»Ja, spotte du nur!« rief dieser; – »einmal hatte ich stets das Talent zum Fettwerden, und seine Talente soll man ausrunden; und zweitens: wir wollen uns wieder sprechen, wenn du so lange hier sein wirst wie ich!«

»Das werde ich aber nie sein«, sagte Gerhard.

»Abwarten, lieber Junge, abwarten! ich habe es hier gelernt, das Abwarten, hier überstürzt sich keiner, kann ich dich versichern. Ich habe hier überhaupt ungeheuer viel gelernt – nur nicht plattdeutsch, das ist unmöglich, das geht gegen unsere thüringische Zunge. Und da wir eben von der Zunge sprechen, Gerhard: die meine klebt mir am Gaumen – und ich habe zufällig hier etwas in der Tasche, was mir Freund Hinrichs in Radebas vorhin heimlich hineingesteckt hat, damit ich unterwegs nicht verdurste – es ist ein prachtvoller Rotspon; Hinrichs schmuggelt ihn selber über die Mecklenburger Grenze – acht Silbergroschen die Flasche! Du erlaubst doch?«

Er hatte die Flasche bereits entkorkt und die Wassergläser auf dem Tische vollgeschenkt: »Die liebe alte Heimat, Gerhard!«

»Ich sollte es eigentlich nicht«, sagte Gerhard, ihm Bescheid tuend, »aber für einmal mag's sein; morgen –«

»Quid sit futurum eras, fuge quaerere! Was morgen sein wird – frage, oh, frage nicht! wie ich es in dem einzigen philologischen Seminar, dem ich zu assistieren das Pech hatte, ebenso treu wie elegant übersetzt habe – frage, oh, frage nicht!« wiederholte Anton mit würdevollem Kopfschütteln und abwehrender Handbewegung – »Carpe diem! carpe diem! freu dich des Lebens! – glaub mir, lieber Gerhard: das ist die Quintessenz der ganzen Weisheit, und wer's begriffen, der hat so ziemlich alles begriffen, was sich begreifen läßt.«

»Ich habe wahrhaftig nichts gegen die Freude am Leben«, sagte Gerhard, »du weißt es; und gar heute abend erscheint mir die Welt so schön und das Leben ein so köstliches Ding, aber –«

»Kein Aber!« rief Anton; »das ist es ja eben, was dir anklebt wie ein Nessuskleid, und was du durchaus ablegen mußt: dies ewige, leidige Aber! ein verruchtes Wort, ein wahrhaft gotteslästerliches Wort! denn Gott sah an, was er gemacht hatte, und siehe: es war sehr gut. Und nun kommt ihr hinterher und wollt mit eurem ›Aber‹ dem lieben Herrgott sein Machwerk korrigieren, als wär's eines meiner griechischen Exerzitien aus der Sekunda – die waren freilich sehr bunt!«

Er lachte in seiner drolligen Weise, indem er die verquollenen Augen beinahe schloß und in sich hineinkicherte, als sei die Scherzeslust ein Wein, den man mit Mühe und Not über die Zollgrenze gepascht und sehr bedächtig trinken müsse, und so, daß keiner der kostbaren Tropfen verloren gehe.

»Ich hoffe, daß die deines Zöglings dich etwas weniger rote Tinte kosten«, sagte Gerhard. – »Apropos: wo hat der junge Herr denn den ganzen Abend gesteckt, während sich der Mentor des Lebens freute? Ich dachte anfangs, er sei mit dir; dann merkte ich freilich, daß das nicht wohl möglich sei, und dann habe ich, offengestanden, nach ihm zu fragen vergessen; wußte ich doch wahrhaftig unter so viel neuen Gesichtern, in all dem Trubel und Wirrwarr manchmal kaum, wo mir der Kopf stand. Wie alt ist der Junge denn eigentlich?«

Von Antons dickem Gesicht war bei Gerhards ersten Worten das Lachen verschwunden. Er saß da mit einer Miene der Verwunderung und zugleich Verlegenheit, die Gerhard gewiß nicht entgangen wäre, hätte er nicht eben aus einem seiner Koffer ein Kistchen Zigarren hervorgelangt, das er nun öffnete und dem Freunde darbot. Anton nahm, entzündete die Zigarre an dem Lichte, tat ein paar bedächtige Züge und sagte:

»Er würde im nächsten Monat fünfzehn werden.«

«Würde – werden – was heißt das?« fragte Gerhard erstaunt.

»Das heißt, lieber Gerhard, daß der arme Junge – Hugo hieß er – sie nannten ihn aber mit ihrer gewöhnlichen Diminutivendung: Huging und lachten mich aus, weil ich anfangs stets Hucking sagte – mit einem harten K, weißt du – und das Diminutiv klang um so komischer, weil Huging so lang war wie Lewerenz' sein Kind; und das war sein Unglück, denn ich bin überzeugt, sonst wäre er nicht oben gegen die Tür gestoßen, als das Pferd, das mit ihm durchgegangen war, wieder in den Stall setzte; so aber kriegte er den ganzen Schlag vorn gegen die Stirn und lebte dann freilich noch sechs Wochen; aber es war schließlich ein Glück, als er starb – ein großes Glück.«

Anton seufzte und leerte das halbvolle Glas, indem er den Inhalt langsam, ohne abzusetzen, in die Kehle laufen ließ.

Gerhard traute seinen Ohren kaum. »Und das hast du deinem Vater, hast du mir nicht geschrieben?« rief er; »und läßt mich hierher kommen, so unvorbereitet, daß es der reinste Zufall ist, wenn ich mit meiner kläglichen Nichtkenntnis der Personenverhältnisse so durchgeschlüpft bin, ohne durch eine verfängliche Frage anderen Schmerz zu erregen oder selbst in die größte Verlegenheit zu geraten! Nein, Anton, das ist zu stark! das ist über den Spaß! Wie lange ist denn der Knabe tot?«

»Drei Jahre«, sagte Anton kleinlaut.

Gerhard war aufgestanden und schritt schweigend im Zimmer hin und her; Anton betrachtete aus seiner Sofaecke bald den erzürnten Freund und bald das leere Glas, das er sich nicht wieder vollzuschenken wagte, trotzdem ihm ein Labetrunk gerade jetzt besonders willkommen gewesen wäre. Da Gerhard gar nicht wieder sprechen zu wollen schien, mußte er's schon, und so sagte er denn in weinerlichem Ton:

»Siehst du, Gerhard, das wußte ich; und deshalb bin ich heute abend auch bei Hinrichs sitzengeblieben, trotzdem wir die Post kommen sahen, und Hinrichs selbst sagte: nun müßte ich wohl fort. Ich dachte, sein erstes Wort ist nach dem Jungen, und dann ist die Katze aus dem Sack. Aber Gerhard, das wirst du mir zugestehen: ich habe niemals positiv weder dir noch dem Alten gegenüber behauptet, daß der arme Junge, der übrigens ein richtiger Tunichtgut war, noch lebe; ich habe nur nicht gesagt, daß er tot sei.«

»Eine reizende Entschuldigung!« sagte Gerhard.

»Wenn man sich gern entschuldigen möchte und über keine besseren Gründe verfügen kann, hat der schlechteste noch einen gewissen Reiz«, erwiderte Anton; »und dann, Gerhard, ein gerechter Richter muß sich auch auf den Standpunkt des Angeklagten zu stellen, ja in seine Seele zu versetzen wissen –«

»Ich klage dich nicht an und bin dein Richter nicht«, sagte Gerhard.

»Mir bist du es«! rief Anton; »der einzige, den ich anerkenne, weil er mich nicht ungehört verdammen wird, wie es der Alte zweifellos täte. Und dann, wie solltest du nicht bis zu einem gewissen Punkte mit mir sympathisieren können, der du bis zu einem gewissen Punkte ganz dasselbe an dir erfahren? Du hast, deinem Vater zuliebe, Jura studieren müssen, wie ich auf Verlangen des meinigen Theologie; wir haben beide unser erstes Examen gemacht, du, weil du, gewissenhaft wie immer, auch gegen deine Neigung gearbeitet hattest, ich, trotzdem ich meiner Neigung, nicht zu arbeiten, durchaus gefolgt war: also gewissermaßen gegen meinen Willen und ganz gewiß ohne mein Zutun, und Gott mag's den Herren Examinatoren vergeben! Nun freilich trennen sich unsere Wege: dein guter Vater starb; der meine lebt; du warst in jeder Beziehung dein eigener Herr, ich war es in keiner. Du hattest von dem Gelde deines Vaters, sagen wir: deinem eigenen Gelde, studiert; ich hatte ebenfalls mit dem Gelde deines Vaters, sagen wir: anderer Leute Geld, gefaulenzt. Du hattest ein Recht zu sagen: jetzt will ich meinen Weg – einen neuen Weg – gehen; ich hatte das Recht nicht; ich hatte vorher gebummelt; was sollte ich tun, als weiter bummeln, da ich einen neuen Weg zu wählen und nun gar konsequent zu verfolgen nicht die Kraft besaß und auf dem alten zum Ziele zu gelangen nicht die mindeste Lust verspürte?«

Er hatte sich nun doch das Glas wieder vollgeschenkt, einen tiefen Zug getan, und fuhr in einem viel sichereren, fast lebhaften Tone fort:

»Ich will kein großes Gewicht darauf legen, daß ich niemals aus Überzeugung Pastor hätte werden können; ich habe wiederholt für unseren hier – ein drolliger alter Stöpsel – nicht wahr? – gepredigt und gefunden: es geht ganz gut auch ohne Überzeugung, ja, die Sache hat sogar ihr Amüsantes, das sich allerdings später wohl verlieren mag; aber da sind zwei andere Umstände, die für mich unüberwindlich waren. Sieh mal, Gerhard: du bist – ich erkenne es dankbar an – nie ein Spielverderber gewesen und nichts weniger als ein Pedant; aber – es geht eben, wenn man von dir spricht, ohne Aber nicht – du bist ein enthusiastisches, opferfreudiges Gemüt, dem es nur wohlig ist, wenn es, mit Hintenansetzung des eigenen Vorteils, für anderer Leute Vorteil schaffen und wirken kann. So warst du von jeher, so bist du ohne Zweifel noch heut. Das ist eine Anlage, wie andere auch, für die man dem Himmel dankbar sein mag, wenn man sie hat. Ich habe sie, sage was du willst, nicht, oder in verschwindend kleinem Maße: erstes Fakt. Zweites Fakt: du warst, als dein Vater vor vier Jahren starb, der Älteste, der Senior der Familie, trotz deiner damals einundzwanzig Jahre; deine liebe Mutter, deine drei Brüder – sie waren auf deine Einsicht, deine Energie, schließlich auch auf dein kleines Privatvermögen angewiesen. Für eine liebe Mutter tut man alles, und mit Brüdern, wenn sie noch so unbändig sind und uns noch so unbändig viel Geld kosten – entweder werden sie mit einem, oder man wird mit ihnen fertig, auf alle Fälle kommt die Geschichte zu Ende, und die liebe Seele hat Ruhe. Zugestanden? Schön! Nun aber ich? Meine arme Mutter war in ihrem elften Wochenbett gestorben, bei der Geburt ihrer zehnten Tochter. Mein Vater – Gott erhalte ihm sein Gottvertrauen und seine Zähigkeit! erhalte sie ihm für seine zehn Töchter und gebe, daß ich, sein einziger Sohn, nie an seine Stelle zu treten brauche, so lieb mir auch die Erinnerung an die alte, efeuumrankte Kirche in unserem lieben alten Heimatdorfe da oben in den lieben alten Heimatbergen ist! Ja, ich gehe noch einen Schritt weiter: Gott verhüte, daß ich überhaupt jemals in eine Stelle komme! denn was würde die Folge sein? Der Alte würde mir sofort fünf schicken als Abschlagszahlung und den Rest im Sterbefalle; und ich säße auf einer Pfarre, die vielleicht nicht einmal für eine einzige Quarre eingerichtet ist, mit zehn Schwestern, von denen bis zum jüngsten Tage von der ältesten bis zur jüngsten mir kein Christenmensch eine abnimmt. Die armen, häßlichen Kirchenmäuse! – Das war das zweite Faktum, über das ich nicht wegkonnte, Gerhard! und nun sei wieder gut! oder ich tue mir ein Leides an und gehe in das zweite Examen, was für mich, ich schwöre es dir, gleichbedeutend mit Selbstmord wäre!«

»Du bist und bleibst –«

»Ein Faulpelz, ein Bärenhäuter, ein Tunichtgut, ein Taugenichts – nenne mich, schilt mich, wie du willst! ich habe alles verdient; ich verdiene auch nicht, daß ich dein Freund heiße; aber ich kann ohne deine Freundschaft nicht leben.«

»Und mit meiner Freundschaft auch nicht, wenigstens nicht hier!« rief Gerhard.

Anton setzte das volle Glas, das er bereits den Lippen genähert, zögernd wieder auf den Tisch und sagte kleinlaut:

»Nun gar! Du meinst doch nicht –«

»Beantworte mir nur die eine Frage!« unterbrach ihn Gerhard; »in welcher Eigenschaft hast du, nachdem du kaum ein halbes Jahr hindurch – ich will annehmen, deine Schuldigkeit getan – diese letzten drei Jahre hier gelebt?«

Anton kraute sich in dem starren, sehr kurz um den runden Kopf geschorenen Haar:

»Höre«, sagte er, »das ist eine verzweifelte Frage, wenn du sie wörtlich nimmst. In welcher Eigenschaft? Höre, Gerhard: es ist doch etwas Furchtbares um die positiven Geister, denen es nicht, wie Nathan dem Weisen, genügt, ein Mensch zu sein. In welcher Eigenschaft? ich kann dir entweder keine, oder ich muß dir ein halbes Dutzend nennen: als Gesellschafter Herrn Zempins, der doch, als Witwer, positiv einen Gesellschafter brauchte; als sein Vertrauter und postillon d'amour, während er vor zwei Jahren um seine jetzige Frau warb, die doch wirklich entzückend ist mit ihren weißen Zähnen und Schultern – die erste habe ich nicht mehr gekannt – sie soll ebenfalls sehr schön gewesen sein –; weiter: als sein Sekretär und Buchhalter vorher und nachher, obgleich allerdings mein Amt in letzterer Beziehung so ziemlich eine Sinekure ist; als sein Vorleser an langen Winterabenden, wenn er auch meistens über der Lektüre einschläft; als Frau Zempins rechte Hand bei allen gesellschaftlichen Arrangements, wenn ich dieses Ressort auch provisorisch an den kleinen Spatzing abgetreten habe – als ihr Chapeau auf den Bällen im zehnmeiligen Umkreis, wohin sie Herr Zempin entweder nicht begleitet, oder wo er sich jedenfalls nicht um sie bekümmert; als –«

»Hans Dampf in allen Gassen«, unterbrach den Redseligen Gerhard ärgerlich, »als fünftes Rad am Wagen, als Lückenbüßer im besten Fall! Und in dieser ehrenhaften Qualität soll ich dich hier als meinen Jugendfreund anerkennen? Muß ich dir auseinandersetzen, wie peinlich, ja wie demütigend das für mich ist? um so mehr, als ich selbst mich hier in keiner festumschriebenen Stellung bewege und alle Klugheit und allen Takt nötig haben werde, mir nach keiner Seite hin weder etwas zu vergeben noch Ansprüche zu machen, zu denen ich nicht berechtigt bin?«

»Nun gar!« erwiderte Anton gedehnt; »das heißt, du hast ja recht, vollkommen recht, von deinem – will sagen, von unserem thüringischen Standpunkt; aber eines, weißt du, schickt sich nicht für alle, und was für unsere Verhältnisse sehr unschicklich oder völlig unmöglich wäre, ist für die Verhältnisse hier durchaus in der Ordnung, ja eine Notwendigkeit. Du wirst mir das einräumen, sobald du mit Land und Leuten nur einigermaßen bekannt bist. Fünftes Rad, sagst du? aber sie spannen hier vier mächtige Gäule vor, wo wir mit einer alten mageren Kuh fertig werden, weshalb sollen sie hier nicht fünf Räder am Wagen haben? eine mechanische Unmöglichkeit liegt nicht vor, wenn sich das fünfte nur mit den übrigen vieren bewegt und dreht.«

Antons rundes Gesicht glänzte vor Wonne über die gelungene Beweisführung, für die er sich mit einem übervollen Glase belohnte, um dann im zuversichtlichsten, behaglich-dozierenden Tone fortzufahren:

»Es geht hier eben alles ins Große und Breite, und warum auch nicht? sie haben es ja dazu. Sie brauchen sich hier nicht vor Überschwemmungen in den Niederungen zu fürchten und vor Dürre in den Bergen – sie brauchen nur zu säen und sind sicher, daß sie ernten; sie haben kein hungriges Proletariat, das ihnen das bißchen Wohlstand aufzehren hilft oder verleidet; der ärmste Katemann und Tagelöhner hierzulande ist besser daran, als mancher Bauer und Schulze bei uns; sie haben vor allem, in diesem stillen Winkel wenigstens, den Jammer des Dreißigjährigen Krieges, das Elend des Siebenjährigen, die Not der Freiheitskriege gar nicht oder kaum gespürt, und nicht nötig, ihre beste Kraft daran zu setzen, um Wunden zu heilen, die ihren Großvätern und Urgroßvätern geschlagen wurden. Das wissen sie, das fühlen sie, danach leben sie, und danach beurteilen sie die menschlichen Dinge. Du machst dir zum Beispiel ganz unnötige Sorgen über deine Stellung hier im Hause und in der Familie. Du bist, weil du wünschtest, die hiesigen ländlichen Verhältnisse kennenzulernen, durch meine Vermittlung als Volontär hierher gekommen; aber in den Augen Herrn Zempins – du magst nun anstellen, was du willst – wirst du nie etwas anderes sein als ein lieber, hochwillkommener, hochgeehrter Gast, um den Tränen fließen werden, wenn er wieder geht, und der, wenn er den Mut hat, von Kostgeld sprechen mag. Ich habe den Mut nicht gehabt, das Thema auch nur zu berühren – Gott soll mich bewahren! – ich glaube, er schlüge mir ein paar Knochen im Leibe entzwei! Du weißt nicht, was pommersche Gastfreundschaft ist! ich sage dir, der reine Homer in Stulpenstiefeln! Wie viele seid ihr heute abend bei Tisch gewesen? ich kalkuliere, einige dreißig. Es war Sonntag, meinst du, und Gesellschaft? ich sage dir, so kann es jeden beliebigen Alltag sein, ohne daß ein Mensch geladen ist. Du bist gekommen, du bist willkommen – und damit ist für deine Wirte die Sache positiv erledigt; das andere hast du selber mit dir abzumachen. Willst du acht Tage bleiben – gut; aber auch, wenn du acht Jahre bleibst, man wird kein Wort darüber verlieren, höchstens darüber wegsterben, und dann übernimmt dich der Sohn oder beliebige Rechtsnachfolger. Du lachst? ich sage dir, das ist nicht bloß alles hier schon dagewesen – das kommt alle Tage vor. Da ist Salchen – sie kam vor acht Jahren, als Zempins erste Frau, deren Cousine oder dergleichen sie war, gestorben, auf eine Woche, um ein bißchen nach dem Rechten zu sehen – du weißt nicht, wer Salchen ist? Aber du mußt sie doch bemerkt haben, wenn nicht vor Tisch oder nach Tisch, so doch bei Tisch beim letzten Gang, und wo der Plätze letzte sind? Das derbe Mädchen mit den kohlschwarzen Locken und den weißen Zähnen und dem stereotypen Lächeln auf dem Gesicht, das stets vom Widerschein des Küchenfeuers glänzt! Nein? freilich, dergleichen Blümchen Wunderhold sind nicht für euch vornehme Herren; die findet nur, wer im Walde so vor sich hin geht, um nichts zu suchen – du meinst, ich habe sie gefunden? gestehe, was dein frivoles Lachen bereits verraten hat! du glaubst nicht an die Uneigennützigkeit der Freundschaft zwischen einem Jüngling von fünfundzwanzig und einer Jungfrau von fünfunddreißig, auch nicht, wenn der Jüngling gern gut ißt und trinkt und die Jungfrau in dem Departement von Küche, Keller und Speisekammer unumschränkt regiert! Aber kann ich dafür, wenn sie – in jener seltsamen Verblendung, welche liebende Gemüter nur zu oft verdunkelt – an meine feierliche und loyale Erklärung, daß ich niemals mein zweites Examen machen werde, nicht glaubt? oder wenn sie – mit der Findigkeit eines suchenden Herzens – neuerdings entdeckt hat, daß die Theologie vielleicht nicht einmal mein eigentlicher Beruf sei, ich vielmehr das ausgesprochenste Talent zu einem Landwirt habe?

Ich habe ihr lachend erwidert, daß ich diese Supposition notwendig übelnehmen müsse, sintemalen hierzulande jeder den entschiedenen Beruf zum Landmann hat, der für jede andere ehrliche Hantierung entschieden zu dumm ist; aber Salchen hat den Humor meiner Replik nicht gefaßt; sie hat überhaupt keinen Humor; wenige Menschen haben Humor – hierzulande kein einziger – Spatzing nicht ausgenommen; alle sind sie nur komisch – ein Objekt für den, der den Humor hat. Jean Paul hat diese äußerst feine Distinktion mit dem Tiefblick des wahren Genies gemacht – überhaupt Jean Paul, höre! du! phänomenal, wenn auch ein bißchen konfus und überspannt – Schuld der miserabeln Verhältnisse – hätte hier in Pommern leben müssen, wo nichts kuhschnappelmäßig verhungert oder wolkenkuckuckshaft verhimmelt und verblasen – im Gegenteil, alles plastisch, konkret, zum Greifen reell ist. Guter Gott! wenn ich denke, was der Mann aus dem komischen Stoff, der hier brach liegt, gemacht haben würde! was noch jeden Tag ein wahrhaft großer humoristischer Dichter, wenn er käme, aus diesem Stoff machen würde! er braucht ja nur zuzugreifen! Höre! ich habe manchmal gedacht, ich wäre der glückliche Mann; ich bin plastisch, konkret, reell, materiell, wenn du willst, und Humor – höre, Humor –«

Die schwere Zunge versagte plötzlich ihren Dienst, die kleinen Augen schlossen sich vollends, der große, runde Kopf sank seitwärts auf die Sofalehne; nur mit Mühe konnte Gerhard den Trunkenen aufrütteln, der lallend versicherte, es sei nicht der Wein, sondern die Freude des Wiedersehens, oder die Hitze des Tages, oder der Gedanke an Salchen, bei dem er erfahrungsmäßig jedesmal einschlafe. Auf alle Fälle könne er allein zu Bett gehen, denn hinsichtlich des Bettes halte er es mit Montaigne, der es hart liebte und für sich allein, in welchem Punkte der Franzose von Horaz abweiche, den er übrigens auch verehre als einen kleinen, dicken, behaglichen Kerl, obgleich man freilich bei ihm, wie bei allen klassischen Gliederpuppen, vergeblich nach Humor suche. »Denn Humor, Gerhard, siehst du, Humor –«

Das momentane Versiegen schien die Fülle des Redestroms nur vermehrt zu haben. Gerhard mußte seine ganze Autorität aufbieten, um den Taumelnden zu vermögen, sich in sein Zimmer zu begeben, das glücklicherweise, nur wenige Türen entfernt, ebenfalls an dem Hauptflur des oberen Stockes nach dem Hofe zu lag und denselben Eindruck von Unbehaglichkeit und Unbewohntsein machte, der Gerhard noch von des Freundes Studentenzimmern her in peinlicher Erinnerung war.

Er soll von hier fort; er geht hier unter, sprach Gerhard bei sich, als er nun wieder sein eigenes Zimmer aufsuchte; solche Verhältnisse mußten einem Geiste, wie dem seinigen, verderblich werden. Man ißt nicht ungestraft Lotos mit den Lotophagen! Der gute, leichtlebige Mensch! Mein Gott! ich hab's ja an mir selbst erlebt – heute – welch wunderbare, selige Lotosstunden – oder waren's Tage, waren's Wochen?

Gerhard stand an dem offenen Fenster, abwartend, daß der Tabaksrauch sich verzogen hätte, nur mit Mühe die Müdigkeit bekämpfend, die nach den Anstrengungen und Aufregungen des Tages sich bleiern auf sein Hirn legte. Er war kaum noch imstande, die einzelnen Szenen und Momente voneinander zu sondern. Der abendliche Garten, der mondbeschienene Hof, der helle Gesellschaftssaal – das webte und floß ineinander wie die Bilder einer Laterna magica; und so wandelten sich die Personen eine in die andere; nur formte sich aus dem Chaos immer wieder das Bild des holden Mädchens, das ihm die Rose geschenkt, die er wieder hatte herausgeben müssen. War's ein Symbol gewesen ihrer schwankenden Gunst? war's eine Probe, zu sehen, wie hartnäckig er verteidigen würde das ihm aus Götterschoß und goldenen Wolken zugefallene Glück? Hatte er die Probe schlecht bestanden? Man pflegt nicht so glücklich zu sein nach einer verlorenen Schlacht! nein! die Schlacht war nicht verloren! und muß man in solchem Kampfe nicht zuvor besiegt sein, um siegen zu können? ja, nur siegen zu wollen? und sagte ihr letzter Blick nicht: morgen sehen wir uns wieder, da wird es sich entscheiden! Oh, daß es schon morgen wäre!

Der Nachtwind, der lauter in den Blättern vor dem Fenster raschelte, weckte den Träumer. Der Anblick des Himmels hatte sich verändert: den Mond, der bereits über den Wipfeln der Bäume hing, verschleierten graue Wolken, durch die ein fahles Licht nur noch spärlich drang. Unter den hohen Bäumen, zwischen den dichten Bosketts des Parkes lag die Nacht schwarz und undurchdringlich; über dem weiten Rasenplatze dämmerte ein unsicheres Grau, so daß Gerhard die Gestalt, die vom Hause herkommend sich nach der Tiefe des Parkes zu bewegte, erst gewahr wurde, als sie die Mitte des Platzes erreicht hatte, wo der Lichtschein aus dem Fenster eine scharfe Helligkeit hervorbrachte. Die Gestalt blieb plötzlich stehen und wandte sich nach dem Fenster. Vielleicht hatte der nächtliche Wanderer die helle Stelle vorher nicht bemerkt oder für Mondschein gehalten, oder doch angenommen, daß der Schein aus einem verschlossenen Fenster falle, und hemmte nun den Schritt, ängstlich, zu wissen, ob das Licht in dem Zimmer des Fremden vielleicht nur aus Unachtsamkeit brennen geblieben war.

Gerhard hatte mittlerweile die breiten Schultern und den langen Rock von Vadder Deep erkannt. Er wollte dem alten getreuen Eckehart kein Ärgernis geben; er schloß das Fenster und löschte das Licht, um ihn glauben zu machen, daß er zu Bett gegangen sei.

Aber als er nun, bereits halb entkleidet, wieder an das Fenster trat, stand die Gestalt in derselben Haltung auf demselben Platze.

Einem Käfer gleich, dachte Gerhard, den etwas in seinem Laufe erschreckt hat, und den der Schrecken festhält, lange, nachdem die Gefahr vorüber ist.

Gerhard mußte lachen; aber das Lachen schwand und machte einer sonderbaren Empfindung von Mißbehagen und Ärger Platz, als die Gestalt, trotzdem wiederum mehrere Minuten vergangen waren, sich noch immer nicht bewegte.

Ich könnte wahrhaftig nicht einschlafen, wenn ich denken müßte, daß der alte Narr da wer weiß wie lange noch hier nach dem Fenster mit seinen verschwommenen Augen blinzelt; dachte Gerhard, und hatte in demselben Moment das Fenster geöffnet.

»Wer da?«

Ein Windstoß schlug das Fenster klirrend wieder zu. Hatte das Geräusch den Alten verscheucht? war er des Wartens überdrüssig geworden? jedenfalls hatte Gerhard die Beruhigung, daß der Platz frei war, als jetzt die Wolke sich verzog und der Mond sein geisterhaftes Licht über den Park streute.

Aber auch die traumselige Stimmung war verschwunden. Dafür bemächtigte sich seiner, wie er nun so nach dem Feuerzeug tastete, eine seltsame Beklommenheit, ein ihm sonst ganz fremdes, unbestimmtes Grauen vor einem namenlosen Unheil, das aus dem Dunkel an ihn heranschleiche.

War's einfach Überreizung seiner Nerven, welche die Überfülle der Ereignisse und Eindrücke des Tages leicht erklärte? war die schwarze Gestalt draußen ebenfalls ein Symbol gewesen und eine Mahnung? ein Symbol des Schattens, der gerade da am schwärzesten ist, wo die Sonne am goldigsten scheint – eine Mahnung des leidigen Dämon »Aber«, dessen Einfluß nach des Freundes Aussage übermäßig bei ihm sein sollte?

Er war an dem Tische, wo das Licht wieder brannte, stehengeblieben, hatte die Mappe aufgeschlagen und durchflog noch einmal die Briefe der Brüder.

Max' Brief war die Antwort auf die erste Ankündigung seines Entschlusses, bis zum Spätherbst auf ein pommersches Gut als Volontär zu gehen; mit Fritz hatte er seitdem bereits mehrfach korrespondiert. Aus beider Brüder Briefen sprach, ihrem verschiedenartigen Charakter gemäß, aber in gleich rührender Weise, die Liebe zu ihm, die Sorge, daß er sich um ihret- – der Brüder – willen unerträgliche Lasten aufbürde.

Max schrieb:

»Im Begriff, mit einem halben Dutzend Kameraden zu unserer Stammkneipe am Monte Testaccio auszuziehen, erhalte ich Deinen Brief, und sitze nun hier, nachdem ich die Bande weggeschickt, in meinem einsamen Atelier mit einem Katzenjammer, als hätte ich all den Orvieto im Leibe, den die anderen zusammen heute noch trinken werden. Beim heiligen Raphael, welche Nachricht! Während ich hier, unter dem Vorwand zu studieren, in der heiligen Roma seligste Tage und entzückendste Nächte verschlendre und verdehne, willst Du es Dir – wie der Kaiser in der Ballade – sauer werden lassen in Hitze und Kälte, denn ich bin überzeugt, daß es auch während der Erntezeit gelegentlich friert in dem vermaledeiten Lande, das ja wohl gen Norden an die Eskimos grenzt! willst unter plattköpfigen, plattredenden, plattmäuligen Menschen, die Fischblut in den Adern haben und nach Robbentran duften, Monate deines kostbaren Lebens vertrauern als – Volontär! das heißt als ein Mensch, der keinen Willen hat, haben darf, als den seines plattköpfigen usw. (siehe oben!) seines Prinzipals, Du: der Chef unserer Familie, der Burgherr von Vacha! – Gerhard, Du weißt, es war mein liebster Gedanke von jeher, unseren halb verfallenen Ahnensaal auf Vacha wiederherzustellen in seinem alten, romanischen Glanz und die übertünchten, verräucherten Wände mit prachtvollen Fresken zu erleuchten. Aber wenn ich denke, welcher Mühen, Entbehrungen – Demütigungen Du Dich unterziehen mußt, um die wackligen Fundamente erst einmal wieder mit soliden Futtersteinen zu untermauern, dann, Gerhard, ja dann möchte ich Zirkel und Winkelmaß und Pinsel und Palette in den Tiber werfen, wo er am tiefsten ist, und mein Leben als Rinderhirt in der Campagna beschließen. Nein, nein! ich fühl's: ich habe genug gebummelt! ich muß zurück; ich muß in München sehen, was die Berge von Skizzen gebären, die ich hier zusammengeschmiert; ich weiß, dies ist mein letzter Brief aus Rom –«

»Und ich«, murmelte Gerhard lächelnd, »weiß, daß er sich's überlegen wird; ja mehr: daß er noch an demselben Abend sein Teil Orvieto in derselben Osterie am Monte Testaccio mit denselben Kameraden getrunken hat.«

Er nahm den Brief des Bonner Studenten, dessen kleine, gleichmäßig zierliche Schrift mit den kühnen, hastig-unregelmäßigen Zügen der Hand des Künstlers wunderlich kontrastierte:

»Lieber Gerhard! Ich würde Dich schon wieder um Geld bitten müssen, wäre ich nicht überzeugt, daß es bereits unterwegs ist. Bin ich doch von jeher gewohnt, meine Wünsche von Dir erfüllt zu sehen, bevor ich sie ausgesprochen. Die Dissertation ist fertig und geht morgen in die Druckerei. Tu l'as voulu! Ich könnte doch möglicherweise Lust bekommen, die Dozentenkarriere einzuschlagen, sagtest Du; und da sollten denn alle Vorbereitungen getroffen sein. Und so zwingst Du mich, Dir Kosten zu machen, die vielleicht, die wohl gewiß unnötig sind, denn, wie ich jetzt denke, ist all mein Sinnen und Trachten auf das handelnde Leben gerichtet. Ich brenne darauf, vor eine große, komplizierte Aufgabe gestellt zu werden, wie sie der Vachasche Rechtshandel war. Es klingt ja sehr anmaßend, Gerhard, aber – die Professoren haben mir mit ihren Komplimenten den Kopf verdreht – ich bin überzeugt, wäre ich unseres Vaters Anwalt gewesen: wir hätten den Prozeß nicht verloren; wir hießen nicht bloß, wir wären Barone von Vacha, und unser Ältester brauchte nicht, um das zerbröckelnde Gebäude unseres Glücks vor dem Einsturz zu bewahren, sich durch das Leben zu arbeiten und zu plagen wie ein Pächterssohn –«

Gerhard ließ den Brief aus der Hand gleiten.

Die lieben Jungen! als ob ich Gott Apollo selber wäre, der vom Olymp herabgestiegen, um die Herden des Admet zu weiden! Mich bedauern, mich! Du, mein pochend Herz, du weißt es besser! Und doch hat der Anton recht: ich kann mein Ohr gegen die Stimme der Pflicht nicht verschließen; ich habe es nie gekonnt. Und keine holden Mädchenaugen und kein silbernes Mädchenlachen sollen mich je vergessen machen, was da geschrieben steht überall zwischen den Zeilen, daß ich für euch denken und handeln und voll Rat und Mäßigung und Weisheit und Geduld sein muß weit über meine fünfundzwanzig Jahre.

Das kleine Sofa war nicht bequemer geworden, und der wacklige Tisch knarrte wie vorher; aber – er hatte sich erkundigt – die Post nach Grünwald kam nur einmal, des Morgens früh, durch Kantzow; so hätten die Briefe erst übermorgen abgehen können. Das durfte nicht sein, Bruder Max in Rom mochte sich immerhin noch ein wenig gedulden, die beiden anderen sollten nicht vergebens auf ihren Ältesten hoffen.

Wohl noch eine Stunde lang schimmerte das Licht aus dem weinrebenumrankten Fenster in den nun völlig dunkeln Park.

Und Gerhards Augen, auch wenn sie weniger heiß und von dem langen Starren auf das Papier geblendet gewesen wären, hätten, als er dann noch einmal an das Fenster trat, die schwarze Gestalt nicht aus dem schwarzen Schatten der Bosketts lösen können, in dem sie noch immer stand und nach dem erhellten Fenster blinzelte; und jetzt, als das Licht zum zweiten – wohl für heute nacht zum letzten Male erlosch, die geballte Faust schüttelte, und dann mit langen raschen Schritten durch die Gänge dahineilte, während der Nachtwind in den Büschen zu beiden Seiten raschelte und aus den riesenhohen Pappeln in der Tiefe des Parkes die Eule schrie.


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